Entschließungsantrag - B8-1170/2016Entschließungsantrag
B8-1170/2016

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zu der Lage der Journalisten in der Türkei

24.10.2016 - (2016/2935(RSP))

eingereicht im Anschluss an eine Erklärung der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik
gemäß Artikel 123 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Alexander Graf Lambsdorff, Marietje Schaake, Pavel Telička, Izaskun Bilbao Barandica, María Teresa Giménez Barbat, Petras Auštrevičius, Beatriz Becerra Basterrechea, Dita Charanzová, Marielle de Sarnez, Gérard Deprez, José Inácio Faria, Marian Harkin, Ivan Jakovčić, Valentinas Mazuronis, Louis Michel, Javier Nart, Urmas Paet, Maite Pagazaurtundúa Ruiz, Carolina Punset, Jasenko Selimovic, Ivo Vajgl, Johannes Cornelis van Baalen, Paavo Väyrynen, Cecilia Wikström, Hannu Takkula im Namen der ALDE-Fraktion

Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B8-1162/2016

Verfahren : 2016/2935(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
B8-1170/2016
Eingereichte Texte :
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Angenommene Texte :

B8-1170/2016

Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Lage der Journalisten in der Türkei

(2016/2935(RSP))

Das Europäische Parlament,

–  unter Hinweis auf seine vorangegangenen Entschließungen zur Türkei, insbesondere jene vom 14. April 2016 zu dem Bericht 2015 über die Türkei[1], die Entschließungen zu den vorherigen Fortschrittsberichten sowie jene vom 15. Januar 2015 zur Freiheit der Meinungsäußerung in der Türkei[2],

–  unter Hinweis auf den gescheiterten Militärputsch in der Türkei vom 15. Juli 2016 und die von der türkischen Regierung im Anschluss daran ergriffenen Maßnahmen, darunter die Festnahme von Journalisten, führenden Medienvertretern und anderen Personen in der gesamten Türkei sowie die Schließung einer Reihe von Zeitungen, Fernsehsendern, Radiosendern und Online-Medien,

–  unter Hinweis auf die Tatsache, dass der Beitritt der Türkei zur EU gemäß den Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom Dezember 2006 von der vollständigen Einhaltung der Kopenhagener Kriterien sowie von der Aufnahmefähigkeit der EU abhängt,

–  unter Hinweis auf die Zusage der Kommission, den Erweiterungsprozess zunächst nicht weiter voranzutreiben,

–  unter Hinweis darauf, dass die Achtung der Rechtsstaatlichkeit, wozu insbesondere auch Gewaltenteilung, Demokratie, freie Meinungsäußerung, Menschenrechte, Rechte von Minderheiten und Religionsfreiheit gehören, den Kern des Verhandlungsprozesses bildet,

–  unter Hinweis auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), deren Vertragspartei die Türkei ist, verankert wurde,

–  gestützt auf Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A.  in der Erwägung, dass die türkischen Staatsorgane nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung – bei der es sich um ein universelles Recht handelt und die nicht mit dem gescheiterten Putschversuch in Zusammenhang gebracht werden sollte – ergriffen haben, darunter die Festnahme von Journalisten, Redakteuren, Herausgebern und Medienschaffenden sowie die Schließung von Medieneinrichtungen, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur Fethullah-Gülen-Bewegung zu unterhalten, die von der Regierung als verantwortlich für den gescheiterten Putschversuch angesehen wird; in der Erwägung, dass Menschen aufgrund der von ihnen versandten Tweets vor Gericht gestellt und die digitalen Freiheiten eingeschränkt wurden;

B.  in der Erwägung, dass es systematisch auf die Einschränkungen der Pressefreiheit, des Medienpluralismus und der digitalen Freiheiten sowie im weiteren Sinne auf die mangelnde Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte hingewiesen hat; in der Erwägung, dass das Vorgehen gegen Medieneinrichtungen und Journalisten, das nach dem Putschversuch eingesetzt hatte, infolge der Verhängung des Ausnahmezustands und der in diesem Zusammenhang erlassenen Notstandsdekrete nach dem gescheiterten Putsch weiter verschärft wurde; in der Erwägung, dass der Ausnahmezustand und die Gültigkeit der damit verbundenen Bestimmungen mit Wirkung vom 19. Oktober 2016 um weitere 90 Tage verlängert wurden;

C.  in der Erwägung, dass nach dem gescheiterten Putsch die Nutzung sozialer und alternativer Online-Medien besonders genau überwacht wird; in der Erwägung, dass sich viele Türken nun fürchten, in solchen sozialen Medien ihre richtigen Namen zu benutzen; in der Erwägung, dass die Menschen dazu aufgefordert werden, online veröffentlichte kritische Kommentare über die Regierung zu melden, wodurch das Misstrauen in der Gesellschaft und zwischen den Bürgern gefördert und geistige Freiheit, Gewissenfreiheit und freie Meinungsäußerung, die zu den grundlegenden Freiheiten gehören, eingeschränkt werden;

D.  in der Erwägung, dass die Staatsorgane nach Angaben nichtstaatlicher Organisationen – darunter Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und Human Rights Watch – in den ersten zweieinhalb Monaten nach Verhängung des Ausnahmezustands etwa 150 Medieneinrichtungen und Verlagshäuser schließen ließen, wodurch über 2300 Journalisten und Medienschaffende arbeitslos wurden, und mindestens 99 Journalisten und Schriftsteller – teilweise ohne Anklageerhebung – festnehmen ließen, wodurch die Gesamtzahl der Medienschaffenden, die infolge der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert wurden, bis zum 19. Oktober 2016 auf mindestens 130 angestiegen ist; in der Erwägung, dass bei diesen Zahlen weitere Journalisten, die derzeit in Polizeigewahrsam festgehalten werden oder während des Ausnahmezustands ohne Anklage festgenommen und wieder freigelassen wurden, gar nicht berücksichtigt sind;

E.  in der Erwägung, dass nach Angaben von Human Rights Watch viele dieser rechtlichen Schritte ohne Vorliegen irgendwelcher Beweise für die Beteiligung der Beschuldigten an dem gescheiterten Putschversuch eingeleitet wurden; in der Erwägung, dass das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren sowie die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Justiz sichergestellt werden müssen; in der Erwägung, dass eine große Anzahl nichtstaatlicher Organisationen, darunter Amnesty International, angibt, glaubhafte Beweise dafür gesammelt zu haben, dass Inhaftierte in der Türkei geschlagen und gefoltert werden;

F.  in der Erwägung, dass solche rechtlichen Schritte und ein solche Behandlung von Inhaftierten Anlass zu größter Sorge geben, selbst wenn sie im Rahmen des Ausnahmezustands erfolgen, sowie in der Erwägung, dass der Putschversuch nicht als Rechtfertigung für die systematische Art und Weise dienen darf, in der Journalisten, deren Aufgabe darin besteht, Menschen zu informieren, an ihrer Arbeit gehindert werden und Gefahr laufen, dass rechtliche Schritte gegen sie eingeleitet oder dass sie verhaftet werden;

G.  in der Erwägung, dass die anhaltenden scharfen Maßnahmen gegen Kritiker und Journalisten zu Selbstzensur und der präventiven Entlassung von Journalisten geführt haben; in der Erwägung, dass eine solche abschreckende Wirkung dem Recht auf freie Meinungsäußerung, der Pressefreiheit und dem Zugang zu Informationen schadet;

H.  in der Erwägung, dass die Türkei selbst vor dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Rangliste der Presse- und Medienfreiheit – insbesondere was die Anzahl der inhaftierten Journalisten, die Anzahl der verbotenen Bücher, das Ausmaß der Selbstzensur und die Steuerstrafen für kritische Medien betrifft – einen der hintersten Plätze belegte; in der Erwägung, dass die Türkei in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 151 von 180 Staaten liegt; in der Erwägung, dass nach den Zahlen, welche die türkischen Staatsorgane selbst vorgelegt haben, die Türkei das Land mit der höchsten Anzahl inhaftierter Journalisten ist;

I.  in der Erwägung, dass die Europäische Union die Türkei wiederholt aufgefordert hat, dafür zu sorgen, dass – im Einklang mit Artikel 10 der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – die geltenden Rechtsvorschriften den europäischen Normen entsprechen und so umgesetzt werden, dass Verhältnismäßigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet sind;

J.  in der Erwägung, dass die Türkei wesentliche Grundsätze wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, zu denen auch – aber nicht nur – das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren gehören, achten muss; in der Erwägung, dass diese Grundsätze nicht verhandelbar sind;

K.  in der Erwägung, dass die Türkei auch ihren Verpflichtungen aus dem IPBPR, den sie im Jahr 2003 ratifiziert hat, nachkommen muss; in der Erwägung, dass die Ausnahmeregelung nach Artikel 4 des IPBPR nicht die unverhältnismäßige Einschränkung der Pressefreiheit, und insbesondere der Freiheit von Journalisten, Redakteuren und Medienschaffenden, rechtfertigt;

1.  verurteilt den versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 sowie die Versuche, die rechtmäßige türkische Regierung und die frei gewählte Große Nationalversammlung auf illegale und verfassungswidrige Weise zu verändern und zu untergraben, auf das Schärfste; betont, dass alle politischen Parteien in der Türkei sowie die führenden Politiker der EU den versuchten Militärputsch umgehend verurteilt und den demokratischen Institutionen und der verfassungsmäßigen Ordnung in dem Land ihre Unterstützung zugesagt haben;

2.  betont jedoch, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär von der türkischen Regierung und der AKP nicht als Vorwand dafür herangezogen werden darf, ihre Kontrolle über das Land übermäßig zu stärken, die legitime und gewaltfreie Opposition zu unterdrücken und Journalisten und die Medien durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben;

3.  weist die türkischen Staatsorgane darauf hin, dass sie auch nach Verhängung des Ausnahmezustands ihren Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte, darunter dem Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung, nachkommen müssen;

4.  weist die türkischen Staatsorgane erneut darauf hin, dass beim Umgang mit Medien und Journalisten mit äußerster Sorgfalt vorzugehen ist, da das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Medienfreiheit für die Funktionsfähigkeit einer demokratischen und offenen Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind; weist erneut darauf hin, dass das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, das auch unabhängige Online- und Offline-Medien umfasst, zu den zentralen Werten der EU gehört;

5.  bedauert die in großem Umfang erfolgte Inhaftierung von Journalisten sowie die Maßnahmen der Regierung gegen Medien und Journalisten und fordert die Staatsorgane auf, umgehend glaubwürdige Beweise dafür vorzulegen, dass die inhaftierten Personen die Straftaten, deren sie angeklagt sind, auch tatsächlich begangen haben, und die Gerichtsverfahren zügig, vollkommen transparent und mit den angemessenen rechtlichen Garantien für ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren fortzusetzen; fordert den Europäischen Auswärtigen Dienst auf, Prozessen gegen Journalisten und Menschenrechtsverteidiger häufiger beizuwohnen;

6.   fordert die türkischen Staatsorgane auf, diejenigen Anklagepunkte gegen Journalisten und Medienschaffende, die nicht rechtlich fundiert sind, fallen zu lassen und gegen Schriftsteller und Journalisten, die sich in legitimer Weise politisch äußern, künftig nicht mehr mit unbegründeten Klagen vorzugehen; fordert die türkischen Staatsorgane auf, diejenigen, die aufgrund unbegründeter Anschuldigungen inhaftiert sind, rasch freizulassen;

7.  ist äußerst besorgt angesichts der Vorwürfe der Misshandlung und Folter einiger Inhaftierter; verurteilt die unbegründete Entlassung von Medienschaffenden sowie die anhaltende und zunehmende Gewalt gegen bzw. Schikanierung und Einschüchterung von Journalisten durch staatliche und nichtstaatliche Akteure; ist besorgt über die Anzahl von Journalisten, die aufgrund der gegen sie ergriffenen Maßnahmen de facto nicht in der Lage sind, ihren Beruf auszuüben, sowie über Einschüchterung und illegale Abhörtätigkeiten, die zu Selbstzensur führen;

8.  fordert die türkischen Staatsorgane auf, die geltenden türkischen Gesetze, die türkische Verfassung sowie die europäischen und internationalen Übereinkommen vollumfänglich zu achten und insbesondere der Verpflichtung nachzukommen, das in der EMRK und im IPBPR – deren Vertragspartei die Türkei ist – verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung zu achten;

9.  fordert die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten auf, der Türkei jede mögliche rechtliche und juristische Unterstützung anzubieten, damit bei den anstehenden Gerichtsverfahren gegen diejenigen, die der Vorbereitung des Putsches angeklagt sind, die höchsten Standards zur Anwendung kommen und die Rechtsstaatlichkeit in dem Land gestärkt wird;

10.  beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dem Generalsekretär des Europarats, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie der Regierung und dem Parlament der Republik Türkei zu übermitteln.