BERICHT über den Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Jean-Charles Marchiani
22.6.2005 - (2005/2105(IMM))
Rechtsausschuss
Berichterstatter: Francesco Enrico Speroni
VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
über den Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Jean-Charles Marchiani
Das Europäische Parlament,
– befasst mit einem von Jean-Charles Marchiani am 19. Mai 2005 übermittelten und am 26. Mai 2005 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Schutz seiner Immunität,
–
– gestützt auf die Artikel 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments,
– in Kenntnis der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Mai 1964 und vom 10. Juli 1986[1],
– gestützt auf Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 7 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Rechtsausschusses (A6‑0208/2005),
A. in der Erwägung, dass Jean-Charles Marchiani anlässlich der fünften Direktwahl vom 13. Juni 1999 ins Europäische Parlament gewählt wurde, dass sein Mandat am 15. Dezember 1999 vom Parlament geprüft wurde[2] und dass sein Mandat am 19. Juli 2004 ablief,
B. in der Erwägung, dass die französische Justizbehörde während des Zeitraums, in dem er Mitglied des Europäischen Parlaments war, einige Telefongespräche zwischen Jean-Charles Marchiani und anderen abhörte,
C. in der Erwägung, dass den Mitgliedern während der Dauer der Sitzungsperioden des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht[3],
D. in der Erwägung, dass im Sinne von Artikel 100‑7 der Strafprozessordnung der Französischen Republik an den Telefonleitungen der Abgeordneten und Senatoren keine Abhörmaßnahmen vorgenommen werden können, ohne dass der Präsident der Versammlung, welcher der Betreffende angehört, vom Untersuchungsrichter davon vorab unterrichtet worden ist,
E. in der Erwägung, dass der französische Kassationshof unter Missachtung des Grundsatzes, wonach das Gericht das Recht kennen muss, Artikel 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 in Bezug auf das Urteil Nr. 1784 vom 16. März 2005 nicht angewandt und damit Jean-Charles Marchiani die in Artikel 100‑7 der Strafprozessordnung den inländischen Parlamentsmitgliedern eingeräumte Unverletzlichkeit verweigert hat,
1. beschließt, die Immunität und die Vorrechte seines ehemaligen Mitglieds Jean-Charles Marchiani zu schützen;
2. fordert die Unwirksamkeitserklärung oder Widerrufung sowie in jedem Fall die Aufhebung jeder faktischen oder rechtlichen Wirkung des Urteils Nr. 1784 des französischen Kassationshofs vom 16. März 2005;
3. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich dem Kassationshof, der Regierung, der Nationalversammlung und dem Senat der Französischen Republik zu übermitteln.
- [1] Rechtssache 101/63, Wagner/Fohrmann und Krier, Slg. 1964, S. 383, und Rechtssache 149/85, Wybot/Faure und andere, Slg. 1986, S. 2391.
- [2] Beschluss des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 1999 über die Prüfung der Mandate der 5. Direktwahl zum Europäischen Parlament vom 10. bis 13. Juni 1999 (ABl. C 296 vom 18.10.2000, S. 93).
- [3] Vgl. Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften.
BEGRÜNDUNG
I. Zulässigkeit
Mit Schreiben vom 19. Mai 2005 an den Präsidenten des Europäischen Parlaments beantragte das ehemalige Mitglied Jean-Charles Marchiani gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Geschäftsordnung den Schutz seiner Immunität und seiner Vorrechte in Bezug auf das Urteil Nr. 1784 des französischen Kassationshofs vom 16. März 2005.
Der Antrag wurde dem Plenum am 26. Mai 2005 mitgeteilt und an den Rechtsausschuss überwiesen
Jean-Charles Marchiani war während der fünften Wahlperiode vom 20. Juli 1999 bis zum 19. Juli 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments.
Der Tatbestand, der Gegenstand des genannten Urteils ist, wurde zum Teil während des Zeitraums festgestellt, in dem Jean-Charles Marchiani das Amt eines Mitglieds des Europäischen Parlaments innehatte, folglich ist der Antrag zulässig.
II. Sachverhalt
Der französische Kassationshof hob mit der genannten Entscheidung das Urteil Nr. 2 der Anklagekammer des Pariser Appellationsgerichts vom 8. Dezember 2004, mit dem diese einige Aufzeichnungen von Telefongesprächen, die im Zeitraum vom 14. Juni bis zum 19. Juli 2004 an einem auf den Namen von Jean-Charles Marchiani angemeldeten Anschluss abgehört worden waren, für nichtig erklärt hatte, ohne Zurückverweisung auf.
Diese Abhörmaßnahmen waren vom Ermittlungsrichter am Pariser Tribunal de Grande Instance im Rahmen eines Strafverfahrens wegen unerlaubter Annahme und Aneignung von Gesellschaftsvermögen gegen Jean-Charles Marchiani und andere angeordnet worden, wo unter anderem angenommen wird, dass von August 1991 bis Januar 1994 insgesamt 9 703 826 FRF auf die Schweizer Bankkonten von Jean-Charles Marchiani geflossen seien. Dieser Betrag entspräche der Provision, die von einer Gesellschaft rechtswidrig für die Erlangung eines Auftrags über ein System zur Beförderung, Lagerung und Sortierung von Gepäck am Flughafen Paris-Charles de Gaulle gezahlt wurde.
Aus den Akten geht eindeutig hervor, dass die Abhörmaßnahmen vom französischen Untersuchungsrichter ab dem 14. Juni 2004, dem Tag nach den Wahlen zur Neubesetzung des Europäischen Parlaments, angeordnet und am 9. August 2004 beendet wurden. Offensichtlich ging der Richter irrtümlich davon aus, dass mit der Abhaltung der Wahlen das parlamentarische Mandat von Jean-Charles Marchiani beendet sei, wohingegen dieses gemäß Artikel 5 Absätze 1 und 3 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments am Vorabend der Eröffnung der neuen Wahlperiode, also am 19. Juli 2004 um Mitternacht, ablief.
Ferner sei darauf hingewiesen, dass das Europäische Parlament den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Jean-Charles Marchiani, den am 29. April 2003 derselbe Untersuchungsrichter am Pariser Tribunal de Grande Instance (Herr Philippe Courroye), der die Telefonabhörmaßnahmen anordnete, für dasselbe Strafverfahren, auf das sich der vorliegende Fall bezieht, gestellt hatte, ablehnte[1]. Bei dieser Gelegenheit wurde unter anderem das Vorhandensein einer tendenziösen Verfolgung (fumus persecutionis) zu Lasten von Jean-Charles Marchiani festgestellt, wobei unter den besonderen Umständen nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Strafverfahren von der Absicht getragen sei, der politischen Tätigkeit des Abgeordneten zu schaden.
III. Rechtliche Würdigung
Es stellt sich die Frage, ob die europäische parlamentarische Immunität, die Jean-Charles Marchiani zustand, geeignet war zu verhindern, dass die Justizbehörden der Französischen Republik seine Telefonanschlüsse einer Abhörmaßnahme unterzogen.
In diesem Fall gelangt Artikel 10 Buchstabe a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 zur Anwendung, wo es heißt:
„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments
a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu, ...“.
Diese Bestimmung verweist also auf die in Frankreich für die innerstaatlichen Abgeordneten geltenden Vorschriften, die aufgrund des Protokolls auch für die französischen Mitglieder des Europäischen Parlaments gelten.
Der vorliegende Fall ist durch Artikel 100‑7 der französischen Strafprozessordnung geregelt, wo es sinngemäß heißt:
„Die Telefonleitung eines Abgeordneten oder eines Mitglieds des Senats kann nicht abgehört werden, ohne dass der Präsident der Versammlung, der die betreffende Person angehört, vom Untersuchungsrichter davon unterrichtet worden ist.
(...)
Die Nichtbeachtung der in diesem Artikel enthaltenen Formvorschriften führt zur Nichtigkeit.“
Daraus ergibt sich, dass aufgrund der Bestimmungen von Artikel 10 Buchstabe a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften in Verbindung mit Artikel 100‑7 der französischen Strafprozessordnung die französische Justizbehörde die Telefonleitungen von Jean-Charles Marchiani nicht rechtmäßig abhören durfte, ohne den Präsidenten des Europäischen Parlaments vorab davon zu unterrichten.
Demgegenüber behauptet der Kassationshof auf absolut verblüffende Weise, aus keinem Rechts- oder Vertragstext und aus keinem Verfassungsgrundsatz gehe hervor, dass diese Bestimmung (Artikel 100‑7 der Strafprozessordnung – Anm. d. Verf.) auf die Mitglieder des Europäischen Parlaments anwendbar sei, und gelangt zu dem Schluss, dass diese Bestimmung ausschließlich die inländischen französischen Abgeordneten betreffe.
Augenscheinlich unterlag der oberste Richter einem Irrtum, da er eine Vorschrift des europäischen Primärrechts, zu deren sorgfältiger Einhaltung die Französische Republik verpflichtet ist, nicht kannte oder ihre Anwendung verweigerte.
Der Französischen Republik kommt folglich die Aufgabe zu, die rechtlichen Wirkungen des Urteils des Kassationshofs, das unter Verletzung von Artikel 10 Buchstabe a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 gefällt wurde, zu beheben.
IV. Schlussfolgerung
Aus diesen Gründen empfiehlt der Rechtsausschuss dem Europäischen Parlament, die Vorrechte und Immunitäten des ehemaligen Mitglieds Jean-Charles Marchiani zu schützen.
- [1] Siehe Beschluss des Europäischen Parlaments P5_TA(2003)0529 (A5‑0423/2003).
VERFAHREN
|
Titel |
Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Jean-Charles Marchiani | ||||||
|
Verfahrensnummer |
|||||||
|
Antrag auf Schutz der Immunität |
| ||||||
|
Federführender Ausschuss |
JURI | ||||||
|
Grundlage in der Geschäftsordnung |
Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 7 | ||||||
|
Berichterstatter |
Francesco Enrico Speroni | ||||||
|
Ersetzte(r) Berichterstatter(in) |
| ||||||
|
Prüfung im Ausschuss |
23.5.2005 |
21.6.2005 |
|
|
| ||
|
Datum der Annahme |
21.6.2005 | ||||||
|
Ergebnis der Schlussabstimmung
|
Ja-Stimmen: 12 Nein-Stimmen: 6 Enthaltungen: 0 |
| |||||
|
Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder |
Antonio Di Pietro, Monica Frassoni, Giuseppe Gargani, Kurt Lechner, Klaus-Heiner Lehne, Katalin Lévai, Marcin Libicki, Antonio Masip Hidalgo, Viktória Mohácsi, Aloyzas Sakalas, Francesco Enrico Speroni, Daniel Stroz, Andrzej Jan Szejna, Diana Wallis, Nicola Zingaretti, Jaroslav Zvěřina | ||||||
|
Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen) |
Evelin Lichtenberger, Manuel Medina Ortega, Michel Rocard | ||||||
|
Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellv. (Art. 178 Abs. 2) |
| ||||||
|
Datum der Einreichung – A6 |
22.6.2005 |
A6-0208/2005 | |||||