BERICHT über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Czesław Adam Siekierski

13.1.2016 - (2015/2241(IMM))

Rechtsausschuss
Berichterstatterin: Heidi Hautala

Verfahren : 2015/2241(IMM)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A8-0004/2016
Eingereichte Texte :
A8-0004/2016
Aussprachen :
Angenommene Texte :

VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Czesław Adam Siekierski (2015/2241(IMM))

Das Europäische Parlament,

–  befasst mit einem vom Generalstaatsanwalt der Republik Polen am 13. August 2015 übermittelten und am 9. September 2015 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Czesław Adam Siekierski, der mit dem durch das polnische Hauptinspektorat für den Straßenverkehr eingeleiteten Verfahren (Aktenzeichen CAN-PST-SCW.7421.35493.2015.5.A.0475) in Verbindung steht,

–  nachdem Czesław Adam Siekierski auf sein Recht auf Anhörung gemäß Artikel 9 Absatz 5 der Geschäftsordnung verzichtet hat,

–  gestützt auf Artikel 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,

–  unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und 17. Januar 2013[1],

–  unter Hinweis auf Artikel 105 Absatz 2 und 108 der Verfassung der Republik Polen und Artikel 7b Absatz 1 und 7c Absatz 1 des polnischen Gesetzes vom 9. Mai 1996 über die Ausübung des Mandats der Abgeordneten und Senatoren,

–  gestützt auf Artikel 5 Absatz 2, Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 9 seiner Geschäftsordnung,

–  unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0004/2016),

A.  in der Erwägung, dass der Generalstaatsanwalt der Republik Polen einen Antrag des polnischen Hauptinspektorats für den Straßenverkehr auf Aufhebung der Immunität eines für Polen gewählten Mitglieds des Europäischen Parlaments, Czesław Adam Siekierski, wegen eines Verstoßes gegen Artikel 92a des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten vom 20. Mai 1971 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung vom 20. Juni 1997 übermittelt hat; insbesondere in der Erwägung, dass die behauptete Ordnungswidrigkeit die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften betrifft;

B.  in der Erwägung, dass gemäß Artikel 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union Mitgliedern des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht;

C.  in der Erwägung, dass gemäß Artikel 105 Absatz 2 und 108 der Verfassung der Republik Polen Abgeordnete oder Senatoren ohne Zustimmung des Sejm bzw. des Senats nicht strafrechtlich belangt werden dürfen;

D.  in der Erwägung, dass ausschließlich das Europäische Parlament darüber entscheidet, ob die Immunität von Czesław Adam Siekierski aufzuheben ist oder nicht;

E.  in der Erwägung, dass die mutmaßliche Ordnungswidrigkeit keinen unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit der Ausübung des Amtes von Czesław Adam Siekierski als Mitglied des Europäischen Parlaments hat;

F.  in der Erwägung, dass in dem vorliegenden Fall das Parlament keine Anzeichen von fumus persecutionis gefunden hat, d. h. einen hinreichend ernsten und genauen Verdacht, dass dem Antrag die Absicht zugrunde liegt, der politischen Tätigkeit des Mitglieds zu schaden,

1.  beschließt, die Immunität von Czesław Adam Siekierski aufzuheben;

2.  beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich der zuständigen Behörde der Republik Polen und Czesław Adam Siekierski zu übermitteln.

BEGRÜNDUNG

1. Hintergrund

Am 13. August 2015 übermittelte der Generalstaatsanwalt der Republik Polen dem Präsidenten des Parlaments den Antrag des polnischen Hauptinspektorats für den Straßenverkehr auf Genehmigung der Einleitung eines Verfahrens gegen ein Mitglied des Europäischen Parlaments, Czesław Adam Siekierski, im Zusammenhang mit einer Ordnungswidrigkeit der Geschwindigkeitsübertretung.

Das polnische Hauptinspektorat für den Straßenverkehr trägt vor, dass am 10. Januar 2015 um 8.22 Uhr Czesław Adam Siekierski während des Führens eines Fahrzeugs die Geschwindigkeitsbegrenzung innerhalb geschlossener Ortschaften missachtet habe, als er an einer Stelle, wo die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h beträgt, mit einer Geschwindigkeit von 77 km/h fuhr. Das Hauptinspektorat trägt weiter vor, dass in einer Antwort auf eine an Czesław Adam Siekierski am 19. Januar 2015 übermittelte Aufforderung dieser dem Hauptinspektorat Fotokopien seines Abgeordnetenausweises und einer Bescheinigung seiner Wahl zum Mitglied des Europäischen Parlaments sowie eine Erklärung übermittelte, in der er einräumt, dass er zu dem genannten Zeitpunkt das Fahrzeug steuerte. Die Czesław Adam Siekierski vorgeworfene Tat stellt eine Ordnungswidrigkeit im Sinne des Artikels 92a des polnischen Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 der polnischen Straßenverkehrsordnung vom 20. Juni 1997 dar.

In der Plenarsitzung vom 9. September 2015 gab der Präsident des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 9 Absatz 1 der Geschäftsordnung bekannt, dass er einen Antrag des Generalstaatsanwalts der Republik Polen auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Czesław Adam Siekierski erhalten habe.

Gemäß Artikel 9 Absatz 1 der Geschäftsordnung hat der Präsident diesen Antrag am 6. Oktober 2015 an den Rechtsausschuss überwiesen. Am 26. November 2015 verzichtete Czesław Adam Siekierski auf sein Recht auf Anhörung gemäß Artikel 9 Absatz 5 der Geschäftsordnung.

2. Rechts- und Verfahrensvorschriften zur Immunität von Mitgliedern des Europäischen Parlaments

Artikel 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union lautet:

Artikel 9

Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a. steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b. können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.

Da die Aufhebung der Immunität für Polen beantragt wurde, findet gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a das polnische Recht über die parlamentarische Immunität Anwendung. Artikel 105 Absatz 2 und 108 der Verfassung der Republik Polen sehen vor, dass Abgeordnete oder Senatoren ohne Zustimmung des Sejm bzw. des Senats nicht strafrechtlich belangt werden dürfen. Gemäß Artikel 7b Absatz 1 des polnischen Gesetzes vom 9. Mai 1996 über die Ausübung des Mandats der Abgeordneten und Senatoren wird der Antrag auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Abgeordneten oder Senator im Falle einer Straftat, die im Wege der öffentlichen Anklage verfolgt wird, über das Justizministerium durch die Generalstaatsanwaltschaft gestellt. Gemäß Artikel 7c Absatz 1 dieses Gesetzes wird der Antrag auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Abgeordneten oder Senator beim Präsidenten des Sejms oder des Senats eingereicht, der diesen Antrag an das gemäß der Geschäftsordnung des Sejms oder des Senats für die Prüfung des Antrags zuständige Gremium weiterleitet und gleichzeitig den Abgeordneten oder Senator, der von dem Antrag betroffen ist, über den Inhalt dieses Antrags in Kenntnis setzt.

In Artikel 6 Absatz 1 und 9 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments heißt es:

Artikel 6

Aufhebung der Immunität

1. Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten handelt das Parlament so, dass es seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung bewahrt und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherstellt. Jeder Antrag auf Aufhebung der Immunität wird gemäß den Artikeln 7, 8 und 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und nach den Grundsätzen dieses Artikels geprüft.

(...)

Artikel 9

Immunitätsverfahren

1. Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates, die Immunität eines Mitglieds aufzuheben, oder eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds, Vorrechte und Immunität zu schützen, wird dem Parlament mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

Das Mitglied oder ehemalige Mitglied kann durch ein anderes Mitglied vertreten werden. Der Antrag kann von einem anderen Mitglied nur mit Zustimmung des betroffenen Mitglieds gestellt werden.

2. Der Ausschuss prüft die Anträge auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Vorrechte und der Immunität unverzüglich, aber unter Berücksichtigung ihrer relativen Komplexität.

3. Der Ausschuss unterbreitet einen Vorschlag für einen mit Gründen versehenen Beschluss, in dem die Annahme oder Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Vorrechte und der Immunität empfohlen wird.

4. Der Ausschuss kann die betreffende Behörde um jede Information oder Auskunft ersuchen, die er für erforderlich hält, um sich eine Meinung darüber bilden zu können, ob die Immunität aufzuheben oder zu schützen ist.

5. Das betreffende Mitglied erhält die Möglichkeit, gehört zu werden, und kann alle Schriftstücke vorlegen, die ihm in diesem Zusammenhang zweckmäßig erscheinen. Es kann sich durch ein anderes Mitglied vertreten lassen.

Das Mitglied ist während der Diskussionen über den Antrag auf Aufhebung oder Schutz seiner Immunität nicht anwesend, außer bei seiner eigenen Anhörung.

Der Vorsitz des Ausschusses lädt das Mitglied unter Angabe eines Datums und Zeitpunkts zur Anhörung. Das Mitglied kann auf das Anhörungsrecht verzichten.

Nimmt das Mitglied nicht an der Anhörung gemäß dieser Ladung teil, so wird davon ausgegangen, dass es auf das Anhörungsrecht verzichtet hat, es sei denn, das Mitglied hat unter Angabe von Gründen um Freistellung von der Anhörung zu diesem Datum und diesem Zeitpunkt gebeten. Der Vorsitz des Ausschusses entscheidet darüber, ob einem solchen Antrag auf Freistellung in Anbetracht der angegebenen Gründe stattzugeben ist; diesbezüglich sind keine Rechtsbehelfe zulässig.

Gibt der Vorsitz des Ausschusses dem Freistellungsantrag statt, lädt er das Mitglied zu einer Anhörung zu einem neuen Datum und Zeitpunkt. Kommt das Mitglied der zweiten Ladung zur Anhörung nicht nach, wird das Verfahren ohne die Anhörung des Mitglieds fortgesetzt. In diesem Fall können keine weiteren Anträge auf Freistellung oder Anhörung zugelassen werden.

(...)

7. Der Ausschuss kann eine mit Gründen versehene Stellungnahme zur Zuständigkeit der betreffenden Behörde und zur Zulässigkeit des Antrags abgeben, doch äußert er sich in keinem Fall zur Schuld oder Nichtschuld des Mitglieds bzw. zur Zweckmäßigkeit einer Strafverfolgung der dem Mitglied zugeschriebenen Äußerungen oder Tätigkeiten, selbst wenn er durch die Prüfung des Antrags umfassende Kenntnis von dem zugrunde liegenden Sachverhalt erlangt.

(...)

3. Begründung des vorgeschlagenen Beschlusses

Aufgrund des dargelegten Sachverhalts findet in diesem Fall Artikel 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union Anwendung. Gemäß dieser Bestimmung steht den Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern dieses Staates zuerkannte Unverletzlichkeit zu. Artikel 105 Absatz 2 und 108 der Verfassung der Republik Polen sehen in diesem Zusammenhang vor, dass Abgeordnete des Sejm oder Senatoren ohne vorherige Zustimmung des Sejm bzw. des Senats nicht strafrechtlich belangt werden dürfen. Dementsprechend ist ein Beschluss des Europäischen Parlaments über die Möglichkeit der Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens gegen Czesław Adam Siekierski notwendig.

Um zu entscheiden, ob die parlamentarische Immunität eines Mitglieds aufgehoben wird, wendet das Parlament seine eigenen feststehenden Grundsätze an. Einer dieser Grundsätze besagt, dass die Immunität gewöhnlich aufgehoben wird, wenn der Tatbestand unter Artikel 9 des Protokolls (Nr. 7) fällt, vorausgesetzt, es liegt kein fumus persecutionis vor, d. h. kein hinreichend ernster und genauer Verdacht, dass der Antrag gestellt wurde, um dem betroffenen Mitglied politisch zu schaden.

Im vorliegenden Fall wurde der Antrag auf Aufhebung der Immunität von Czesław Adam Siekierski aufgrund einer behaupteten Ordnungswidrigkeit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in einer geschlossenen Ortschaft übermittelt. Aus den Akten geht hervor, dass Czesław Adam Siekierski offenbar eingeräumt hat, dass er zu dem genannten Zeitpunkt das Fahrzeug steuerte. obwohl er in dem einschlägigen Formular nicht angab, ob er das Bußgeld akzeptiert oder ablehnt. Aus den Umständen des Falles ergibt sich, dass die mutmaßliche Ordnungswidrigkeit und das anschließende Ordnungswidrigkeitsverfahren eindeutig nichts mit dem Amt von Czesław Adam Siekierski als Mitglied des Europäischen Parlaments zu tun haben und auch keine Anzeichen von fumus persecutionis vorliegen.

4. Fazit

Angesichts der vorstehenden Erwägungen sowie gemäß Artikel 9 Absatz 3 der Geschäftsordnung empfiehlt der Rechtsausschuss dem Europäischen Parlament, die parlamentarische Immunität von Herrn Czesław Adam Siekierski aufzuheben.

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNGIM FEDERFÜHRENDEN AUSSCHUSS

Datum der Annahme

11.1.2016

 

 

 

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

14

0

0

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Joëlle Bergeron, Marie-Christine Boutonnet, Laura Ferrara, Mary Honeyball, Dietmar Köster, Gilles Lebreton, António Marinho e Pinto, Julia Reda, Evelyn Regner, Pavel Svoboda

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter

Pascal Durand, Heidi Hautala, Sylvia-Yvonne Kaufmann, Constance Le Grip, Virginie Rozière

  • [1]  Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, C‑101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, C‑149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T‑345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C‑200/07 und C‑201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T‑42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C 163/10, ECLI:EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, ECLI:EU:T:2013:23.