BERICHT über den Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Witold Tomczak

24.1.2008 - (2007/2130(IMM))

Rechtsausschuss
Berichterstatter: Aloyzas Sakalas

Verfahren : 2007/2130(IMM)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A6-0008/2008
Eingereichte Texte :
A6-0008/2008
Abstimmungen :
Angenommene Texte :

VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

über den Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Witold Tomczak

(2007/2130(IMM))

Das Europäische Parlament,

–   befasst mit einem von Witold Tomczak am 21. Mai 2007 übermittelten und am 24. Mai 2007 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Schutz seiner Immunität im Zusammenhang mit dem beim Kreisgericht in Ostrów Wielkopolski, Polen, gegen ihn anhängigen Strafverfahren,

–   nach Anhörung von Witold Tomczak am 4. Oktober 2007 gemäß Artikel 7 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung,

–   gestützt auf die Artikel 8, 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,

–   in Kenntnis der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Mai 1964 und vom 10. Juli 1986[1],

–   gestützt auf Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 7 seiner Geschäftsordnung,

–   in Kenntnis des Berichts des Rechtsausschusses (A6‑0008/2008),

A. in der Erwägung, dass Witold Tomczak am 21. September 1997 und am 23. September 2001 in das polnische Parlament (den Sejm) gewählt wurde; in der Erwägung, dass er nach der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags am 16. April 2003 Beobachter wurde; in der Erwägung, dass er vom 1. Mai 2004 bis zum 19. Juli 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments war; in der Erwägung, dass er am 13. Juni 2004 ins Europäische Parlament gewählt wurde und dass seine Amtszeit im polnischen Parlament am 16. Juni 2004 ablief,

B.  in der Erwägung, dass Witold Tomczak beschuldigt wird, am 26. Juni 1999 in Ostrów Wielkopolski unter Verstoß gegen Artikel 226 Absatz 1 des polnischen Strafgesetzbuchs zwei Polizeibeamte bei der Ausübung ihrer Amtspflichten beleidigt zu haben; in der Erwägung, dass das Kreisgericht in Ostrów Wielkopolski am 10. Januar 2005 nach mehrfachem Nichterscheinen Witold Tomczaks zu den Verhandlungen beschlossen hat, gemäß Artikel 377 Absatz 3 der polnischen Strafprozessordnung das Verfahren in Abwesenheit fortzusetzen,

C. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 9 des polnischen Gesetzes vom 23. Januar 2004 zu den Wahlen zum Europäischen Parlament bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in der Republik Polen wahlberechtigt ist, wer nicht wegen einer vorsätzlich verübten Straftat verurteilt und gegen den keine Anklage erhoben worden ist; in der Erwägung, dass nach Artikel 142 Absatz 1 Satz 1 dieses Gesetzes gilt, dass der Verlust des Sitzes eines Mitglieds des Europäischen Parlaments eine Folge des Verlusts des passiven Wahlrechts ist; in der Erwägung, dass es im polnischen Gesetz vom 12. April 2001 zu den Wahlen zum Sejm und zum Senat der Republik Polen (d.h. zum polnischen Parlament) keine Bestimmungen dieser Art gibt,

D. in der Erwägung, dass Witold Tomczak das Parlament zu einem früheren Zeitpunkt (am 29. April 2005) ersucht hatte, seine Immunität wegen dieses Strafverfahrens zu schützen; in der Erwägung, dass das Parlament am 4. April 2006 im Plenum beschloss, die Immunität von Witold Tomczak nicht zu schützen, obwohl Witold Tomczak vor der Plenarsitzung ein Schreiben übermittelt hatte, in dem er seinem Wunsch Ausdruck gab, seinen früheren Antrag auf Schutz seiner Immunität zurückzuziehen,

E.  in der Erwägung, dass Witold Tomczak behauptet, der vorsitzende Richter in seinem Verfahren sei nicht objektiv und die Möglichkeit, ein Verfahren in Abwesenheit durchzuführen, verstoße gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung,

F.  in der Erwägung, dass Witold Tomczak sich darüber beschwert, dass das Kreisgericht ihm keinen Zugang zu den Verfahrensakten gewähre und dass das Strafverfahren gegen ihn tendenziös sei, weil er versucht habe, die Rechtmäßigkeit der Handlungen der örtlichen Polizei und des örtlichen Staatsanwaltes in Frage zu stellen,

G. in der Erwägung, dass Witold Tomczak auf der Grundlage der vorliegenden Informationen im Hinblick auf keine der dem Präsidenten des Europäischen Parlaments zur Kenntnis gebrachten Forderungen durch die parlamentarische Immunität geschützt ist,

1.  beschließt, die Immunität und die Vorrechte von Witold Tomczak nicht zu schützen.

  • [1]  Rechtssache 101/63, Wagner/Fohrmann und Krier, Slg. 1964, S. 383, und Rechtssache 149/85, Wybot/Faure und andere, Slg. 1986, S. 2391.

BEGRÜNDUNG

I. Sachverhalt

1.        Witold Tomczak wurde am 21. September 1997 über die Liste Akcja Wyborcza Solidarność (Wahlaktion Solidarität, AWS) und am 23. September 2001 über die Liste der Liga Polskich Rodzin (Liga polnischer Familien, LPR) zum Mitglied des polnischen Parlaments (Sejm) gewählt. Nach der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags am 16. April 2003 wurde Witold Tomczak vom Sejm als Beobachter zum Europäischen Parlament entsandt und war vom 1. Mai 2004 bis zum 19. Juli 2004, somit also auch zum Zeitpunkt der ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments im Juni 2004, Mitglied des Europäischen Parlaments. Da er bei den Wahlen, die in Polen am 13. Juni 2004 stattfanden, ins Europäische Parlament gewählt wurde, zog er ins EP ein, und seine Amtszeit im Sejm endete mit Wirkung vom 16. Juni 2004, als die Wahlergebnisse bekannt gegeben wurden.

2.1.     Am späten Abend des 25. Juni1999 steuerte Witold Tomczak in Ostrów Wielkopolski seinen Pkw, in dem sich außerdem seine drei Söhne Mikołaj, Dominik und Tymoteusz, Frau Krystyna Kubiak und deren Tochter Maria befanden. Einige Minuten nach Mitternacht fuhren sie in der Gimnazjalna-Straße entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Eine Polizeistreife in einem zivilen Streifenwagen versperrte ihnen den Weg, und ein Polizist (Sławomir Marek) trat an die Fahrertür des Pkws von Witold Tomczak. Nach kurzer Zeit (der Inhalt des Gesprächs zwischen den beiden Männern ist strittig, insbesondere hinsichtlich der Beschuldigung, der Fahrzeugführer habe gemeinhin als beleidigend geltende Worte gebraucht) fuhr Witold Tomczak los und wurde später (als außer ihm nur noch seine Söhne im Fahrzeug saßen) auf der Kościuszko-Straße von drei Polizeifahrzeugen erneut angehalten. Da sich Witold Tomczak weigerte, seine Papiere vorzuzeigen, zwangen ihn zwei Polizisten (Sławomir Marek und Radosław Gmur) zum Verlassen des Fahrzeugs, legten ihm Handschellen an und brachten ihn zur örtlichen Polizeiwache. Nach einem Alkoholtest (bei dem festgestellt wurde, dass er nüchtern war) legte Witold Tomczak seinen Abgeordnetenausweis des Sejms der Republik Polen vor und erhielt die Erlaubnis, die Woiewodschaftskommandantur in Posen (Poznań) anzurufen, um sich über das Verhalten der örtlichen Polizisten zu beschweren. Nachdem er zu seinem Fahrzeug zurückgebracht worden war, fuhr er selbst zur Polizeiwache in Ostrów und führte ein Telefongespräch mit der Staatsanwaltschaft des Kreisgerichts.

2.2.     Die Ermittlungen wurden am 30. Juni 1999 von der Staatsanwaltschaft in Ostrów Wielkopolski eingeleitet. In Anbetracht der Tatsache, dass Witold Tomczak seinerzeit dem Sejm angehörte, beantragte der Generalstaatsanwalt am 13. Juni 2000 gemäß Artikel 17 Absatz 1 Unterabsatz 10 der polnischen StPO beim Sejm die Genehmigung, Witold Tomczak in dieser Sache strafrechtlich zu verfolgen. Diesem Antrag gab der Sejm jedoch nicht statt, da Witold Tomczak dem Präsidenten des Sejm am 4. Oktober 2000 eine Erklärung gemäß Artikel 105 Absatz 4 der polnischen Verfassung abgab, mit der er seiner Strafverfolgung wegen der dem Verfahren zugrunde liegenden Tatbestände zustimmte. Nach dieser Erklärung und in Erwägung des Antrags von Witold Tomczak vom 9. November 2000 an das Justizministerium, in dem er sich auf die seinerzeit schwere Arbeitsbelastung im Sejm berief, beschloss der Generalstaatsanwalt, die Sache an die Staatsanwaltschaft des Bezirksgerichts Warschau zu verweisen. Durch einen Beschluss des Staatsanwalts des Bezirksgerichts Warschau wurde die Staatsanwaltschaft von Warschau-Praga-Północ für zuständig erklärt, das Verfahren fortzusetzen.

2.3.     Am 1. Februar beschloss der Staatsanwalt des Kreisgerichts, Adam Woźny, das Verfahren gegen Witold Tomczak wegen unlösbarer Zweifel an den Aussagen der beteiligten Polizisten einzustellen. Nachdem einer von diesen eine offizielle Beschwerde eingelegt hatte, wurde dieser Beschluss am 30. März 2001 vom Staatsanwalt der Region aufgehoben. Am 15. Oktober 2001 klagte der Staatsanwalt des Kreisgerichts, Adam Woźny, Witold Tomczak an, zwei Polizeibeamte (Sławomir Marek und Jacek Bałamącek) bei der Ausübung ihres Amtes beleidigt zu haben (was gemäß Artikel 226 Absatz 1 des polnischen StGB strafbar ist). Die sachliche und territoriale Zuständigkeit liegt beim Kreisgericht in Ostrów Wielkopolski. Da Witold Tomczak zwölfmal hintereinander nicht vor Gericht erschien, beschloss das Gericht, das Verfahren in seiner Abwesenheit fortzusetzen. Nachdem Witold Tomczak dem Gericht am 30. April 2005 mitgeteilt hatte, er habe beim Europäischen Parlament einen Antrag auf Schutz seiner Immunität gestellt, beschloss das Gericht am 30. Mai 2005, das Strafverfahren auszusetzen. Nach dem Beschluss des Europäischen Parlaments vom April 2006, die Immunität von Witold Tomczak nicht zu schützen, lud das Gericht Witold Tomczak erneut vor. Es erging jedoch kein Urteil.

3.1.     Witold Tomczak bestreitet nicht, eine Einbahnstraße in Gegenrichtung befahren zu haben. Er behauptet, der Beleidigung der Polizeibeamten im Dienst nicht schuldig zu sein, und erklärt, Indizien zum Beweis des Gegenteils seien gefälscht worden, um auf seine Vorwürfe gegen die Polizisten sowie den Staatsanwalt des Kreisgerichts zu reagieren.

3.2.     Nach Angaben von Witold Tomczak hätte der polnische Staatsanwalt den Beschluss des Sejm zur Aufhebung seiner Immunität einholen sollen, und seine eigene Zustimmung zur strafrechtlichen Verfolgung (siehe vorstehende Ziffer 2.2) sei ohne rechtliche Wirkung, da das polnische Gesetz vom 9. Mai 1996 zur Ausübung des parlamentarischen Mandats eine solche Möglichkeit nicht vorsehe. Witold Tomczak hat dem Parlament ein Rechtsgutachten vorgelegt, in dem der anscheinende Widerspruch zwischen der polnischen Verfassung und diesem Gesetz zu jener Zeit untersucht wird und der Schluss gezogen wird, dass ein öffentliches Gericht eine Entscheidung darüber fällen müsse, ob die Handlungen des Sejm und des Staatsanwalts unrechtmäßig waren.

3.3.     Außerdem vertritt Witold Tomczak die Auffassung, dass keiner der in Ostrów Wielkopolski tätigen Richter in der vorliegenden Sache objektiv sein könne, weil einige Richter des Kreisgerichts in Ostrów Wielkopolski (darunter der stellvertretende Vorsitzende des Gerichts Wojciech Baszczyński) das von Witold Tomczak gegen den Staatsanwalt des Kreisgerichts angestrengte Verfahren von sich aus mit der Begründung abgegeben hätten, dass sie persönliche Kontakte zu dem Beschuldigten unterhielten. Witold Tomczak weist als Beweis für den tendenziösen Charakter des Verfahrens ferner auf eine Dienstanweisung von Wojciech Baszczyński an den vorsitzenden Richter in der Sache hin, das Verfahren auch in Abwesenheit des Beschuldigten fortzuführen.

3.4.     Witold Tomczak beschwert sich darüber, dass das Gericht in Ostrów ihm keinen Zugang zu den Verfahrensakten gewähre. Aus den vorgelegten Unterlagen geht hervor, dass sein Ersuchen um Kopien der gesamten Akte vom Gericht aus formalen Gründen abgelehnt wurde, nachdem Witold Tomczak es versäumt hatte, genau anzugeben, um welche Dokumente er ersuchte. Daraufhin begab sich Witold Tomczak persönlich zum Gericht, und ihm wurde sofort Zugang zu den Akten gewährt. Witold Tomczak gibt an, dass diese Unregelmäßigkeiten in dem Verfahren so schwerwiegend seien, dass ein faires Verfahren nicht gewährleistet werden könne.

Abschließend ersucht Witold Tomczak um Schutz seiner parlamentarischen Immunität.

II. Verfahren

1.      Die einschlägigen Bestimmungen der Geschäftsordnung sind Artikel 6 und 6a, insbesondere Artikel 6 Absätze 1 und 3:

'1. Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten ist es vorrangiges Ziel des Parlaments, seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung zu wahren und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherzustellen.

3. Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds auf Schutz der Immunität und der Vorrechte wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.'

2.      Da der Präsident des Parlaments der Überzeugung war, dass Witold Tomczak das Verfahren zur Verteidigung seiner Immunität gemäß den vorerwähnten Artikeln der Geschäftsordnung eingeleitet hatte, wurde der Antrag dem Plenum mitgeteilt.

3.      Die förmlichen Anforderungen wurden somit erfüllt, so dass der Fall an den Rechtsausschuss überwiesen werden konnte.

III. Anwendbare Vorschriften

1.        Artikel 8, 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften (PVB)[1]

Diese Artikel lauten folgendermaßen:

Artikel 8

Die Reise der Mitglieder des Europäischen Parlaments zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments unterliegt keinen verwaltungsmäßigen oder sonstigen Beschränkungen.

Die Mitglieder des Europäischen Parlaments erhalten bei der Zollabfertigung und Devisenkontrolle

a) seitens ihrer eigenen Regierung dieselben Erleichterungen wie hohe Beamte, die sich in offiziellem Auftrag vorübergehend ins Ausland begeben;

b) seitens der Regierungen der anderen Mitgliedstaaten dieselben Erleichterungen wie ausländische Regierungsvertreter mit vorübergehendem offiziellem Auftrag.

Artikel 9

Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.

Artikel 10

Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu;

b) können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.

2.        Zur Bewertung einer möglichen Verletzung des PVB ist es zweckmäßig, sich die zwei folgenden relevanten Fakten in Erinnerung zu rufen:

a) Die gegen Witold Tomczak erhobenen Beschuldigungen beziehen sich nicht auf Meinungsäußerungen und Abstimmungen in Ausübung seines Mandats als Mitglied des Europäischen Parlaments, da er dem Parlament zur Tatzeit nicht angehörte.

b) Witold Tomczak ist derzeit Mitglied des Europäischen Parlaments, und das Ereignis, das dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren zugrunde liegt, fand in Polen, d.h. in seinem Heimatstaat, statt.

3.        Es ist zweckmäßig, Überlegungen darüber anzustellen, wie die oben genannten Fakten und Anschuldigungen mit den in Kapitel III, Artikel 8 bis 10 Buchstabe b des PVB garantierten Vorrechten und Befreiungen in Zusammenhang gebracht werden können.

1) Artikel 8 Absatz 1 gewährt den Mitgliedern des Europäischen Parlaments das Vorrecht, sich bei der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments (im Hinblick auf die Zollabfertigung und Devisenkontrolle) frei zu bewegen. Dieser Schutz wird den Mitgliedern nur während der Dauer ihres Mandates gewährt. Dieses Vorrecht fordert Witold Tomczak in seinen Schreiben nicht ein, und es ist eindeutig nicht anwendbar.

2) Artikel 9 gewährleistet die Unverletzlichkeit der Mitglieder in Bezug auf eine in Ausübung ihres Amtes erfolgte Äußerung oder Abstimmung. Dieser Schutz geht zwar über die Dauer des Mandats hinaus, bleibt jedoch innerhalb des klar begrenzten Geltungsbereichs dieses Artikels. Geschützt werden die Äußerungen oder Abstimmungen der Mitglieder im Parlament, auch wenn diese nicht physisch im Parlament anwesend sind, jedoch immer wenn sie in jeder Hinsicht als Mitglieder des Parlaments handeln. Witold Tomczak war im Juni 1999 nicht Mitglied des Europäischen Parlaments, daher trifft Artikel 9 auf diesen Fall nicht zu.

3) Artikel 10 sieht Folgendes vor: Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments a)  steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu;

Die parlamentarische Immunität in Polen ist in ihrem Umfang derjenigen, die der Funktionsweise des EP zugrunde liegt und auf dem PVI fußt, sehr ähnlich. Artikel 105 der polnischen Verfassung lautet wie folgt:

Artikel 105.

1. Der Abgeordnete darf für seine Tätigkeit, die in den Bereich der Mandatsausübung fällt, weder während der Mandatsausübung noch nach dem Erlöschen des Mandats zur Verantwortung gezogen werden. Wegen solcher Tätigkeit ist der Abgeordnete ausschließlich vor dem Sejm verantwortlich. Hat der Abgeordnete Rechte Dritter verletzt, darf er nur mit Zustimmung des Sejm zur gesetzlichen Verantwortung gezogen werden.

2. Von dem Tag, an dem die Wahlergebnisse bekannt gegeben werden bis zum Tag, an dem das Mandat erlischt, darf der Abgeordnete ohne Zustimmung des Sejm nicht strafrechtlich belangt werden.

3. Ein Strafverfahren, das gegen eine Person vor dem Tag ihrer Wahl zum Abgeordneten eingeleitet worden ist, wird auf Verlangen des Sejm bis zum Zeitpunkt des Erlöschens des Mandats eingestellt. In einem solchen Fall ruht die Verjährung bis zu diesem Zeitpunkt.

4. Der Abgeordnete kann der strafrechtlichen Verfolgung zustimmen. In diesem Fall finden die Vorschriften der Abs. 2 und 3 keine Anwendung.

5. Der Abgeordnete darf ohne Zustimmung des Sejm weder festgenommen noch verhaftet werden, es sei denn er wird auf frischer Tat betroffen und seine Festnahme ist für die Gewährleistung des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufes unentbehrlich. Von der Festnahme wird unverzüglich der Sejmmarschall [Parlamentspräsident] benachrichtigt, der eine sofortige Entlassung des Festgenommenen anordnen kann.

6. Ausführliche Grundsätze der strafrechtlichen Verfolgung von Abgeordneten sowie die Verfahrensweise regelt das Gesetz.

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen sollte der Antrag von Witold Tomczak als Antrag auf einen Beschluss des Europäischen Parlaments betrachtet werden, um Aussetzung des Verfahrens gegen ihn zu ersuchen, wie es gemäß Artikel 105 Absatz 3 der polnischen Verfassung möglich ist. Das Europäische Parlament hat somit das Recht, die Immunität von Witold Tomczak offiziell zu schützen oder auch nicht. Ferner sollte in Anbetracht der Tatsache, dass die parlamentarische Immunität Teil der Vorrechte des Parlaments ist, dieses Recht in einem endgültigen Beschluss Ausdruck finden, auch wenn das betreffende Mitglied des Parlaments später ersucht hat, das Verfahren einzustellen.

Nach seiner gängigen Praxis könnte das Europäische Parlament beschließen, die Immunität eines seiner Mitglieder zu schützen, wenn der Verdacht bestünde, dass die Verfolgung auf der Absicht beruht, der politischen Tätigkeit des Mitglieds zu schaden (fumus persecutionis). Dafür liegen im Fall von Witold Tomczak keine eindeutigen Indizien vor.

Dass Witold Tomczak sein Fahrzeug in Gegenrichtung durch eine Einbahnstraße steuerte, ist unstrittig, und der Staatsanwalt des Bezirksgerichts ist von Rechts wegen befugt, eine Entscheidung zur Einstellung eines Verfahrens aufzuheben. Beide Entscheidungen zum Verfahren, die von Witold Tomczak angefochten werden (das Verfahren in Abwesenheit und der Zugang zu Verfahrensakten), wurden im Einklang mit dem polnischen Recht getroffen. Die Frage, ob seine Immunität zu Beginn des Verfahrens ordnungsgemäß aufgehoben wurde, ist eine Frage, die (wenn überhaupt) nur von den polnischen Justizbehörden geklärt werden kann. Die Tatsache, dass der vorsitzende Richter in dem Verfahren in derselben Stadt lebt wie der Staatsanwalt, gegen den Witold Tomczak vorher Beschwerde erhoben hatte, schließt nicht aus, dass dieser Richter objektiv handelt. Schließlich konnte die mögliche Folge, das Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments zu verlieren (gemäß dem polnischen Gesetz zu den Wahlen zum Europäischen Parlament wird Witold Tomczak seinen Sitz verlieren, wenn er der Verübung der ihm zur Last gelegten Straftat für schuldig befunden wird), zu dem Zeitpunkt, als Klage gegen Witold Tomczak erhoben wurde, nicht in Betracht gezogen werden (da er zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Sejm war und das einschlägige Gesetz über die Mitglieder des nationalen Parlaments keine Bestimmungen für einen Ausschluss unter diesen Bedingungen enthält). Daher kann dies nicht der Grund für die Einleitung des Verfahrens sein.

Alle verfahrenstechnischen und sachlichen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Verfahren Tomczak aufgeworfen wurden, insbesondere was den Vorwurf der Verwendung beleidigender Worte durch Witold Tomczak anbelangt, sollten vom Kreisgericht in Ostrów Wielkopolski objektiv geklärt werden (wobei immer die Möglichkeit besteht, Rechtsmittel einzulegen).

IV. Schlussfolgerung

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen empfiehlt der Rechtsausschuss dem Europäischen Parlament gemäß Artikel 6 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung nach Prüfung der für und gegen den Schutz der Immunität des Mitglieds sprechenden Gründe, die parlamentarische Immunität von Witold Tomczak nicht zu verteidigen.

  • [1]  Die den ursprünglichen Verträgen beigefügten Protokolle sind Teil des primären Gemeinschaftsrechts und haben den gleichen rechtlichen Wert wie die Verträge selbst. Aus einer Rechtssache, die die Immobiliensteuer für Beamte der Gemeinschaften betraf, ergibt sich, dass ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen einen Verstoß gegen die sich aus den Verträgen ergebenden Pflichten darstellt (Urteil vom 24. Februar 1988, Kommission gegen Belgien, Rechtssache 260/86, Slg. 966).

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS

Datum der Annahme

22.1.2008

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

13

0

0

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Titus Corlăţean, Bert Doorn, Giuseppe Gargani, Lidia Joanna Geringer de Oedenberg, Klaus-Heiner Lehne, Manuel Medina Ortega, Aloyzas Sakalas, Francesco Enrico Speroni, Diana Wallis, Jaroslav Zvěřina, Tadeusz Zwiefka

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende(r) Stellvertreter(in/innen)

Jean-Paul Gauzès, Kurt Lechner

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende(r) Stellv. (Art. 178 Abs. 2)