Entschließungsantrag - B7-0123/2011Entschließungsantrag
B7-0123/2011

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zu Ägypten

10.2.2011

eingereicht im Anschluss an eine Erklärung der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik
gemäß Artikel 110 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Franziska Katharina Brantner, Hélène Flautre, Frieda Brepoels, Raül Romeva i Rueda, Judith Sargentini, Indrek Tarand, Margrete Auken, Malika Benarab-Attou, Bart Staes, Barbara Lochbihler, Emilie Turunen, Catherine Grèze, Michail Tremopoulos, François Alfonsi, Keith Taylor, Heidi Hautala, Eva Joly, Daniel Cohn-Bendit, Isabelle Durant, Ulrike Lunacek im Namen der Verts/ALE-Fraktion

Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B7-0120/2011

Verfahren : 2011/2555(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
B7-0123/2011
Eingereichte Texte :
B7-0123/2011
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B7‑0123/2011

Entschließung des Europäischen Parlaments zu Ägypten

Das Europäische Parlament,

–   unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Ägypten, insbesondere diejenige vom 17. Januar 2008,

–   unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948,

–    unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966,

–   unter Hinweis auf die im Juni 2004 verabschiedeten und 2008 aktualisierten Leitlinien der Europäischen Union betreffend den Schutz von Menschenrechtsverteidigern,

–   unter Hinweis auf die Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) seit 2004 und insbesondere auf den Fortschrittsbericht der Kommission über deren Umsetzung,

–   unter Hinweis auf das Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Ägypten, das im Juni 2004 in Kraft trat,

–   unter Hinweis auf den im März 2007 gebilligten Aktionsplan EU-Ägypten,

–   in Kenntnis der Mitteilungen der Kommission vom 11. März 2003 mit dem Titel „Größeres Europa - Nachbarschaft: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“[1], vom 12. Mai 2004 mit dem Titel „Europäische Nachbarschaftspolitik – Strategiepapier“[2], vom 4. Dezember 2006 über die Stärkung der Europäischen Nachbarschaftspolitik[3], vom 5. Dezember 2007 mit dem Titel „Für eine starke Europäische Nachbarschaftspolitik“[4] und vom 12. Mai 2010 mit dem Titel „Die Europäische Nachbarschaftspolitik – eine Bestandsaufnahme“[5],

–   unter Hinweis auf den gemeinsamen Beschluss vom April 2009, wie von Ägypten 2008 vorgeschlagen, auf eine Verstärkung der Beziehungen zwischen der EU und Ägypten hinzuarbeiten,

–   in Kenntnis der Schlussfolgerungen des Rates vom 31. Januar 2011 zu Ägypten,

–   in Kenntnis der am 3. und 4. Februar 2011 abgegebenenen Erklärungen von Catherine Ashton, Hohe Vertreterin/Vizepräsidentin, zur Lage in Ägypten,

–   unter Hinweis auf die am 3. Februar 2011 abgegebene Erklärung einer Gruppe von unabhängigen Menschenrechtssachverständigen der Vereinten Nationen,

–   unter Hinweis auf die am 4. Februar 2011 abgegebene Erklärung von Präsident Van Rompuy zu Ägypten und der Region,

–   unter Hinweis auf die am 4. Februar 2011 abgegebene Erklärung von Navi Pillay, Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, zur derzeitigen Situation in Nordafrika,

–   unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen vom 19. Januar 2006 zu der Europäischen Nachbarschaftspolitik, vom 15. November 2007 zur Stärkung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, vom 19. Februar 2009 zu dem Barcelona-Prozess: Union für den Mittelmeerraum, vom 20. Mai 2010 zur Union für den Mittelmeerraum, vom 6. Juli 2006 zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments und vom 19. Februar 2009 zu der Überprüfung des Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments,

–   gestützt auf Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass die friedlichen Demonstrationen in Ägypten und anderen arabischen Ländern, bei denen ein politischer, wirtschaftlicher und sozialer Wandel gefordert wurde, Ausdruck einer mit Nachdruck erhobenen und weitverbreiteten Forderung der betreffenden Völker nach echter Demokratie und einem Ende der autoritären Regime sind und dass die aktuellen Ereignisse, die in Tunesien ihren Anfang nahmen, eindeutig den Wunsch dieser Völker nach Freiheit und Demokratie belegen,

B.  in der Erwägung, dass die Massendemonstrationen in Ägypten, die am 25. Januar 2011 begannen, weit mehr als 300 Tote forderten und dass viele Menschen verletzt und festgenommen wurden, sowie in der Erwägung, dass auf den Plätzen in den wichtigsten ägyptischen Städten weiterhin umfangreiche Demonstrationen stattfinden, die ein in der ägyptischen Geschichte und der arabischen Welt nie gekanntes Ausmaß angenommen haben,

C.  in der Erwägung, dass die zunächst friedlichen Proteste zunehmend von Gewalt geprägt sind, nachdem die Demonstranten von bewaffneten Personen sowie regierungstreuen Milizen angegriffen wurden und die Polizei Tränengas, Gummigeschosse und Wasserkanonen einsetzte, und in der Erwägung, dass das Innenministerium nach der historischen Demonstration vom 28. Januar 2011 beschloss, keinerlei Polizei im Land einzusetzen, womit für die Bevölkerung eine unsichere Situation entstand,

D. in der Erwägung, dass die ägyptischen Behörden die Telekommunikationsgesellschaften anwiesen, 60 Millionen Mobilfunklinien in Ägypten abzuschalten und den Internetzugang Ägyptens fast vollständig zu kappen, mit dem Ziel, die massive Mobilisierung zu behindern und die Bürger zum Schweigen zu bringen, und dass Medien und Einrichtungen wie Al Jazeera und das Hisham-Mubarak-Zentrum für Menschenrechte von der Militärpolizei geschlossen wurden,

E. in der Erwägung, dass seit Ende Januar eine steigende Zahl von Angriffen und Festnahmen verzeichnet wird, die sich gegen ägyptische und internationale Journalisten sowie Menschenrechtsverteidiger richten und mit denen versucht wird, eine unabhängige Berichterstattung über die anhaltenden Proteste einzuschränken und ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschenrechtsverletzungen undokumentiert und ohne Kenntnis der ägyptischen und internationalen Medien verübt werden können,

F.  in der Erwägung, dass ein Wandel in Ägypten einen sofortigen, ernsthaften und offenen Dialog unter Mitwirkung aller politischen Kräfte erfordert, die die demokratischen Normen respektieren, ebenso der Zivilgesellschaft, was zu sofortigen, konkreten und entscheidenden Maßnahmen führen muss, die auf die Verwirklichung substanzieller demokratischer Reformen abzielen,

G. in der Erwägung, dass sich die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft hauptsächlich auf Wirtschaftsreformen konzentriert hat und nicht in der Lage war, die notwendigen politischen und institutionellen Reformen herbeizuführen, und dass sich die Union für den Mittelmeerraum, durch die die Politik der EU in der Region gestärkt werden sollte, als nicht fähig erwies, dem wachsenden Misstrauen entgegen zu wirken und die grundlegenden Bedürfnisse der betroffenen Menschen zu erfüllen,

H. in der Erwägung, dass im Rahmen der Beziehungen der EU Partnerschaften mit autoritären Regimen und ihren führenden Politikern privilegiert und Gespräche mit der Zivilgesellschaft und den demokratischen Kräften in den südlichen Ländern des Mittelmeerraums vernachlässigt wurden,

I.   in der Erwägung, dass die Förderung und die Achtung der Demokratie, der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten grundlegende Prinzipien und Ziele der EU sind und im euro-mediterranen Raum gemeinsame, von allen unterstützte Werte darstellen müssen,

J.   in der Erwägung, dass es wiederholt die Aufhebung des seit 1967 fast ununterbrochen geltenden Ausnahmezustands, die Stärkung der Demokratie sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Ägypten gefordert hat,

K. in der Erwägung, dass der Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 31. Januar 2011 seine Unterstützung für ein demokratisches, pluralistisches und stabiles Ägypten als wichtigem Partner der EU eingedenk von dessen wesentlicher regionaler Rolle bekräftigte und sein Engagement bestätigte, durch eine Partnerschaft den ägyptischen Prozess des Wandels durch Mobilisierung, Erneuerung und Anpassung bestehender Instrumente zur Unterstützung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Reformen zu begleiten,

1.  unterstützt nachdrücklich die legitimen demokratischen Bestrebungen der Menschen in Ägypten und anderen arabischen Ländern, bekundet seine Solidarität mit friedlichen Demonstranten und verurteilt aufs Schärfste die Gewalttaten und all diejenigen, die Gewalt anwenden und fördern sowie versuchen, die Lage zu destabilisieren;

2.  bedauert zutiefst die große Zahl von Toten und Verletzten während der Demonstrationen und spricht den Familien der Opfer sein Mitgefühl aus;

3.  fordert den Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak und vertritt die Auffassung, dass dies den Übergangsprozess vorbereiten und erleichtern würde, der zur Bildung einer Interimsregierung unter Einbeziehung aller demokratischen Kräfte und Akteure der Zivilgesellschaft führen sollte, um sofortige, konkrete und entscheidende Maßnahmen wie politische, institutionelle und konstitutionelle Reformen, die Aufhebung des Notstands und die Organisation freier und fairer Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu gewährleisten;

4.  fordert die ägyptischen Behörden auf, die Ausübung des Rechts auf friedliche Demonstration zu garantieren und sicherzustellen, dass die Strafverfolgungsbehörden vom Einsatz unnötiger und übermäßiger Gewalt gegen Demonstranten absehen; erinnert die ägyptischen Behörden und Sicherheitskräfte an ihre Verpflichtung, die Sicherheit aller Bürger zu gewährleisten;

5.  fordert die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Gesinnungshäftlinge, friedlichen Demonstranten ebenso wie ägyptischen und internationalen Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Anwälte, die unter Missachtung der internationalen Verpflichtungen Ägyptens und eindeutig entgegen der vom ägyptischen Vizepräsidenten, Omar Suleiman, eingegangenen Verpflichtungen festgenommen wurden; fordert die ägyptischen Behörden diesbezüglich auf, unverzüglich den Aufenthaltsort der Inhaftierten bekannt zu geben und sicherzustellen, dass sie vor jeglicher Form von Folter oder sonstiger Misshandlung geschützt werden;

6.  fordert die ägyptischen Behörden auf, die Kommunikationsnetzwerke, darunter Internet und Mobilfunk, vollständig wiederherzustellen und von deren Zensur abzusehen, und verurteilt aufs Schärfste alle Handlungen, durch die Journalisten eingeschüchtert, angegriffen und schikaniert werden;

7.  fordert die Telefongesellschaften innerhalb und außerhalb Ägyptens auf, verantwortungsvoll zu handeln, um die freie Meinungsäußerung und die Privatsphäre zu wahren und dazu alle zweckdienlichen Schritte zu unternehmen, um eine Komplizenschaft in Bezug auf Verstöße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die freie Entgegennahme und Weiterleitung von Informationen zu vermeiden;

8.  kritisiert nachdrücklich die seit 25. Januar 2011 verzeichneten massiven und gravierenden Menschenrechtsverletzungen; fordert den UN-Menschenrechtsrat auf, eine Sondersitzung zur Lage in Ägypten abzuhalten;

9.  fordert die Einsetzung eines unabhängigen Ausschusses zur Untersuchung der Fälle von Missbrauch seitens der Sicherheitskräfte und des übermäßigen Gewalteinsatzes sowie zur Strafverfolgung der für derartige Taten Verantwortlichen im Rahmen eines fairen Verfahrens; hebt die Rolle hervor, die UN-Menschenrechtsmechanismen diesbezüglich spielen können, und fordert die unverzügliche Entsendung von Teams zur Überwachung der Menschenrechtssituation nach Ägypten;

10. fordert umfangreiche und effiziente Unterstützung der EU für den demokratischen Wandel sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Ägypten, darunter die Förderung der Rechte von Frauen, auch in weiteren betroffenen südlichen Nachbarstaaten durch die Mobilisierung, Überprüfung und Anpassung bestehender EU-Instrumente, die auf die Unterstützung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Reformen ausgerichtet sind;

11. begrüßt in diesem Zusammenhang die konstruktive Erklärung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der eine Übergangsregierung in Ägypten gefordert hat, die den Übergang zur Demokratie erleichtern und weiteres Chaos verhindern soll;

12. begrüßt den Beschluss bzw. die Regelung des Rates vom 7. Februar 2011, durch die Vermögenswerte im Besitz oder unter der Kontrolle von Personen eingefroren werden, die als verantwortlich für die Veruntreuung staatlicher Gelder in Tunesien angesehen werden, was auch für mit ihnen in Verbindung stehende Personen gilt, und fordert den Rat auf, in Bezug auf Ägypten die gleichen Maßnahmen zu beschließen;

13. fordert die Anna-Lindh-Stiftung der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft als Institution der EU für den Mittelmeerraum auf, unverzüglich eine aktive Rolle dabei zu übernehmen, die Zivilgesellschaft in der euro-mediterranen Region für die Förderung von Bürgerengagement, Mitwirkung, Menschenrechten und Demokratie durch Dialog und Austausch zwischen Jugendlichen aus europäischen und mediterranen Partnerländern und insbesondere arabischen Ländern zu mobilisieren;

14. betont, dass die derzeitige strategische Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik sowie die weitere Gestaltung der Beziehungen der EU zu ihren südlichen Nachbarländern den aktuellen Entwicklungen in der Region umfassend Rechnung tragen bzw. sie widerspiegeln muss; weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die vorhandenen Aktionspläne radikal im Hinblick auf die Aufnahme klarer Prioritäten und Anreize in Bezug auf politische Reformen überarbeitet werden müssen;

15. vertritt die Auffassung, dass es daher äußerst wichtig und dringend ist, die Strategie der EU gegenüber dem Mittelmeerraum zu überdenken und zu überarbeiten, und dass eine neue Strategie der Verstärkung des politischen Dialogs und der Unterstützung aller demokratischen Kräfte, einschließlich der Akteure der Zivilgesellschaft, dienen sollte; fordert den Rat in diesem Sinne auf, politische Kriterien vorzugeben, die ENP-Länder erfüllen müssen, damit ihnen ein „fortgeschrittener Status“ eingeräumt wird;

16. fordert den Rat und die Kommission auf, die Europäische Nachbarschaftspolitik für die südlichen Anrainerstaaten zu überprüfen und so Mittel und Unterstützung für einen wirklich demokratischen Übergang zu liefern und die Grundlage für tiefgreifende politische und institutionelle Reformen zu schaffen; fordert, dass bei der Überprüfung der Nachbarschaftspolitik Kriterien Vorrang eingeräumt werden muss, die sich auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Achtung der Grundfreiheiten und die Bekämpfung der Korruption beziehen;

17. erachtet die Rolle als wesentlich, die EU-Finanzinstrumente im Bereich der Außenbeziehungen, insbesondere ENPI, EIDHR sowie das Instrument für Stabilität, für die Region in diesem Zusammenhang spielen können, und fordert deren Verstärkung, damit sie unter diesen außergewöhnlichen Umständen effektiv und konsistent genutzt werden können; betont außerdem, dass unverzüglich die Frage steigender Lebensmittelpreise und der Ernährungssicherheit und Entwicklung des ländlichen Raums im allgemeinen angegangen werden muss;

18. bekundet gegenüber Ägypten seine Unterstützung und Erwartung, dass das Land weiterhin eine aktive und konstruktive Rolle bei Maßnahmen übernimmt, die auf eine dauerhafte Friedenslösung im Nahen Osten abzielen, unter besonderer Berücksichtigung des israelisch-palästinensischen Konflikts und der Aussöhnung der Palästinenser;

19. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der ägyptischen Regierung, der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum, der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte und dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zu übermitteln.