Plenardebatte über den “Brexit” und die Konsequenzen 

Pressemitteilung 
 
 

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Britisches Votum zum EU-Austritt: Europaparlament debattiert über das Ergebnis und die Folgen  

Zur Eröffnung der außerordentlichen Plenartagung hob Parlamentspräsident Martin Schulz hervor, dass zum ersten Mal eine Sondersitzung so kurzfristig einberufen wurde, aber dass das britische EU-Austrittsvotum als Auslöser auch ein außergewöhnlicher Präzedenzfall sei. Er hieß den britischen EU-Kommissar Jonathan Hill willkommen und dankte ihm für seine Arbeit und seine Entscheidung, von seinem Amt zurückzutreten, nachdem er vergeblich für den Verbleib seines Landes in der EU gekämpft hatte.

Schulz’ Dankeserklärung an Hill folgten stehende Ovationen der Abgeordneten und der anderen EU-Kommissaren.

Um die vollständigen Erklärungen der Redner anzuhören, klicken Sie bitte auf die Links unter den Namen.


„Es liegt in unser aller Interesse, sicherzustellen, dass eine zukünftige Beziehung konstruktiv und für beide Seiten vorteilhaft ausfällt. Ein lang andauernder politischer Schwebezustand dient keinem“, sagte die niederländische Ministerin Jeanine Hennis-Plasschaert als Vertreterin der rotierenden EU-Ratspräsidentschaft. „Trotzdem sollten wir dem Vereinigten Königreich die Zeit zugestehen, die es braucht, um nun die nötigen Entscheidungen zu treffen. Zu unseren Herausforderungen gehört nun, die Bürger davon zu überzeugen, dass die Einheit des Vereinigten Königreichs für sie das Beste ist. Es sollte uns mit Besorgnis erfüllen, dass eine Aufspaltung nun nicht mehr undenkbar ist“, fügte sie hinzu.


“Wir müssen den Willen des britischen Volks respektieren“, sagte der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker. Doch „es muss Konsequenzen haben“, fügte er hinzu. Er forderte die britische Regierung auf, die Situation so bald wie möglich zu klären, um Unsicherheit zu vermeiden. „Keine offizielle Mitteilung des Austritts, keine Verhandlungen“, sagte er, und machte wiederholt klar, dass es weder geheime noch informelle Gespräche mit London geben werden. Zum UKIP-Vorsitzenden Nigel Farage sagte er: „Sie haben für den Austritt gekämpft, das britische Volk hat für den Austritt gestimmt, warum sind sie dann hier?“


“Wir werden Euch nicht allein lassen”, versprach der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (DE) der britischen Jugend, die sich mit über 73% für den Verbleib in der EU ausgesprochen hatte. Populisten hätten das Referendum gewonnen, so Weber. „Schämen Sie sich“, sagte er zu Nigel Farage, den er einen „Lügner“ nannte, wegen angeblich falscher Versprechen während der Referendumskampagne. „Wir erwarten nun die offizielle Austrittserklärung nach Artikel 50 und rasche sowie faire Austrittsverhandlungen“, fügte er hinzu und drängte die Politiker in Europa dazu, endlich aufzuhören, Brüssel schlechtzumachen und Verantwortung zu übernehmen.


„Es kann nicht sein, dass die Europäische Union zur Geisel interner Parteipolitik der Konservativen Partei wird. Die britische Regierung muss uns so schnell wie möglich die Austrittsmitteilung überreichen“, sagte der Vorsitzende der S&D-Fraktion Gianni Pittella (IT). „Heute sage ich hier klar und deutlich, dass meine Fraktion die Umsetzung des Fiskalpakts in EU-Recht entschieden ablehnen wird. Haushaltsflexibilität ist gut, aber wir müssen darüber hinaus Anreize für öffentliche und private Investitionen schaffen. Entweder Europa nimmt sich dieser Probleme an, oder es wird untergehen“, fügte er hinzu.


Syed Kamall, Vorsitzender der EKR-Fraktion, rief dazu auf, nun den Blick nach vorne zu richten, da das britische Volk sein Votum abgegeben hat, und nicht immer wieder die Vergangenheit aufleben zu lassen. Die EU-Verträge seien deutlich und müssten respektiert werden, fügte er hinzu, und forderte Klarheit über den Zeitplan für die Austrittsverhandlungen. Großbritannien und die EU müssen in der Zukunft enge Partner bleiben, und die Briten müssten zu „guten Nachbarn, nicht zögerlichen Mietern“ werden.


„Es ist schwer, eine Entscheidung zu akzeptieren, mit der man nicht einverstanden ist“, aber die Entscheidung des Vereinigten Königreichs müsse respektiert werden, sagte der ALDE-Vorsitzende Guy Verhofstadt (BE). Die ‚Leave‘-Kampagne, die mit Lügen und Plakaten wie aus der Nazi-Propaganda erfolgreich gewesen sei, habe ein Klima der Angst und der Negativität geschaffen, fügte er hinzu. Wenn die bestehende Unsicherheit sich fortsetzt, werde alles nur noch schlimmer. „Nur die unverzügliche offizielle Austrittserklärung nach Artikel 50 kann dies stoppen – die 27 EU-Mitglieder sollten nicht darauf warten, dass eine orientierungslose Tory-Partei sich endlich zusammenreißt“, so Verhofstadt.


Die GUE/NGL-Vorsitzende Gabriele Zimmer (DE) sagte, ihre Fraktion könne der gemeinsamen Entschließung der anderen Fraktionen nicht zustimmen, da unter anderem die Selbstkritik fehle. Die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, die „brutale“ Behandlung von Griechenland, Italien und anderen Ländern habe sich tief im Bewusstsein vieler EU-Bürger festgesetzt. Es sei kein Zufall gewesen, dass unter den Brexit-Befürwortern viele waren, die um ihre Jobs, Gesundheits- und Altersversorgung fürchteten, so Zimmer, die hinzufügte, dass die EU nicht gezeigt habe, dass sie die Bürger vor den Risiken der Globalisierung schützen kann.


„Heute gibt es die Möglichkeit, eines neues Projekt vorzuschlagen, aber seien Sie nicht überrascht, wenn es zwischen Dänemark, Irland und bis nach Griechenland viel Misstrauen gibt“, sagte Philippe Lamberts (BE), Vorsitzender der Grünen-Fraktion. „Wir müssen wieder zu den Wurzeln des europäischen Projekts zurück und Frieden sowie nachhaltigen Wohlstand schaffen. Können wir sicherstellen, dass alle Menschen innerhalb und außerhalb der EU in Würde leben? Unsere Antwort lautet: Ja!“, so Lamberts abschließend.


Nachdem der Präsident den Saal zur Ordnung gerufen hatte, um Ruhe für den nächsten Redner herzustellen, wies der EFDD-Vorsitzende Nigel Farage (UK) darauf hin, dass jenen, die ihn vor 17 Jahren ausgelacht hatten, als er eine Kampagne für den EU-Austritt ankündigte, nun das Lachen vergangen sei. „Sie alle hier, als Teil eines politischen Projekts, wollen die Wirklichkeit nicht wahrhaben“, unterstrich er, und sagte voraus, dass das Vereinigte Königreich nicht das letzte Mitglied sein würde, das aus der EU austreten würde. Er warnte die EU davor, „ein vernünftiges Handelsabkommen“ abzulehnen, denn die Konsequenzen daraus wären weitaus schlimmer für die 27 Mitglieder als für das Vereinigte Königreich. „Gar kein Abkommen ist für uns immer noch besser als der faule Deal, den wir jetzt haben“, sagte er.


Die ENF-Vorsitzende Marine Le Pen (FR) bezeichnete das Ergebnis des Referendums als das „bei weitem wichtigste historische Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer“ und eine leidenschaftliche Liebeserklärung des britischen Volkes für ihr Land. Es sei eine Ohrfeige für die EU-Befürworter und zeige, dass das europäische Projekt nicht unumkehrbar ist. Die Umsetzung der Entscheidung zu verzögern, sei nicht demokratisch, warnte sie.


Die fraktionslose Abgeordnete Diane Dodds (UK) sagte, die Entscheidung des britischen Volkes „kann nicht umgeschrieben“ werden. Sie warf den führenden Politikern in der EU vor, die „jahrelangen Rufe der Frustration“ der Briten ignoriert zu haben. „Heute aber hören sie zu“, so Dodds. Sie hob trotzdem hervor, dass das Vereinigte Königreich „Europa nicht den Rücken gekehrt hat.“


Jeanine Hennis-Plasschaert startete die zweite Debattenrunde und antwortete auf die Erklärungen der Abgeordneten. „Zu diesem Zeitpunkt lautet die Antwort nicht ‚mehr Europa‘ oder ‚weniger Europa‘, sondern ein ‚besseres Europa‘. Es ist ganz klar, wir müssen nun handeln. Unsere Union existiert nur, wenn die Millionen Bürger sie unterstützen, und diese Unterstützung ist nicht selbstverständlich. Die gemeinsamen Herausforderungen werden nicht verschwinden und kein Land der Welt kann diese Herausforderungen alleine bewältigen“.


Jean-Claude Juncker unterstrich, dass die Kommission keine Verantwortung für das Ergebnis des Referendums trage. Er wies darauf hin, dass das Vereinigte Königreich nicht über Sparpolitik oder einen angemessenen Schutz der EU-Außengrenzen abgestimmt habe, da es weder zum Eurogebiet gehört noch zur Schengenzone gehört. Er bezichtigte ebenfalls Nigel Farage der Lüge: „Sie haben ihre Wirklichkeit erfunden“, sagte er.


Diane Dodds hob hervor, dass der Ton der Debatte „alle Klischees über Europa, die die Briten so fürchten, noch verstärkt“. „Drohungen und Mobbing funktionieren nicht“, sagte sie und drängt das Vereinigte Königreich und die EU dazu, eine Beziehung aufzubauen, die Wohlstand und Frieden „in einer immer gefährlicheren Welt“ bringt.


Marcel de Graaf (ENF, NL) sagte, dass der 23. Juni ein fantastischer Tag für die Befreiung des britischen Volkes und der Anfang vom Ende eines verfehlten Projekts sei. Er forderte Juncker und die gesamte Kommission auf, zurückzutreten. Der Abbau müsse so schnell wie möglich starten und die wirtschaftliche sowie politische Integration stoppen, fügte er hinzu.


Für Nigel Farage läuft es im Vereinigten Königreich „ziemlich gut“ nach dem Referendum. Es gebe nur einige politische Umwälzungen, wie der angekündigte Rücktritt des Premierministers und des britischen EU-Kommissars, „aus gutem Grund“, so Farage. Wenn das Austrittsvotum die gesamte britische Politikerklasse hinwegfegt, „dann ist das eben so“. Er fügte hinzu, dass er sich darauf freue, im nächsten Jahr am 23. Juni den „Tag der Unabhängigkeit“ zu feiern.


Alyn Smith (Grüne/EFA, UK) sagte: „Wir sind stolz darauf, schottisch zu sein, und ich bin auch stolzer Europäer. Ich möchte, dass mein Land international ausgerichtet ist, kooperativ, ökologisch und fair – europäisch also. Und das schottische Volk, zusammen mit dem Volk Nordirlands und den Bewohnern Londons und vielen andere Menschen in Wales und England hat entschieden, Mitglied dieser Familie von Nationen zu bleiben. Ich verlange, dass dies auch respektiert wird. Wir brauchen jetzt kühle Köpfe und warme Herzen. Bitte vergesst nicht, dass wir Euch nicht im Stich gelassen haben. Liebe Kollegen, ich bitte Euch darum, jetzt Schottland nicht im Stich zu lassen!“ (Stehende Ovationen)


Martina Anderson (GUE/NGL, UK) hob hervor: “Für uns in Nordirland ist das Austrittsvotum nicht bindend. Wir respektieren und unterstützen das Votum Nordirlands, das wie in Schottland zugunsten eines Verbleibs in der EU ausgefallen ist. Das letzte, was die Bevölkerung in Nordirland jetzt braucht, ist eine neue Staatsgrenze mit 27 Mitgliedstaaten!“


Guy Verhofstadt appellierte an seine Abgeordnetenkollegen, ein starkes Signal an den Europäischen Rat zu senden und „massiv für die Entschließung, die wir vorbereitet haben, zu stimmen“. Zu Nigel Farage sagte er: „Endlich werden wir den Posten im EU-Haushalt los, der die größte Verschwendung bedeutet, und den wir 17 Jahre lang bezahlt haben: Ihr Gehalt!“


Ryszard Legutko (EKR, PL) sagte: “Dies ist das schlimmste, was uns je in der Geschichte der Europäischen Integration wiederfahren ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das nun richtigstellen können, in der Kommission wie auch im Parlament. Es sieht nicht gut aus, und ich frage mich, ob die führenden Politiker in der EU aus Fehlern lernen können.“


PITTELLA meinte zu Nigel Farage "Eins muss ich Ihnen sagen, Sie haben nicht das Beste für ihr Land getan und die Geschichte wird es zeigen. Dies ist keine Zeit für Polemiken, sondern ein historisches Ereignis und wir brauchen Klarheit. Haben wir Klarheit von der Brexit-Seite bekommen? Sie müssen Ihre Schlüsse ziehen und die Entscheidung bekanntgeben. Wir haben klare Vorstellungen darüber was kurz- und mittelfristig zu tun ist, um Europa zu retten".


EPP-Chef Weber meinte abschließend, dass die Debatte zwei Dinge klar gemacht habe: Die Herausforderung, der sich die EU stellen muss und dass das Parlament voll hinter dem europäischen Projekt steht. Er bat den Rat, sich nicht in internen Zwistigkeiten zu verlieren, sondern morgen ein kraftvolles Signal zu setzen, dass die 27 an diesem Europa weiterbauen.