Rede
des Präsidenten des Europäischen Parlaments
José María GIL-ROBLES
vor dem Europäischen Rat
am Freitag, den 11. Dezember 1998
in Wien

Gesprochenes Wort


Sehr geehrte Herren Staats- und Regierungschefs,

es ist mir eine Genugtuung, wieder einmal im Namen des Parlaments zu Ihnen zu sprechen, um Ihnen unsere Standpunkte zu den Fragen darzulegen, die Gegenstand Ihrer Tagung heute und morgen sein werden.

Zuvor möchte ich der österreichischen Präsidentschaft für ihre Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament danken; diese Zusammenarbeit war wegen der vielen und komplexen Aufgaben, die die Union in den nächsten Monaten bewältigen muß, nicht immer eine leichte Aufgabe.

Beschäftigung

Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung sind weiterhin blutende Wunden des sozialen Gefüges in Europa. In Luxemburg haben sich die Europäischen Union und ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu koordinieren. Die gewählte Methode erweist sich als funktionsfähig. Die nationalen Aktionspläne haben der Beschäftigungspolitik in allen Mitgliedstaaten einen neuen politischen Impuls gegeben, und es ist ein gemeinsames Engagement vorhanden, die von allen Beteiligten vereinbarten beschäftigungspolitischen Zielvorgaben auf transparente Weise umzusetzen.

Allmählich zeichnen sich positive Ergebnisse ab. Seit Anfang Januar wurden in der Europäischen Union 1,7 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, und erstmals seit 1992 ist die Arbeitslosenrate zurückgegangen und sank im vergangenen Oktober sogar unter die Schwelle von 10%.

Allerdings traten im ersten Jahr einige Schwachstellen auf, die jetzt der Korrektur bedürfen. Das Europäische Parlament hat zu den von der Kommission vorgeschlagenen Leitlinien eine detaillierte Entschließung angenommen, die hier nicht Punkt für Punkt analysiert werden kann. Ich möchte nur einige Punkte der Entschließung herausstellen:

  • die neuen Leitlinien müssen sich auf Vorbeugung und Beteiligung als Schlüsselkonzepte der Beschäftigungspolitik stützen;
  • das vom Binnenmarkt gebotene Potential muß durch Fortführung der Strukturreformen in den Bereichen Produktion und Arbeitsmarkt ausgeschöpft werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und des Handels in der Union zu verbessern;
  • dazu sind Investitionen in den Bereichen Bildung, Berufsbildung sowie Forschung und Entwicklung erforderlich; gleichzeitig ist ein starker Bestand von kleinen und mittleren Unternehmen zu entwickeln;
  • in sämtliche Leitlinien ist eine horizontale Politik zur Verwirklichung der Chancengleichheit von Männern und Frauen einzubeziehen, und es muß eine eindeutige Verpflichtung eingegangen werden, die zwischen den Geschlechtern bestehenden Unterschiede innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren auf die Hälfte zu verringern;
  • gleichzeitig müssen die Maßnahmen zur Eingliederung von Behinderten in den Arbeitsmarkt eine horizontale Ausrichtung erhalten, und ferner ist ein besserer Ausgleich zwischen der Wiedereingliederung von ausgegrenzten Personen und der Vorbeugung der Langzeitarbeitslosigkeit zu schaffen.

Ich vertraue darauf, daß der Europäische Rat die Überlegungen und Vorschläge des Parlaments aufgreift, mit denen die von den Regierungen Spaniens und des Vereinigten Königreichs vorgelegten Empfehlungen verstärkt werden.

Koordinierung innerhalb der Finanzgremien

Damit der Binnenmarkt und die einheitliche Währung ein größeres Gewicht der Union auf der internationalen Bühne bewirken können, müssen die Mitgliedstaaten mit einer einzigen Stimme sprechen.

Das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung vom 25. November dieses Jahres (Bericht Herman) den Vorschlag der Kommission unterstützt, daß die Euro-Zone innerhalb der internationalen Wirtschafts- und Finanzforen durch drei Gremien - den Rat, die Kommission und die Europäische Zentralbank - vertreten werden soll.

Der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister entschied sich am 1. Dezember nicht für diese Lösung, sondern begrenzte die Rolle der Kommission auf eine rein technische Unterstützung. Ich befürchte, daß wir wieder einmal den Ansprüchen einiger Mitgliedstaaten, die sich einen privilegierten Status innerhalb der Union verschaffen wollen, Vorrang vor der Notwendigkeit eines koordinierten und wirksamen Vorgehens nach außen einräumen.

Die Union braucht keine Aristokratie von G 7-Staaten oder IWF-Staaten, sondern ein gemeinschaftliches, einfaches und verständliches System der Vertretung in diesen Foren. Doch vor allem muß das System, für das man sich entscheidet, demokratisch sein. Deshalb hat das Parlament gefordert, über das Ergebnis der Sitzungen, über die laufenden Arbeiten und über alle auf Gemeinschaftsebene angenommenen Positionen vor ihrer Verkündigung unterrichtet zu werden.

Dies ist das Minimum, das man fordern muß, damit kein Demokratiedefizit auf diesem Gebiet aufkommt. Die gefaßten Beschlüsse werden die Situation der Europäer nachhaltig beeinflussen, und das mindeste, was sie verlangen können, ist eine angemessene Unterrichtung über das Organ, das sie auf demokratische Weise vertritt: das Europäische Parlament.

Aus dem gleichen Grunde muß ich noch einmal - zwei Wochen vor Inkrafttreten des Euro - darauf hinweisen, daß immer noch keine demokratische Kontrolle der wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen gegeben ist, die die einheitliche Währung mit sich bringen wird, d.h. der jährlichen Grundzüge der Wirtschaftspolitik und des Beschlusses über übermäßige Defizite. Damit diese Beschlüsse von den Bürgern akzeptiert werden, ist die entfernte und formale Legitimität, die die Verträge dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister verleihen, nicht ausreichend; notwendig ist die unmittelbare und wirkliche Legitimität, die nur die Beteiligung des Europäischen Parlaments - wenn auch nur im Wege der Konsultation - ihnen geben kann.

Agenda 2000

Entsprechend den Schlußfolgerungen des Gipfels von Cardiff hat das Europäische Parlament wichtige Fortschritte bei der Prüfung der 19 Hauptvorschläge im Paket der Agenda 2000 erzielt.

In seiner Plenartagung vom November schloß das Parlament die erste Lesung von drei Dokumenten zur Vorbeitrittsstrategie ab; behandelt wurden fern fünf Dokumente im Zusammenhang mit der Strukturpolitik, ein Vorschlag zur Unterstützung der ländlichen Entwicklung, eine allgemeine Entschließung zur Reform der GAP sowie die Vorschläge zur Finanzierung der transeuropäischen Netze und zum Garantiefonds für externe Maßnahmen. Im Januar wird sich das Parlament zu den sechs verbleibenden Vorschlägen für den Bereich der Landwirtschaft äußern.

Das Europäische Parlament hat von Beginn an unterstrichen, daß das Paket der Agenda 2000 ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt, und zwar sowohl aus strategischen als auch aus politischen und finanziellen Gründen. Von strategischer Bedeutung ist das Paket deshalb, weil sämtliche Vorschläge auf das allgemeine Ziel gerichtet sind, die Erweiterung der Union zu ermöglichen; von politischer Bedeutung ist es deshalb, weil unbedingt ein umfassender Konsens herbeigeführt werden muß, und seine finanzielle Bedeutung liegt darin, daß zum einen die Reform der Strukturfonds und die Reform der GAP die unerläßliche Vorbedingung sind, damit eine Vereinbarung über die Finanzielle Vorausschau herbeigeführt wird, und zum anderen die Union über ausreichende Mittel verfügen muß, und zwar nicht nur, um die Erweiterung zu ermöglichen, sondern auch um ihre eigenen politischen Prioritäten respektieren zu können.

Ein Mehr an Union mit weniger Haushaltsmitteln ist undenkbar. Genausowenig ist es möglich, an den derzeitigen Gemeinschaftspolitiken festzuhalten und gleichzeitig die Haushaltsmittel kontinuierlich zu kürzen. Diese Politik der Kürzungen ist keineswegs intelligent. Die Gemeinschaftspolitiken dürfen nicht unter dem Aspekt der Ausgaben gesehen werden, sondern sie sind eine Investition, die außerdem für alle ihre Mitglieder sehr rentabel ist.

Es heißt, daß unser mittelalterlicher Held - der Cid Campeador - eine Schlacht noch nach seinem Tode gewonnen hat. Einen ähnlichen Heldenruhm erlangt offensichtlich der "Thatcherismus", dessen Forderungen nach Rückerstattungen ("I want my money back") und einer Beschränkung der Union auf einen reinen Markt von Regierungen aufgegriffen werden, die dem "Thatcherismus" in der Theorie feindlich gesinnt sein müßten.

Diese Position war nicht die des Europäischen Parlaments, und deshalb gibt es ernsthafte Meinungsverschiedenheiten mit dem Rat und der Kommission. Die Meinungsunterschiede machen umfassende Verhandlungen vor dem Monat März des nächsten Jahres erforderlich. Es freut mich, daß es nach langmonatigen Gesprächen mit der britischen und der österreichischen Präsidentschaft endlich gelungen ist, einen informellen und getrennten Dialog über die gemeinschaftliche Agrarpolitik, die Strukturfonds und die Mittel für die Vorbereitung des Beitritts einzuleiten. Ich betone jedoch, daß der Dialog nicht ausreicht. Es wird notwendig sein, zu wirklichen Verhandlungen überzugehen, wenn für März Ergebnisse gewünscht werden.

Die Erweiterung der Union

Wir alle sind uns darüber einig, daß die Erweiterung der Europäischen Union eine unserer größten Herausforderungen ist. Das Europäische Parlament ist deshalb erfreut darüber, daß die Europäische Kommission vor kurzem bekräftigt hat, daß wir nicht vor einem Verhandlungsprozeß mit aufeinanderfolgenden "Wellen" von Kandidatenländern stehen und daß die Verhandlungen mit jedem Bewerberland zum gegebenen Zeitpunkt und mit der jeweils gebotenen Geschwindigkeit geführt werden.

Dies ist die einzige Art und Weise, um die Glaubwürdigkeit eines Erweiterungsprozesses zu gewährleisten, der gleichzeitig dynamisch, flexibel, offen und transparent sein muß. Das Europäische Parlament wird eine wichtige Rolle erfüllen, um diese Transparenz zu gewährleisten. Unsere Institution pflegt aktive Beziehungen zu den entsprechenden Organen der Bewerberländer. Ich hatte die Gelegenheit, vor einigen Wochen in einer Sitzung der Präsidenten der Parlamente der Bewerberländer den Vorsitz zu führen, und in dieser Sitzung kam deutlich zum Ausdruck, daß es für sie wichtig ist zu wissen, daß die Europäische Union wirklich an ihrer Seite arbeitet, um einen zwar abgestuften, jedoch transparenten Beitrittsprozeß zu ermöglichen. Außerdem bekundete man mir gegenüber die Überzeugung, daß die Parlamente der Bewerberländer in die Debatten über die künftige institutionelle Struktur der Union einbezogen werden müßten.

Ich würde es für sinnvoll halten, daß der Europäische Rat in regelmäßigen Abständen die von den einzelnen Ländern, denen der Anspruch auf Beitritt zuerkannt worden ist, erzielten Fortschritte prüft und daß Mitte des Jahres 1999 die Verhandlungen mit einigen der betroffenen Länder aufgenommen werden, damit man wirklich behaupten kann, daß der Prozeß der Erweiterung schrittweise sämtliche Länder einbezieht.

Gemeinsame Verteidigungspolitik

Sehr geehrte Herren Präsidenten und Premierminister,

die vor kurzem gemeinsam vom Vereinigten Königreich und von Frankreich abgegebene Erklärung war der Gipfelpunkt einer Reihe von Sitzungen, die auf eine Wiederbelebung des Interesses an der Verwirklichung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik abzielen.

Das Europäische Parlament hat das Thema in seiner Entschließung vom 14. Mai 1998 (Bericht Tindemans) ausführlich geprüft. Viele der in diesem Text dargelegten Standpunkte finden sich in der vorstehend genannten Erklärung und in den späteren Tagungen nach Pörtschach wieder.

Damit wird ein Fenster der Hoffnung auf die effektive praktische Umsetzung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union geöffnet, die nach Artikel 17 des Vertrags von Amsterdam die gemeinsame Verteidigungspolitik einschließt. Ich halte es für notwendig, daran zu erinnern, daß sich der diesbezügliche institutionelle Rahmen der Union nicht auf den Europäischen Rat, den Rat "Allgemeine Angelegenheiten" und Sitzungen der Verteidigungsminister beschränkt, sondern auch das Europäische Parlament einschließt. Das Parlament muß von der Präsidentschaft konsultiert werden, die es kontinuierlich zu unterrichten und darüber zu wachen hat, daß seine Standpunkte berücksichtigt werden (Artikel 21 des Vertrags von Amsterdam).

Wie ich an anderer Stelle bereits hervorgehoben habe, hat das Europäische Parlament nicht auf das Inkrafttreten des Vertrags gewartet, um mit den notwendigen Überlegungen über die Materie zu beginnen.

Subsidiarität

Was das Subsidiaritätsprinzip betrifft, möchte ich hervorheben, daß das Europäische Parlament über keinen der betreffenden Vorschläge unterrichtet worden ist, was vermuten läßt, daß es nicht darum geht, auf der Tagung des Europäischen Rates heute und morgen irgendeine Regelung festzulegen, und daß jedwede neue diesbezügliche Vorschrift nach dem üblichen Gemeinschaftsverfahren behandelt werden wird, damit sie für die übrigen Institutionen der Union rechtsverbindlich ist.

Gemeinsames Wahlgesetz und Statut der Abgeordneten

Das Europäische Parlament hielt es für notwendig, zwei im Vertrag von Amsterdam vorgesehene Initiativen in Gang zu bringen. Die erste Initiative - ein Entwurf für ein einheitliches Verfahren zur Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments - wurde am 17. September an den Rat überwiesen. Die zweite Initiative - der Entwurf eines Statuts der Abgeordneten - wurde vor wenigen Tagen an den Rat verwiesen.

Diese Tagung ist nicht der geeignete Rahmen, um auf Einzelheiten einzugehen. Ich werde mich auf den Hinweis beschränken, daß es in beiden Fällen darum geht, die parlamentarische Institution Europas zu stärken. Mit dem ersten Text sollen die aus der übermäßigen Ungleichheit der Wahlsysteme resultierenden Dysfunktionen vermieden werden, und der zweite Text zielt darauf ab, unvertretbare Diskriminierungen zwischen den Mitgliedern des Europäischen Parlaments aufgrund der Staatsangehörigkeit zu beseitigen, wobei man außerdem ein für die Bürger völlig transparentes System schaffen will.

Ich hoffe und ich vertraue darauf, daß der Europäische Rat dem Rat "Allgemeine Angelegenheiten" die Anweisung erteilt, unverzüglich mit der Prüfung der beiden Vorschläge und erforderlichenfalls mit den Verhandlungen über die endgültigen Texte zu beginnen, damit sie unmittelbar mit Inkrafttreten des Vertrags unter vorschriftsgemäßer Mitwirkung der Kommission förmlich verabschiedet werden.

Meine Herren Präsidenten und Premierminister, wir befinden uns in einem Augenblick, in dem die Aufgaben der Union ohne Verzug, mit der unerläßlichen Zusammenarbeit der europäischen Bürger über ihr Parlament und in einem wirklichen Gemeinschaftsgeist angegangen werden müssen. Bei dieser Arbeit können sie auf das Parlament bauen, das ich hier vertrete.

Vielen Dank


© Europäisches Parlament: 11. Dezember 1998