Gemeinsamer Entschließungsantrag - RC-B7-0103/2011Gemeinsamer Entschließungsantrag
RC-B7-0103/2011

GEMEINSAMER ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zum Mediengesetz in Ungarn

14.2.2011

eingereicht gemäß Artikel 110 Absatz 4 der Geschäftsordnung
anstelle der Entschließungsanträge der Fraktionen:
Verts/ALE (B7‑0103/2011)
ALDE (B7‑0104/2011)
GUE/NGL (B7‑0107/2011)
S&D (B7‑0112/2011)

Martin Schulz, Hannes Swoboda, Maria Badia i Cutchet, Claude Moraes, Juan Fernando López Aguilar, Csaba Sándor Tabajdi im Namen der S&D-Fraktion
Renate Weber, Sophia in 't Veld, Sonia Alfano, Alexander Alvaro, Louis Michel, Cecilia Wikström, Jens Rohde, Norica Nicolai, Marielle De Sarnez, Alexander Graf Lambsdorff, Ramon Tremosa i Balcells, Charles Goerens, Marietje Schaake, Frédérique Ries, Gianni Vattimo, Nathalie Griesbeck, Luigi de Magistris im Namen der ALDE-Fraktion
Daniel Cohn-Bendit, Rebecca Harms, Judith Sargentini, Helga Trüpel, Christian Engström, Hélène Flautre, Raül Romeva i Rueda, Eva Lichtenberger im Namen der Verts/ALE-Fraktion
Lothar Bisky, Rui Tavares, Eva-Britt Svensson, Patrick Le Hyaric, Willy Meyer, Jean-Luc Mélenchon, Jürgen Klute, Marie-Christine Vergiat im Namen der GUE/NGL-Fraktion

Verfahren : 2011/2510(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
RC-B7-0103/2011
Eingereichte Texte :
RC-B7-0103/2011
Abstimmungen :
Angenommene Texte :

Entschließung des Europäischen Parlaments zum Mediengesetz in Ungarn

Das Europäische Parlament,

–   unter Hinweis auf die Artikel 2, 3, 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), Artikel 49, 56, 114, 167 und 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in Bezug auf die Achtung, die Förderung und den Schutz der Grundrechte, insbesondere der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit und des Rechts auf Medienpluralismus,

–   in Kenntnis der Richtlinie 2010/13/EU vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Erbringung audiovisueller Mediendienste (AVMD-Richtlinie)[1],

–   unter Hinweis auf die Europäische Charta für Pressefreiheit vom 25. Mai 2009, des Arbeitsdokuments der Kommissionsdienststellen über Medienpluralismus in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (SEK(2007)0032), des von der Kommission festgelegten Konzepts zum Medienpluralismus in drei Schritten und der für die Kommission erstellten und 2009 abgeschlossenen unabhängigen Studie,

–   unter Hinweis auf seine Entschließungen vom 22. April 2004 zu Gefahren der Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in der EU, vor allem in Italien (Artikel 11 Absatz 2 der Charta der Grundrechte)[2], vom 25. September 2008 zur Medienkonzentration und zum Medienpluralismus in der Europäischen Union[3] sowie vom 7. September 2010 zu Journalismus und neuen Medien – Schaffung eines europäischen öffentlichen Raums[4],

–   in Kenntnis der Erklärungen der Kommission, der eingereichten parlamentarischen Anfragen sowie der Aussprachen im Europäischen Parlament am 8. Oktober 2009 zur Informationsfreiheit in Italien und am 8. September 2010 sowie der Diskussionen im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres am 17. Januar 2011 betreffend das ungarische Mediengesetz,

   unter Hinweis auf den Beschluss des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, die Agentur für Grundrechte zu ersuchen, einen vergleichenden Jahresbericht über die Lage der Medienfreiheit, des Medienpluralismus und der unabhängigen Medienverwaltung, einschließlich der Indikatoren, in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu erstellen,

–   in Kenntnis des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, insbesondere dessen Artikel 5 Absatz 2, Artikel 7 und 11,

–   gestützt auf Artikel 110 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass sich die Europäische Union auf die in Artikel 2 des EUV niedergelegten Werte der Demokratie und Rechtstaatlichkeit gründet und sie folglich die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit gewährleistet und fördert, wie sie in Artikel 11 der Charta der Grundrechte und Artikel 10 der EMRK verankert sind, und sie den rechtlichen Wert der Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, wie sie in der Charta der Grundrechte festgeschrieben sind, was sie auch durch ihr Beitreten zur EMRK gezeigt hat, wofür Medienfreiheit und Medienpluralismus eine wesentliche Vorbedingung sind, und in der Erwägung, dass zu diesen Rechten die freie Meinungsäußerung und die Freiheit gehören, Informationen ohne Kontrolle, Einmischung oder Druck seitens staatlicher Stellen zu erhalten und weiterzugeben,

B.  in der Erwägung, dass Medienpluralismus und Medienfreiheit in der EU und in ihren Mitgliedstaaten, insbesondere in Bulgarien, Estland, Italien, Rumänien und der Tschechischen Republik, weiterhin Anlass zu ernster Sorge geben, wie an der Kritik deutlich wird, die vor kurzem von internationalen Organisationen wie der OSZE und vom Menschenrechtskommissar des Europarates, von einer großen Zahl internationaler und nationaler Journalistenvereinigungen, von Herausgebern und Verlegern, von nichtstaatlichen Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen sowie von Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission am Mediengesetz und an den Verfassungsänderungen in Ungarn geübt wurde, die zwischen Juni und Dezember 2010 eingeführt wurden,

C. in der Erwägung, dass die Kommission Bedenken angemeldet hat und die ungarische Regierung um Informationen in Bezug auf die Vereinbarkeit des ungarischen Mediengesetzes mit der AVMD-Richtlinie und dem gemeinschaftlichen Besitzstand im Allgemeinen, insbesondere hinsichtlich der allen Anbietern audiovisueller Mediendienste auferlegten Pflicht zu einer ausgewogenen Berichterstattung, ersucht hat, wobei sie auch in Frage gestellt hat, ob dieses Gesetz dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht und das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, das in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der EU verankert ist, das Herkunftslandprinzip und die Registrierungsvorschriften respektiert, und in der Erwägung, dass die ungarische Regierung darauf reagiert hat, indem sie weitere Informationen vorgelegt und ihre Bereitschaft erklärt hat, das Gesetz zu überprüfen und abzuändern,

D. in der Erwägung, dass die OSZE ernsthafte Vorbehalte in Bezug auf den Anwendungsbereich der ungarischen Rechtsvorschriften (materieller und räumlicher Anwendungsbereich), die Freiheit der Meinungsäußerung und die Regulierung von Inhalten, die Benennung einer nationalen Medien‑ und Telekommunikationsbehörde in ein und derselben Person und die Einhaltung der Grundsätze für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum Ausdruck gebracht[5] und darauf hingewiesen hat, dass die neuen Rechtsvorschriften den Medienpluralismus untergraben, die politische und finanzielle Unabhängigkeit öffentlich‑rechtlicher Medien beseitigen und negative Bedingungen für freie Medien langfristig zementieren, dass die Medienbehörde und der Medienrat politisch homogen sind[6] und eine beherrschende und zentralisierte politische Kontrolle aller Medien durch die Regierung ausüben; in der Erwägung, dass weitere Bedenken sich unter anderem auf die unverhältnismäßigen und extremen Sanktionen aus fragwürdigen und nicht näher definierten Gründen, das fehlende automatische Verfahren für die Aussetzung von Sanktionen, wenn gegen eine Entscheidung der Medienbehörde bei Gericht Rechtsbehelfe eingelegt werden, die Verletzung des Grundsatzes der Vertraulichkeit journalistischer Quellen und den Schutz der Werte der Familie beziehen,

E.  in der Erwägung, dass das Europäische Parlament die von der OSZE erhobenen schwerwiegenden Bedenken in Bezug auf die Medienbehörde und den Medienrat sowie auf die Tatsache teilt, dass die problematischsten Merkmale der Rechtsvorschriften den internationalen Normen über die Freiheit der Meinungsäußerung und den einschlägigen Normen der OSZE widersprechen, z.B. durch die Abschaffung der politischen und finanziellen Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien, den Anwendungsbereich der Rechtsvorschriften (materieller und räumlicher Anwendungsbereich) und die Entscheidung, Schlüsselbegriffe nicht zu definieren, wodurch es Journalisten unmöglich ist zu wissen, wann sie möglicherweise gegen das Gesetz verstoßen,

F.  in der Erwägung, dass der Menschenrechtskommissar des Europarats die ungarischen Staatsorgane aufgefordert hat, bei der Überprüfung ihres Mediengesetzes den Standards des Europarates über die freie Meinungsäußerung und den Medienpluralismus, den einschlägigen Empfehlungen des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und insbesondere den in der EMRK und in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte enthaltenen rechtsverbindlichen Normen Rechnung zu tragen, und er auf unklare Definitionen, die zu fehlerhaften Auslegungen führen könnten, die Einrichtung eines politisch unausgewogenen Regulierungssystems mit unverhältnismäßigen Befugnissen und fehlender umfassender gerichtlicher Kontrolle, die Gefahren für die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Erosion des Schutzes journalistischer Quellen hingewiesen hat; in der Erwägung, dass er ferner betont hat, dass alle relevanten Interessengruppen, einschließlich Oppositionsparteien und Zivilgesellschaft, in der Lage sein müssen, sich in sinnvoller Weise an der Überprüfung dieser Rechtsvorschriften zu beteiligen, die einen so grundlegenden Aspekt für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft regulieren[7],

G. in der Erwägung, dass das ungarische Mediengesetz infolgedessen dringend ausgesetzt und auf der Grundlage der Bemerkungen und Vorschläge der Kommission, der OSZE und des Europarates überprüft werden sollte, damit sichergestellt ist, dass es in vollem Umfang mit dem EU-Recht und den europäischen Werten und Standards der Medienfreiheit, des Medienpluralismus und der unabhängigen Medienverwaltung im Einklang steht,

H. in der Erwägung, dass die Kommission, obwohl das Parlament wiederholt eine Richtlinie über Medienfreiheit, Medienpluralismus und unabhängige Medienverwaltung gefordert hat, diesen Vorschlag, der immer dringlicher erforderlich wird, bislang verzögert hat,

I.   in der Erwägung, dass die Kriterien von Kopenhagen für die Mitgliedschaft in der EU, wie sie im Juni 1993 vom Europäischen Rat von Kopenhagen verabschiedet wurden, in Bezug auf die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung von allen EU-Mitgliedstaaten beachtet und durch entsprechendes EU-Recht durchgesetzt werden sollten,

J.   in der Erwägung, dass der Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen C–39/05 P und C–52/05 P, Randnummern 45 und 46, feststellte, dass der Zugang zu Informationen die Bürger in die Lage versetzt, sich besser am Entscheidungsprozess zu beteiligen und eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System garantiert und dass dies eine „Voraussetzung dafür [ist], dass sie ihre demokratischen Rechte effektiv ausüben können“,

1.  fordert die ungarischen Staatsorgane auf, die Unabhängigkeit der Medienverwaltung wieder herzustellen, die Einmischung des Staates in die Freiheit der Meinungsäußerung und die ausgewogene Berichterstattung in den Medien einzustellen, und vertritt ferner die Auffassung, dass eine Überregulierung der Medien kontraproduktiv ist und den effektiven Pluralismus im öffentlichen Raum gefährdet;

2.  begrüßt die Initiative der Kommission, Klarstellungen zu dem ungarischen Mediengesetz und seiner Vereinbarkeit mit den EU-Verträgen und dem EU-Recht zu fordern, sowie die Ankündigung der ungarischen Staatsorgane betreffend ihre Bereitschaft, das Gesetz abzuändern;

3.  bedauert die Entscheidung der Kommission, sich auf nur drei Punkte bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands durch Ungarn zu konzentrieren, und die fehlende Bezugnahme auf Artikel 30 der AVMD-Richtlinie, womit die eigene Kompetenz der Kommission, die Einhaltung der Charta der Grundrechte bei der Umsetzung von EU-Recht durch Ungarn, zu prüfen, beschränkt wird; fordert die Kommission dringend auf, die Einhaltung der Haftungsregelung der Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr durch Ungarn sowie die ungarische Umsetzung der Rahmenbeschlüsse der EU zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (2008/913/JI) und zur Terrorismusbekämpfung (2008/919/JI) zu prüfen, die Bezugnahmen auf die Freiheit der Meinungsäußerung und die Umgehung der Vorschriften zur Medienfreiheit enthalten;

4.  fordert die Kommission auf, ihre gründliche Untersuchung der Frage, wie das ungarische Mediengesetz in Einklang mit den europäischen Rechtsvorschriften, insbesondere mit der Charta der Grundrechte, gebracht werden kann, rasch und zügig durchzuführen, und den ungarischen Staatsorganen eine enge Frist für die Änderung des Gesetzes zu setzen und ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, sollte die Frist nicht eingehalten werden;

5.  fordert die ungarischen Staatsorgane auf, alle Interessengruppen in Bezug auf die Überarbeitung des Mediengesetzes und der Verfassung einzubeziehen, was die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft ist, die sich auf die Rechtsstaatlichkeit und eine angemessene Gewaltenteilung zur Gewährleistung der Grundrechte der Minderheit gegen die Gefahr der Tyrannei durch die Mehrheit stützt;

6.  fordert die Kommission auf, auf der Grundlage von Artikel 265 AEUV vorzugehen und vor Ablauf des Jahres einen Legislativvorschlag gemäß Artikel 225 AEUV über Medienfreiheit, Medienpluralismus und unabhängige Medienverwaltung vorzulegen und damit den unzulänglichen EU-Rechtsrahmen für die Medien zu beseitigen, indem sie ihre Befugnisse im Bereich des Binnenmarktes, der audiovisuellen Politik, des Wettbewerbs, der Telekommunikation, der staatlichen Beihilfen, der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung und der Grundrechte jeder in der EU ansässigen Person einsetzt, um wenigstens die wesentlichen Mindestnormen festzuschreiben, die alle Mitgliedstaaten in der einzelstaatlichen Rechtsetzung einhalten und respektieren müssen, um die Informationsfreiheit und ein angemessenes Maß an Medienpluralismus und unabhängiger Medienverwaltung zu gewährleisten, zu garantieren und zu fördern;

7.  fordert die ungarischen Staatsorgane auf, für den Fall, dass das Mediengesetz für unvereinbar mit dem Buchstaben oder dem Geist der Verträge oder dem EU-Recht, insbesondere der Charta der Grundrechte, befunden wird, das Gesetz oder Teile von ihm, die als unvereinbar gelten, im Einklang mit den Bemerkungen und Vorschlägen des Europäischen Parlaments, der Kommission, der OSZE und des Menschenrechtskommissars des Europarats, den Empfehlungen des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufzuheben und nicht anzuwenden;

8.  beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Europarat, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Agentur für Grundrechte, der OSZE und dem Europarat zu übermitteln.