Bericht - A6-0014/2004Bericht
A6-0014/2004

BERICHT über den Jahresbericht der Europäischen Zentralbank 2003

12.10.2004 - (2004/2144(INI))

Ausschuss für Wirtschaft und Währung
Berichterstatter: Alain Lipietz


Verfahren : 2004/2144(INI)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A6-0014/2004
Eingereichte Texte :
A6-0014/2004
Aussprachen :
Abstimmungen :
Angenommene Texte :

ENTWURF EINER ENTSCHLIESSUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

zu dem Jahresbericht der Europäischen Zentralbank 2003

(2004/2144(INI))

Das Europäische Parlament,

–   in Kenntnis des Jahresberichts der Europäischen Zentralbank 2003,

–   gestützt auf Artikel 113 des EG-Vertrags,

–   gestützt auf Artikel 15 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank,

–   unter Hinweis auf seine Entschließung vom 2. April 1998 zur demokratischen Rechenschaftspflicht in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)[1],

–   unter Hinweis auf seine Entschließung vom 3. Juli 2003 zum Jahresbericht der Europäischen Zentralbank 2002[2],

–   unter Hinweis auf seine Entschließung vom 26. Februar 2004 über die Lage der Europäischen Wirtschaft, Bericht über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik[3],

–   unter Hinweis auf seine Entschließung vom 22. April 2004 zu der Empfehlung der Kommission für die 2004 aktualisierten Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft (im Zeitraum 2003-2005)[4],

-    unter Hinweis auf den Bericht des Rechnungshofes vom 14. und 15. Januar 2004 betreffend die Prüfung der Effizienz der Verwaltung der Europäischen Zentralbank im Haushaltsjahr 2002[5],

-    in Kenntnis der Beschlüsse der Europäischen Zentralbank vom 19. Februar 2004 zur Verabschiedung der Geschäftsordnung der Europäischen Zentralbank[6] und vom 17. Juni 2004 zur Verabschiedung der Geschäftsordnung des Erweiterten Rates der Europäischen Zentralbank[7]

-    unter Hinweis auf die Wirtschaftsvorausschätzungen der Europäischen Kommission vom Frühjahr 2004,

-    gestützt auf Artikel 106 und 112 Absatz 1 seiner Geschäftsordnung,

-    in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Währung (A6-0014/2004),

A. unter Anerkennung der völligen Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB),  

B.  in der Erwägung, dass die wesentliche Aufgabe der EZB und des ESZB darin besteht, die Preisstabilität zu wahren und die allgemeinen Wirtschaftspolitiken der Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen, wie dies in Artikel 2 des Vertrags festgelegt worden ist,

C. in der Erwägung, dass das Jahr 2003 von einer starken Belebung der internationalen Wirtschaft geprägt war, die insbesondere von den Vereinigten Staaten von Amerika und Asien angetrieben wurde (weltweites BIP-Wachstum: 3,7%),

D. in der Erwägung, dass im Jahre 2003 das BIP der EU lediglich um 0,8% gestiegen ist und dasjenige der Eurozone um 0,4%; in der Erwägung ferner, dass die Preissteigerungsrate im Eurogebiet einen historisch niedrigen Stand erreicht hat (2,1% im Vergleich zu 2,3% im Jahre 2002); dass der kumulierte Liquiditätsüberschuss mit einem starken M3-Wachstum bei 7,1% lag, während die EZB 4,5% anvisiert hatte; dass sich die Haushaltslage weiter verschlechtert hat und zu einem durchschnittlichen Haushaltsdefizit von 2,7% des BIP der Eurozone führte (im Vergleich zu 2,3% im Jahre 2002); dass die Kreditvergabe an den Privatsektor erheblich zugenommen hat und die Arbeitslosigkeit stabil geblieben ist,

E.  in der Erwägung, dass die EZB am 8. Mai 2003 angekündigt hat, dass mittelfristig die Preissteigerungsrate (HVPI) unter, aber nahe bei 2% zu halten ist;

F.  in der Erwägung, dass in Artikel 10 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank der EZB-Rat nicht aufgefordert wird, seine Beschlüsse durch Abstimmung zu fassen, sondern dass dieser Artikel lediglich die Abstimmungsverfahren verdeutlicht,

G. in der Erwägung, dass in Artikel 10 Absatz 4 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank festgelegt wird, dass die Protokolle der Sitzungen vertraulich sein sollen, dass aber der EZB-Rat beschließen kann, die Ergebnisse seiner Beratungen zu veröffentlichen,

H. in der Erwägung, dass ab dem 1. Mai 2004 die EU-Erweiterung große Herausforderungen für die WWU, die EZB und das ESZB darstellt; in der Erwägung ferner, dass die nationalen Zentralbanken der neuen Mitgliedstaaten den Wechselkursmechanismus II der Zentralbank-Vereinbarung unterzeichnet haben,

I.   in der Erwägung, dass die estnische Krone, die litauische Lita und der slowenische Tolar am 28. Juni 2004 dem Wechselkursmechanismus II beigetreten sind,

J.   in der Erwägung, dass in einigen Mitgliedstaaten eine Diskussion über den Nutzen kleinwertiger Euro-Münzen entstanden ist, und dass nunmehr befürchtet wird, dass die Einziehung dieser Münzen aufgrund missbräuchlicher Aufrundungspraktiken zu zusätzlichem Inflationsdruck führen könnte,

1.  begrüßt den neuen Präsidenten der EZB;

2.  vertritt die Ansicht, dass die europäische Währungsunion nach fünf Jahren als sehr erfolgreich bezeichnet werden kann, was im wesentlichen der Arbeit der Europäischen Zentralbank und ihres Vorläuferinstituts, des Europäischen Währungsinstituts, zu verdanken ist;

3.  bekundet seine Befriedigung darüber, dass die EZB ihre Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und dem Europäischen Parlament in Bezug auf die ihr durch die Verträge übertragenen unterschiedlichen Zielsetzungen umfassend anerkannt hat (Jahresbericht 2003, Kapitel 5);

4.  begrüßt die historisch niedrigen Inflationsraten im Eurogebiet; vertritt die Auffassung, dass die EZB richtig auf die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwicklungen im Jahre 2003 reagiert hat; weist darauf hin, dass sie auch weiterhin aufmerksam beobachten sollte, wie schnell die Märkte auf ihre Entscheidungen reagieren oder diese unberücksichtigt lassen;

5.  stellt fest, dass die wiederholte Senkung der Zinssätze noch nicht von den Banken an die Kunden weitergegeben werden ist bzw. diese Weitergabe mit erheblichem Zeitverzug erfolgte;

6.  vertritt ferner die Auffassung, dass die relative Schwäche der Wirtschaftstätigkeit im Eurogebiet im Jahre 2003 nicht das Ergebnis eines mangelhaften Vertrauens in die Währungsstabilität ist, sondern eher auf fehlende Strukturreformen und auf die im Vergleich zu anderen Teilen der Welt geringen Arbeitszeiten zurückzuführen ist;

7.  begrüßt den von der EZB am 8. Mai 2003 gefassten Beschluss bezüglich einer Inflationsrate von "unter, aber nahe bei 2%" als ein Signal der Politik der EZB, Währungsstabilität zu gewährleisten, ohne Deflationsdruck hinzunehmen;

8.  vertritt die Auffassung, dass die EZB mit der im Laufe des Jahres 2003 praktizierten Währungspolitik das auf dem Europäischen Gipfel vom 23. und 24. März in Lissabon formulierte Ziel der Vollbeschäftigung unterstützt hat; teilt die Auffassung der EZB, dass die Strukturreformen schneller vorangetrieben werden müssen, um jene Wachstumsraten zu erreichen, die es uns ermöglichen, die Ziele von Lissabon umzusetzen;

9.  anerkennt, dass das oberste Ziel der EZB darin besteht, Preisstabilität zu gewährleisten, da die EZB mit Hilfe der Preisstabilität zur Erreichung des in der Strategie von Lissabon festgelegten Ziels der Vollbeschäftigung beitragen kann;

10. anerkennt, dass der Bezugswert für das Geldmengenwachstum nicht auf Jahresbasis überprüft werden wird, wodurch der längerfristige Charakter dieses Bezugswertes hervorgehoben wird; vertritt jedoch die Auffassung, dass dies nicht als Abschaffung der relativen Bedeutung des M3-Währungsaggregats betrachtet werden sollte;

11. weist nachdrücklich darauf hin, dass die Rechenschaftspflicht der EZB ein hohes Maß an Transparenz beim Beschlussfassungsprozess bedingt; fordert die EZB auf, die Möglichkeit einer Veröffentlichung von Zusammenfassungen der Protokolle zu prüfen;

12. wiederholt seine Forderung nach einer jährlichen Veröffentlichung eines Überblicks über die Tendenzen, und zwar nicht nur nach Ländern, sondern auch nach Regionen und grenzüberschreitend, vergleichbar dem „beige book“ der US-Bundesbank, wodurch die EZB die Möglichkeit erhielte, die Diskussion über Produktivitätstendenzen und über die Erwartungen in Bezug auf Preise und Löhne zu beeinflussen;

13. lobt die Politik des ESZB, sich auf die Wahrung der Preisstabilität zu konzentrieren und nicht, wie von verschiedenen Wirtschaftsfachleuten vorgeschlagen, Politikansätze zu verfolgen, die kurzfristig vielleicht zu Rückgängen bei den Arbeitslosenzahlen führen können, von denen aber bekannt ist, dass sie mittel- und langfristig zu einer Steigerung der Inflation und der Arbeitslosigkeit führen;

14. ist der Ansicht, dass der währungspolitische Dialog zwischen dem Europäischen Parlament und der EZB erfolgreich gewesen ist; betont, dass diese Aussprachen die Währungspolitik für die Öffentlichkeit transparenter und zugänglicher werden lassen; fordert die EZB daher auf, diesen Dialog mit dem Parlament auszuweiten und ihre Öffentlichkeitsarbeit fortzusetzen, um die Identifikation der Bürger mit dem Euro weiter zu stärken;

15. begrüßt den Beitritt der Währungen von Estland, Litauen und Slowenien zum Wechselkursmechanismus II und befürwortet eine Einführung des Euro durch alle alten und neuen Mitgliedstaaten, und betont, dass dazu sowohl die erfolgreiche Teilnahme am Wechselkursmechanismus II als auch die Erfüllung der Konvergenzkriterien erforderlich sind; vertritt die Auffassung, dass diese Erfüllung der Konvergenzkriterien so zu verstehen ist, wie sie 1997 für die ersten Teilnehmer gegolten hat; vertritt die Auffassung, dass bezüglich der Einführung des Euro und der Erfüllung der Konvergenzkriterien alle neuen Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden müssen;

16. beglückwünscht die EZB zu dem neuen Format ihres Jahresberichts 2003 und zu den Änderungen an ihrer Homepage;

17. vertritt die Ansicht, dass die EZB ihren Haushaltsplan ordnungsgemäß verwaltet hat, und unterstützt den Prüfbericht des Rechnungshofs 2002;

18. bekräftigt den Standpunkt des Europäischen Parlaments, dass die EZB eine aufsichtsrechtliche Überwachung der Banktätigkeiten der Europäischen Investitionsbank ausüben sollte;

19. vertritt die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten müssen, dass alle Stückelungen von Banknoten und Münzen, insbesondere die Ein- und Zwei-Cent-Euromünzen sowie die 200-Euro- und 500-Euro-Banknoten, in allen Ländern der WWU angenommen werden;

20. bedauert die nach wie vor hohen Kosten von grenzüberschreitenden Zahlungen in Euro im Einzelhandel, und fordert die EZB auf, sich nachdrücklich für eine umfassende Umsetzung der entsprechenden Bestimmungen einzusetzen; unterstützt die Schaffung eines einheitlichen europäischen Zahlungsraumes;

21. fordert die EZB auf, Überlegungen zur zweiten Generation von Banknoten anzustellen; fordert die EZB ferner auf, sich überaus wachsam mit dem Problem von Fälschungen auseinander zu setzen und bei der Ausgestaltung einer neuen Generation von Banknoten die bisher gewonnenen Erfahrungen zu berücksichtigen;

22. weist das ESZB auf das Problem hin, das durch dessen Aufforderung an den Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden, im Bereich der Verrechnung und des Saldenausgleichs tätig zu werden, entstanden ist und wodurch Fakten geschaffen werden, lange bevor das demokratische Verfahren – unter Beteiligung des Europäischen Parlaments – in diesem Bereich überhaupt einsetzen kann;

23. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission und der EZB zu übermitteln.

BEGRÜNDUNG

Für gewählte Volksvertreter ist es stets ein schwieriges Unterfangen, die Tätigkeiten der Europäischen Zentralbank zu kommentieren, da Artikel 108 des Vertrags es verbietet, "zu versuchen...... zu beeinflussen"! Glücklicherweise sieht Artikel 113 eine allgemeine Aussprache des Europäischen Parlaments über den Jahresbericht der EZB vor, was auch der Gegenstand des vorliegenden Textes sein soll. Vor allem aber wird im Jahresbericht der EZB für 2003 der Grundsatz der Rechenschaftspflicht der EZB gegenüber dem Parlament nachdrücklich eingefordert (Kapitel 5, Seite 156). Wir werden den dritten Teil unseres Berichts diesem Grundsatz widmen.

Der Einladung der EZB folgend werden wir demnach in einem ersten Teil prüfen, inwieweit die bis Ende 2003 tatsächlich praktizierte Politik den Zielsetzungen gerecht wird, die der EZB von den Verträgen zugewiesen werden; anschließend werden wir in einem zweiten Teil die wichtigen Änderungen untersuchen, zu denen es im Jahre 2003 in der EZB-Doktrin gekommen ist. In einem vierten Teil werden wir uns mit verschiedenen Punkten der derzeitigen Diskussion zur Währungspolitik befassen.

I.         DER BEITRAG DER EZB ZU IHREN VERTRAGLICHEN ZIELSETZUNGEN

Gemäß Artikel 105 ist es „das vorrangige Ziel des ESZB (....), die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen“. Diese in Artikel 2 genannten Ziele (Förderung einer harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeiten, eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Niveaus an sozialer Absicherung, der Gleichheit zwischen Männern und Frauen, eines nachhaltigen und nichtinflationistischen Wachstums usw.) wurden auf den Gipfeltreffen von Lissabon (Ziel der Vollbeschäftigung auf der Grundlage der Wettbewerbsfähigkeit) und Göteborg (nachhaltige Entwicklung, Umsetzung des Kyoto-Abkommens) genauer gefasst. Die Preissteigerungsrate ihrerseits liegt seit dem zweiten Halbjahr 2003 nahe bei und etwas unter 2%, und dies trotz der wiederholten Schockeinwirkungen von außen (Anstieg der Erdöl- und Lebensmittelpreise). Obwohl das Ausbleiben von Auswirkungen dieser Schockeinwirkungen auf die Gehälter (und damit das Ausbleiben einer Inflationsspirale) im wesentlichen auf die vorhandenen Arbeitsmarktstrukturen zurückzuführen ist, muss doch die EZB für ihre Mitwirkung an dieser Stabilität beglückwünscht werden.

Andererseits ist im Berichtszeitraum 2003 eine „Eurozonen-Ausnahme“ festzustellen. Während der übrige Teil der Welt und selbst der restliche Teil der Union (im wesentlichen das Vereinigte Königreich) aus der Rezession herausgefunden hat (USA: + 3,1%; Japan: + 2,5%; Vereinigtes Königreich + 2,2% des BIP) weist die Wirtschaft des Eurogebiets im Vergleich zu 2002 eine zusätzliche Verlangsamung auf (BIP: + 0,4% nach + 0,9% im Jahre 2002). Diese sogenannte "Eurosklerose" mag vielfältige Ursachen haben (darunter auch demographische). Geht man aber davon aus, dass die Wirtschaftspolitik einen Einfluss ausübt, entweder in haushaltspolitischer oder in währungspolitischer Hinsicht (was die EZB anerkennt, wie weiter unten zu sehen sein wird), so muss man sich über die beeindruckende Tatenlosigkeit der europäischen Behörden im Vergleich zu den amerikanischen oder britischen wundern.

Unter Berücksichtigung der von der Ökonometrie festgestellten Reaktionsverzögerungen (zwischen 12 und 18 Monaten) müssen wir uns mit der Politik des Zeitraums Ende 2001 bis Anfang 2003 befassen. Die Vereinigten Staaten sind von einem ausgewogenen Haushalt in ein Defizit von mehr als 4% des BIP hineingerutscht; das Eurogebiet seinerseits ist von einem Defizit von 2,4% auf nunmehr 2,7% geklettert. Von Anfang 2001 bis Mitte 2003 sanken die Sätze der amerikanischen Bundessichteinlagen von 6,5 auf 1,5% bis auf reale Negativsätze; der Refinanzierungssatz der EZB sank dagegen nur von 4,5% auf 2%, bei einem konstanten Satz von 3,25% während des gesamten Jahres 2002. Über diesen ganzen Zeitraum hinweg blieben ihre Sätze zwischen 1% und 1,5% über denjenigen der amerikanischen Bundesbank.

Erst ab Dezember 2002 fing die EZB angesichts kritischer Hinweise sozioökonomischer Kreise (und sogar des Weltwährungsfonds) damit an, ihre Zinssätze angesichts des Risikos einer Deflation zu senken. Am 8. Mai 2003 gibt sie die dazugehörige theoretische Begründung, mit der wir uns eingehender beschäftigen wollen: Senkung der realen Zinssätze unter Inkaufnahme einer gewissen Inflation zur Vermeidung einer Deflation. Diese späte Kehrtwende muss begrüßt werden. Dabei muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass die Währungspolitik nicht die ganze Verantwortung für den verspäteten wirtschaftlichen Aufschwung im Eurogebiet hat.

a. Die Zinssätze waren nicht hoch genug, um Investitionen abzuhalten, vielleicht leider mit Ausnahme der von der Lissabon-Göteborg-Strategie eingeforderten langfristigen Investitionen (Forschung und Bildung, Energieeinsparungen).

b. Zum anderen hat die Umkehrung der USA/EU-Zinssatz-Hierarchie im Zeitraum 2002-2003 zu einer spektakulären Aufwertung des Euro geführt und damit zu einem Wettbewerbsverlust, zu dem die EZB in ihrem Jahresbericht 2003 einräumt, dass er den Anstieg der weltweiten Nachfrage gegenüber der EU im ersten Halbjahr 2003 (in Bezug auf die Ausfuhren) mehr als ausgeglichen hat. In diesem Punkt hat die EZB in Bezug auf ihren Auftrag, die Ziele von Lissabon zu unterstützen, klar versagt. Zum anderen muss allerdings festgestellt werden, dass die Ausrichtung der Wechselkurspolitik Sache des Rates ist (Artikel 111 bis 113).

c. Schließlich ist die Rigidität der Haushaltspolitik des Eurogebietes (die sich sogar von derjenigen des Vereinigten Königreiches unterscheidet) eindeutig das Ergebnis der prozyklischen Bestimmungen des Stabilitätspaktes. Schon im Oktober 2002 bezeichnete Präsident Prodi diesen Pakt als töricht, und in der Tat verzichtete der Rat im November 2003 darauf, den Pakt anzuwenden, nachdem alle großen Länder der Union (die 80% der europäischen Produktion ausmachen) sich geweigert hatten, ihn zu respektieren, während das Vereinigte Königreich und die USA die Defizitschwelle von 3% schon längst überschritten hatten.

Demnach müssen die Kommission und der Rat ermutigt werden, die Mechanismen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes so zu überarbeiten, dass die Haushaltspolitik eine kontrazyklische Ausrichtung erhält, wie dies im übrigen von der Kommission in ihrer Mitteilung vom 3. September 2004 vorgeschlagen wird.

II.       ÄNDERUNGEN AN DER EZB-DOKTRIN

Am 8. Mai 2003 und demnach mitten in einer Phase der Senkung ihrer Zinssätze trat die EZB mit den Änderungen ihrer Doktrin an die Öffentlichkeit.

a. Der sogenannte Wirtschaftspfeiler wird genauer gefasst. Während die EZB bislang von einem Inflationsziel ausging, das mittelfristig unter 2% liegt, peilt sie nunmehr einen Satz an, der mittelfristig unter, aber nahe bei 2% liegt. Dabei geht es nicht nur um einen Unterschied von 1% in Bezug auf das Inflationsziel. Überaus wichtig ist die theoretische Begründung. Die EZB spricht sich die Aufgabe zu, durch überaus niedrige oder gar negative reale Zinssätze zum wirtschaftlichen Aufschwung beizutragen, was nur mit hinreichend rasch ansteigenden nominalen Preisen möglich ist. Diese Einsicht der EZB (bei der es sich allerdings keineswegs um einen theoretischen Durchbruch handelt, wie wir weiter unten sehen werden) ist jedenfalls begrüßenswert.

b. Der sogenannte Währungspfeiler relativiert kurz- und mittelfristig das Gewicht der Währungsmasse M3 und die EZB wird künftig kein Jahresziel mehr veröffentlichen. Damit bestätigt sie letztlich eine allgemeine empirische Feststellung: Seit mehreren Jahren schon übt M3 keinerlei Einfluss mehr auf die Preise für Waren und Dienstleistungen aus. Die EZB ist für diese Entwicklung zu beglückwünschen.

Andererseits muss betont werden, dass der Liquiditätsüberschuss die Herausbildung sogenannter Inflationsblasen bei den Preisen anderer Finanz- oder Immobilienaktiva begünstigen kann. Dies wiederum wirft die (ebenfalls allgemeine) Frage nach einer fehlenden Steuerung der Darlehenspolitik auf.

Mit anderen Worten: Wie kann den Finanzakteuren und den Mitgliedstaaten der Union Geld zu sehr niedrigen oder gar negativen Sätzen zur Finanzierung der Investitionen mit langfristiger Rentabilität gemäß den in Lissabon bzw. Göteborg beschlossenen Politiken (Bildung und Forschung bzw. Energiewirtschaft) angeboten werden, ohne dass die dadurch geschaffene Liquidität die Spekulation zu den Aktiva begünstigt? Die EZB könnte gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank entsprechende Vorschläge vorlegen.

III.      DIE „RECHENSCHAFTSPFLICHT“ DER EZB

In Kapitel 5 wird ausdrücklich anerkannt, dass die EZB wie alle öffentlichen Einrichtungen gegenüber den Bürgern, in deren Auftrag sie handelt, für ihre Handlungen rechenschaftspflichtig ist. Gleichzeitig wird hier auch das Instrument zur Wahrnehmung dieses Grundsatzes richtig benannt: das Europäische Parlament. Gemeinsam mit der Erklärung vom 8. Mai handelt es sich hierbei um die beste Neuigkeit dieses Berichts!

Was aber ist genau unter diesem Begriff "rechenschaftspflichtig" zu verstehen? Dem EZB-Bericht zufolge scheint sich die Rechenschaftspflicht lediglich auf die Verpflichtung zur Beantwortung der Frage „Was haben Sie gemacht?" zu beschränken. Die demokratische Rechenschaftspflicht geht jedoch darüber hinaus. Sie befähigt die Bürgerinnen und Bürger, einzuwenden: "Das ist aber nicht das, worum man Sie gebeten hatte".

Dabei muss eingeräumt werden, dass beim derzeitigen Stand der Dinge die Verträge keine umfassende Wahrnehmung dieser demokratischen Rechenschaftspflicht ermöglichen. Selbst die Hierarchisierung der Aufträge der EZB (Kontrolle der Inflation - Vollbeschäftigung - nachhaltige Entwicklung) hat der EZB häufig als Argument dienen müssen, um sich der Ziele 2 und 3 zu entledigen. Wenn die Union will, dass die EZB tatsächlich zu diesen Zielsetzungen beiträgt, so muss sie dies energischer sagen und sich mit den Mitteln versehen, die es ihr ermöglichen, die Verfehlungen der Bank zu sanktionieren. Dazu könnte sie sich sinnvollerweise an der Satzung der Bundesbank der Vereinigten Staaten von Amerika inspirieren.

Bis dahin jedoch wird die EZB ihre guten Vorsätze in Bezug auf ihre Rechenschaftspflicht bestätigen müssen:

· Dazu muss sie der regelmäßigen Forderung des Parlaments, die ausgetauschten Argumente und die Abstimmungen zu den Beschlüssen zu veröffentlichen, in jeder Hinsicht entsprechen, damit wenigstens die besprochenen Argumente bekannt werden und man weiß, inwieweit über sie ein Konsens erzielt worden ist.

· Ebenso muss sie umfassend und ohne jede Arroganz an der Diskussion der sozioökonomischen und der akademischen Gemeinschaft teilnehmen. Während der vielen Monate zwischen 2001 und 2003, als die EZB sich weigerte, anzuerkennen, was sie am 8. Mai 2003 schließlich anerkannt hat, beschränkte sie sich beispielsweise auf die Antwort: „Der bestmögliche Beitrag der EZB zu Wachstum und Beschäftigung ist die Wahrung der Preisstabilität“. Dieser zumindest nonkonformistische Ansatz (demzufolge man sich der Vollbeschäftigung annähert, je mehr die Inflation zurückgeht), widerspricht der einhelligen Meinung der Wirtschaftswissenschaftler, derzufolge es einen trade off zwischen Inflation und Beschäftigung gibt, der durch die Negativseite der sogenannten "Philips-Kurve" ausgedrückt wird.

Es sei daran erinnert, dass die Bank von Saint-Louis wenigstens ein berühmtes Modell veröffentlicht und verteidigt hatte, um die Ablehnung der Erkenntnisse von J.M. Keynes zu rechtfertigen, auf die die Herren Greenspan, Rubin und Lammers im übrigen doch wieder zurückgekommen sind.

Eine ehrliche öffentliche Diskussion über das Verhältnis Inflation/Beschäftigung hätte es Europa zweifellos ermöglicht, wertvolle Zeit zu gewinnen, bevor die EZB anerkannt hat, dass für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung eine gewisse Inflation hingenommen werden muss. Die Behauptung, dass die beschäftigungsfördernde Inflationsrate in Europa bei 2% liege, bleibt im Übrigen noch zu beweisen.

IV.      DIE EUROPÄER UND DER EURO

Die Beziehungen zwischen den Europäern und dem Euro als materiellem Gegenstand sind nach wie vor problematisch:

a. Die Banken erheben immer noch Gebühren für Überweisungen und Schecks zwischen Ländern des Eurogebiets. Solange dieser Zustand anhält, wird es sich beim Euro nicht um eine wirklich „einheitliche Währung“ handeln.

b. In verschiedenen Ländern wird über die Abschaffung der kleinsten Münzen (1- oder 2- Cent-Münzen) diskutiert. Andere dagegen vertreten die Auffassung, dass auch der Euro-Cent bereits einen hinreichenden Wert für den täglichen Kleineinkauf darstellt, und gehen davon aus, dass ein Beginn der Münzstückelung bei der 5-Cent-Münze zu „Abrundungsfehlern“ und damit zu Preissteigerungen führen wird. Schon alleine diese Befürchtung reicht aus, um die Beibehaltung der 1-Cent-Münze als gesetzlichem Zahlungsmittel zu rechtfertigen. Gleichfalls wäre es nur legitim, dass angesichts einiger Länder, die gemäß ihren Gepflogenheiten große Stückelungen (500 Euro) erhalten haben, die Länder, die üblicherweise kleinere Stückelungen hatten (1 Euro), ebenfalls respektiert werden.

c. Für die erste Generation von Geldscheinen wurde auf jegliche Darstellung lebender Personen oder tatsächlich bestehender Landschaften oder Monumente verzichtet, zweifellos, um keine Eifersucht zwischen den Ländern aufkommen zu lassen. Das Ergebnis trägt mit Sicherheit zu den frostigen Beziehungen zwischen den Europäern und ihrer Währung bei. Kein anderes Land der Welt gibt Geldscheine heraus, auf denen Pflanzen, Tiere, Landschaften, Werke des menschlichen Geistes oder "große Persönlichkeiten" ausgeschlossen sind.

Jetzt ist die Zeit zum Umdenken gekommen, da die Europäer froh wären, auf ihren Geldscheinen Darstellungen eines gemeinsamen natürlichen, künstlerischen oder historischen Erbes wiederzufinden. Es erscheint daher angezeigt, erste Überlegungen zur zweiten Generation von Euro-Geldscheinen durchzuführen und darauf lebende Personen, europäische Landschaften oder Werke des menschlichen Geistes, Weltkulturerbe oder auch europäische Persönlichkeiten, die aufgrund ihres Beitrags zur europäischen Kultur konsensfähig sind, vorzusehen.

VERFAHREN

Titel

Jahresbericht der Europäischen Zentralbank 2003

Bezugsdokumente – Verfahrensnummer

2004/2144(INI)

Rechtsgrundlage

Artikel 113 EGV und Artikel 15 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank

Grundlage in der Geschäftsordnung

Artikel 106 und 112 Absatz 1

Datum der Konsultation des EP

23.4.2004

Federführender Ausschuss

ECON

         Datum der Bekanntgabe im Plenum

14.10.2004

Mitberatende(r) Ausschuss/Ausschüsse

 

 

 

 

 

         Datum der Bekanntgabe im Plenum

 

 

 

 

 

Nicht abgegebene Stellungnahme(n)

 

 

 

 

 

         Datum des Beschlusses

 

 

 

 

 

Verstärkte Zusammenarbeit

 

         Datum der Bekanntgabe im Plenum

 

In den Bericht aufgenommene Entschließung(en)

 

 

Berichterstatter(in/innen)

Alain Lipietz

         Datum der Benennung

28.7.2004

Ersetzte(r) Berichterstatter(in/innen)

Hans Blokland

Prüfung im Ausschuss

30.8.2004

21.9.2004

6.10.2004

 

 

Datum der Annahme

6.10.2004

Ergebnis der Schlussabstimmung

Ja-Stimmen:

23

 

Nein-Stimmen:

2

 

Enthaltungen:

13

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Pervenche Berès, Guntars Krasts, John Purvis, Zsolt László Becsey, Udo Bullmann, Ieke van den Burg, Paolo Cirino Pomicino, Gábor Demszky, Elisa Ferreira, Jean-Paul Gauzès, Benoît Hamon, Gunnar Hökmark, Ian Stewart Hudghton, Sophia Helena In 't Veld, Wolf Klinz, Kurt Joachim Lauk, Astrid Lulling, Gay Mitchell, Cristóbal Ricardo Montoro Romero, Joseph Muscat, Alexander Radwan, Bernhard Rapkay, Antolín Sánchez Presedo, Margarita Starkevičiūtė, Peter William Skinner, Sahra Wagenknecht, Lars Wohlin

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen)

Mia De Vits, Harald Ettl, Ján Hudacký, Ona Juknevičienė, Werner Langen, Alain Lipietz, Thomas Mann, Diamanto Manolakou, Poul Nyrup Rasmussen, Andreas Schwab, Karl von Wogau

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellv. (Art. 178 Abs. 2)

Datum der Einreichung - A6

12.10.2004

A6‑0014/2004

Anmerkungen