BERICHT über den Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten im Anschluss an den Empfehlungsentwurf an die Europäische Kommission in der Beschwerde 3453/2005/GG

3.7.2008 - (2007/2264(INI))

Petitionsausschuss
Berichterstatter: Proinsias De Rossa

Verfahren : 2007/2264(INI)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A6-0289/2008

ENTWURF EINER ENTSCHLIESSUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

über den Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten an das Europäische Parlament im Anschluss an den Empfehlungsentwurf an die Europäische Kommission in der Beschwerde 3453/2005/GG

(2007/2264(INI))

Das Europäische Parlament,

–   unter Hinweis auf den Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten an das Europäische Parlament,

–   gestützt auf Artikel 195 Absatz 1 zweiter Unterabsatz und Artikel 211 des EG-Vertrags,

–   unter Hinweis auf den Beschluss 94/262/EGKS, EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten[1], insbesondere Artikel 3 Absatz 7,

–   unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht (KOM(2002)0141)[2],

–   gestützt auf Artikel 195 Absatz 2 erster Satz seiner Geschäftsordnung,

–   in Kenntnis des Berichts des Petitionsausschusses und der Stellungnahme des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (A6‑0289/2008),

A. in der Erwägung, dass Artikel 195 des EG-Vertrags den Europäischen Bürgerbeauftragten befugt, Beschwerden von jedem Bürger der Union über Missstände in der Verwaltung bei der Tätigkeit der Organe und Institutionen der Gemeinschaft entgegenzunehmen,

B.  in der Erwägung, dass die von Bürgern eingereichten Beschwerden eine wichtige Informationsquelle zu möglichen Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht darstellen,

C. in der Erwägung, dass die Kommission gemäß Artikel 211 des EG-Vertrags in ihrer Rolle als Hüterin der Verträge dafür verantwortlich ist, sicherzustellen, dass die Bestimmungen des Vertrags und die aufgrund dieses Vertrags von den Organen ergriffenen Maßnahmen angewendet werden,

D. in Erwägung von Artikel 226 Absatz 1 EG-Vertrag, wonach die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu „abgibt“, wenn nach ihrer Auffassung ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen hat, wobei sie dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung gibt, und ferner in der Erwägung, dass gemäß dem zweiten Absatz dieses Artikels die Kommission den Gerichtshof anrufen "kann", wenn der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nachkommt,

E.  in der Erwägung, dass der Europäische Bürgerbeauftragte in seiner Entscheidung zu Beschwerde 995/98/OV zuvor die Ansicht vertreten hat, dass der Ermessensspielraum der Kommission im Hinblick auf die Eröffnung von Vertragsverletzungsverfahren jedoch gesetzlichen Grenzen unterworfen ist, „die durch die Rechtssprechung des Gerichtshofs festgelegt sind, die beispielsweise verlangt, dass Verwaltungsbehörden konsequent und in gutem Glauben handeln, Diskriminierung vermeiden, den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Gleichheit sowie berechtigten Erwartungen entsprechen und sowohl die Menschenrechte als auch die Grundfreiheiten achten sollten“,

F.  in der Erwägung, dass die Kommission betont hat, dass ihre Rolle für die Interessen der europäischen Bürger wesentlich ist, und die Bedeutung des Rechtsstaats in diesem Zusammenhang anerkannt hat[3],

G. in der Erwägung, dass die Kommission bestätigt, dass ihre Mitteilung über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht die Verwaltungsmaßnahmen zugunsten des Beschwerdeführers darlegt, die die Kommission versucht einzuhalten, wenn sie die Beschwerde behandelt und den angeblichen Verstoß überprüft,

H. in der Erwägung, dass der Bürgerbeauftragte die Auffassung vertritt, dass das Versäumnis der Kommission, keine endgültige Stellung in zur Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu beziehen, einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit darstellt,

I.   in der Erwägung, dass die Empfehlung des Bürgerbeauftragten an die Kommission lautet, dass sie die Beschwerde des Beschwerdeführers so schnell und so sorgfältig wie möglich bearbeiten sollte,

1.  unterstützt die Empfehlung des Europäischen Bürgerbeauftragten an die Kommission;

2.  betont, dass die Art und Weise, mit der die Kommission von den Bürgern eingereichte Beschwerden, in denen auf einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht durch Mitgliedstaaten hingewiesen wird, behandelt, stets in Einklang mit den Grundsätzen guter Verwaltungsführung stehen sollte;

3.  weist darauf hin, dass die Kommission in ihrer Mitteilung über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht bestimmte Verpflichtungen in Bezug auf ihre Behandlung von Vertragsverletzungsbeschwerden eingegangen ist;

4.  weist darauf hin, dass die Kommission in ihrer Mitteilung darauf hingewiesen hat, dass sie in der Regel binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Eintragung der Beschwerde entscheiden werde, ob sie Vertragsverletzungsverfahren einleiten wird oder ob der Vorgang eingestellt wird und dass sie den Beschwerdeführer schriftlich unterrichten werde, wenn diese Frist überschritten wird;

5.  akzeptiert, dass in schwierigen und komplizierten Fällen die Ermittlungen der Kommission mehr als ein Jahr erfordern können, ist jedoch der Ansicht, dass das Überschreiten der Einjahres-Frist nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Ermittlungen tatsächlich noch im Gange sind;

6.  stellt fest, dass im vorliegenden Fall betreffend das Versäumnis der deutschen Regierung, die Arbeitszeitrichtlinie[4] ordnungsgemäß anzuwenden, die Kommission beabsichtigte, die Beschwerde im Lichte ihres Vorschlags für eine Änderung der Richtlinie zu behandeln, und beschloss, das Ergebnis der Diskussionen über ihren Vorschlag mit den anderen Gemeinschaftsorganen abzuwarten;

7.  erinnert daran, dass jener Vorschlag im September 2004 unterbreitet wurde und dass es keine Anzeichnen dafür gibt, dass die Kommission seither weitere Schritte unternommen hat, um ihre Untersuchung fortzusetzen;

8.  stellt fest, dass die Kommission, statt eine von zwei möglichen Entscheidungen zu treffen –– entweder formale Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten oder den Vorgang einzustellen –, davon Abstand nahm, irgendwelche weiteren Maßnahmen in Bezug auf ihre Untersuchung zu ergreifen;

9.  ist der Auffassung, dass das Gemeinschaftsrecht nicht die Möglichkeit in Betracht zieht, bestehende Gesetze und Urteile mit der Begründung außer Acht zu lassen, dass neue Vorschriften geprüft werden; weist darauf hin, dass es die Kommission ebenfalls versäumt hat, Elemente der Beschwerde zu behandeln, die keinen Bezug zu den vorgeschlagenen Änderungen an der geltenden Richtlinie aufweisen;

10. räumt ein, dass die Kommission gewisse Ermessensbefugnisse hinsichtlich der Bearbeitung von Beschwerden und Vertragsverletzungsverfahren, besitzt, insbesondere hinsichtlich der Anrufung des Gerichtshofs in bestimmten Fällen, weist aber darauf hin, dass Artikel 226 EG-Vertrag vorsieht, dass die Kommission die Vorverfahrensphase einzuleiten hat, wenn ein Mitgliedstaat es versäumt hat, einer im Vertrag verankerten Verpflichtung nachzukommen;

11.  ist der Auffassung, dass die Ermessensbefugnis nichtsdestoweniger gesetzlichen Grenzen unterworfen ist, wie sie durch das Fallrecht des Gerichtshofs festgesetzt sind, und ferner die von der Kommission in ihrer Mitteilung selbst festgesetzten Grenzen nicht überschreiten sollte;

12. bekräftigt erneut seine Besorgnis über den ungerechtfertigten und übertrieben langen Zeitraum – der sich oft über mehrere Jahre erstreckt –, den die Kommission benötigt, um Vertragsverletzungsverfahren zu verfolgen und abzuschließen, und zeigt sich unzufrieden mit den häufigen Beispielen dafür, dass Mitgliedstaaten den Urteilen des Gerichtshofs nicht nachkommen; ist der Auffassung, dass dies die Glaubwürdigkeit der Gestaltung und der kohärenten Anwendung des Gemeinschaftsrechts untergräbt und dazu dient, die Ziele der EU in Misskredit zu bringen;

13. betont erneut die Schlüsselrolle der Mitgliedstaaten bei der ordnungsgemäßen Umsetzung der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und hebt die Tatsache hervor, dass deren praktische Anwendung entscheidend ist für die Zwecke, die Bedeutung der Europäischen Union für ihre Bürger zu erhöhen;

14. ersucht die Kommission, eine Liste mit den Namen der Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen, deren Gesetzgebung nicht im Einklang mit allen Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie steht, und die Maßnahmen zu spezifizieren, die sie diesbezüglich ergreift; drängt die Kommission, unverzüglich im Einklang mit ihren Vorrechten in allen Fällen und in allen Mitgliedstaaten, in denen die Umsetzung oder die Anwendung der Richtlinie nicht den vom Gesetzgeber und vom Gerichtshof erlassenen Vorschriften entspricht, tätig zu werden;

15. fordert die Kommission nachdrücklich auf, das am 1. Januar 2004 verabschiedete neue deutsche Gesetz, das am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, unverzüglich zu analysieren, um festzustellen, ob es allen Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie und allen gültigen Urteilen des Gerichtshofs Rechnung trägt; unterstreicht die Notwendigkeit für die Kommission, die Einzelheiten der Umsetzung dieser Richtlinie zu prüfen;

16. stellt fest, dass die Kommission kürzlich ihre Leitlinien für Vertragsverletzungsverfahren überarbeitet hat; entnimmt diesem Dokument, dass eine Liste der Beschlüsse im Vorfeld den Ständigen Vertretern und den Mitgliedstaaten übermittelt werden wird und dass Pressemitteilungen zu beschlossenen Vertragsverletzungsentscheidungen an dem Tag der formellen Annahme veröffentlicht werden können; stellt jedoch fest, dass nicht vorgesehen ist, das Parlament oder seine zuständigen Ausschüsse zu unterrichten;

17. wiederholt seine dringende Aufforderung an die Kommission, das Parlament und insbesondere seinen Petitionsausschuss in allen Phasen des Verfahrens umfassend über Entscheidungen in Vertragsverletzungsangelegenheiten zu unterrichten;

18. betont, dass das Parlament gemäß Artikel 230 des EG-Vertrags das Recht hat, unter denselben Bedingungen wie der Rat und die Kommission Klagen vor dem Gerichtshof zu erheben, und dass das Parlament gemäß Artikel 201 des Vertrags befugt ist, eine Kontrolle der Tätigkeiten der Kommission auszuüben;

19. fordert ferner alle Mitgliedstaaten auf, die Gesundheits- und Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz ordnungsgemäß und gemäß dem Grundsatz anzuwenden, dass im Zweifelsfall die Auslegung vorzuziehen ist, die der Gesundheit und der Sicherheit des Arbeitnehmers Vorrang einräumt (in dubio pro operario);

20. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission und dem Europäischen Bürgerbeauftragten zu übermitteln.

  • [1]  ABl. L 113 vom 4.5.1994, S. 15. Durch den Beschluss 2002/262/EG, EGKS, Euratom geänderter Beschluss (ABl. L 92 vom 9.4.2002, S. 13).
  • [2]  ABl. C 244 vom 10.10.2002, S. 5.
  • [3]  Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ (KOM(2002)0725 endg.).
  • [4]  Richtlinie 2003/88/EG, die die Richtlinie 93/104/EG ersetzte und aufhob (ABl. L 299 vom 18.11.2003, S. 9).

BEGRÜNDUNG

Im November 2001 ersuchte der Beschwerdeführer, ein deutscher Arzt, die Europäische Kommission um Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass Deutschland gegen die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung[1] („Richtlinie 93/104“) im Hinblick auf die Tätigkeit von Ärzten in Krankenhäusern verstoße, insbesondere was den Bereitschaftsdienst dieser Ärzte betreffe. Nach Auffassung des Beschwerdeführers hatte dies beträchtliche Risiken sowohl für Mitarbeiter als auch für Patienten zur Folge.

In dieser Beschwerde (2333/2003/GG) behauptete der Beschwerdeführer, die Kommission habe seine Vertragsverletzungsbeschwerde nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums behandelt.

In seiner Entscheidung zum Abschluss dieser Untersuchung stellte der Bürgerbeauftragte fest, dass in diesem Fall fast 15 Monate vergangen seien, bevor die Kommission begonnen habe, sich mit den vom Beschwerdeführer erhobenen Einwänden zu befassen, indem sie dem betreffenden Mitgliedstaat ein Ersuchen um Auskunft übermittelte. Der Bürgerbeauftragte vertrat die Auffassung, dass die Kommission die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums behandelt habe und dass dies einen Fall von Missstand in der Verwaltungstätigkeit darstelle.

In der Zwischenzeit hatte Deutschland ein neues Gesetz erlassen, um die deutschen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 93/104/EG in Einklang zu bringen, und die Kommission gab an, sie müsse die Vereinbarkeit dieser neuen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht noch überprüfen, um die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers behandeln zu können.

Am 6. Dezember 2004 teilte die Kommission dem Beschwerdeführer mit, dass sie einen Vorschlag für eine Änderung der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG)[2] angenommen hatte und sie die Vertragsverletzungsbeschwerde im Lichte dieses Vorschlags prüfen werde.

Am 2. November 2005 wandte sich der Beschwerdeführer erneut an den Bürgerbeauftragten (Beschwerde 3453/2005/GG). Er erklärte, dass er keine weiteren Informationen darüber erhalten habe, welche Haltung die Kommission zu seinem Fall einzunehmen gedenke. Er vertrat die Auffassung, dass die Kommission die Angelegenheit verschleppe und den Bürgerbeauftragten missachte. Er wiederholte im Wesentlichen die Behauptung in seiner früheren Beschwerde.

In ihrer Stellungnahme erklärte die Kommission, dass sie nach eigenem Ermessen entscheiden könne, ob sie Vertragsverletzungsverfahren einleitet oder fortsetzt.

Der Beschwerdeführer behauptete, dass die Rechtsordnung der EU nicht die Möglichkeit vorsehe, Gesetze und Urteile aus dem Grund außer Kraft zu setzen, dass die Kommission eine Neuregelung plant. Wenn geplante Änderungen zur Missachtung geltenden Rechts berechtigten, sei die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft – so die Auffassung des Beschwerdeführers - eine Farce. Mit ihrem Verhalten beschädige die Kommission den Rechtsfrieden und begehe Rechtsbeugung.

Am 12. September 2006 richtete der Bürgerbeauftragte folgenden Empfehlungsentwurf an die Kommission:

Die Kommission sollte die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers so schnell und so sorgfältig wie möglich bearbeiten.

Der Bürgerbeauftragte vertrat folgende Auffassung:

-       Die Tatsache, dass eine Richtlinie (93/104) durch eine andere (2003/88) ersetzt wurde, die denselben Gegenstand behandelt, ist für die Beschwerde ohne Bedeutung.

-       Nach Artikel 211 des EG-Vertrags ist die Kommission verpflichtet, für die Anwendung der von den Organen getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen.

-       Die Kommission ist die Hüterin der Verträge. Sie hat betont, dass diese Aufgabe aus Sicht des Bürgerinteresses eine wesentliche Rolle spielt, und sie erkennt die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit an. Deshalb entspricht es guter Verwaltungspraxis, Vertragsverletzungsbeschwerden möglichst rasch und sorgfältig zu behandeln.

-       Die Kommission beabsichtigte, die Vertragsverletzungsbeschwerde im Lichte ihres Vorschlags für eine Änderung der relevanten Richtlinie zu prüfen. Offenbar nahm die Kommission an, dass Artikel 211 des EG-Vertrags sie nicht dazu verpflichtet, für die Anwendung einer Richtlinie Sorge zu tragen, deren Änderung bevorsteht.

-       Die Richtlinien 93/104 und 2000/88 waren beide in Kraft, und es bestanden keine Regeln oder Grundsätze, die es der Kommission gestatten würden, ihre Pflicht gemäß Artikel 211 zu missachten.

-       Die Kommission kann im Falle einer Vertragsverletzung nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof bringt oder nicht. Dies berechtigt sie jedoch nicht dazu, die Entscheidung über eine Beschwerde mit der Begründung, dass das anzuwendende Gesetz irgendwann in der Zukunft geändert werden könnte, auf unbestimmte Zeit zu verschieben.

-       Die Tatsache, dass die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers von der Kommission nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums bearbeitet wurde, stellt einen Missstand in der Verwaltungstätigkeit dar.

In ihrer begründeten Stellungnahme vertrat die Kommission die Auffassung, dass es nach ständiger Rechtsprechung in ihrem Ermessen stehe, ob Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten angestrengt und wie solche Verfahren abgewickelt würden. Daher habe sie beschlossen, Vertragsverletzungsverfahren solange nicht weiterzuverfolgen, bis der laufende Legislativprozess betreffend ihren Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2003/88 abgeschlossen sei. Die Kommission fügte hinzu, dass sich diese Ermessensbefugnis auf alle Phasen von Beschwerden und Verfahren, einschließlich des Vorverfahrens, erstreckten.

In einer Mitteilung aus dem Jahr 2002 an das Parlament und den Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht habe die Kommission festgelegt, dass sie in der Regel binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Registrierung der Beschwerde darüber entscheide, ob ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet oder der Vorgang eingestellt werde. Dies schränke aber den Ermessenspielraum der Kommission in den Fällen, in denen eine andere, dem Sachverhalt eines Falls besser angepasste Vorgehensweise gerechtfertigt erscheine, nicht ein.

Der Bürgerbeauftragte stellte Folgendes fest:

–      Die Kommission sei bestimmte Verpflichtungen hinsichtlich der Bearbeitung von Vertragsverletzungsverfahren eingegangen.

–      In ihrer Mitteilung habe die Kommission erklärt, dass ihre Dienststellen in der Regel binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt der Eintragung entscheiden würden, ob eine Beschwerde Anlass zur Absendung einer Aufforderung zur Äußerung gebe oder ob der Vorgang eingestellt werde, und dass der Beschwerdeführer schriftlich davon unterrichtet werde, falls die Frist überschritten werde. Der Bürgerbeauftragte vertrat die Auffassung, dass eine Überschreitung der einjährigen Frist nur dann gerechtfertigt sei, wenn die Kommission tatsächlich noch mit der Prüfung eines Falls befasst sei.

–      Die Kommission habe die Beschwerde im Lichte ihres Vorschlags für eine Änderung der Richtlinie prüfen wollen, die im September 2004 vorgelegt wurde. Allem Anschein nach habe die Kommission seither keine Schritte unternommen, um ihre Prüfung fortzusetzen.

–      Der Mitteilung der Kommission zufolge könne die Prüfung einer Vertragsverletzungsbeschwerde zu einer von zwei möglichen Entscheidungen führen. Die Kommission entscheide entweder, eine Aufforderung zur Äußerung abzusenden, d. h. offiziell ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten, oder den Vorgang einzustellen. In diesem besonderen Fall sei die Kommission bezüglich der Prüfung der Beschwerde einfach untätig geblieben.

–      Die Kommission habe mit Nachdruck auf ihre Ermessungsbefugnis verwiesen und betont, dass die in ihrer Mitteilung festgehaltene Verpflichtung ihre Ermessensbefugnis nicht einschränke, wenn eine andere Vorgehensweise gerechtfertigt erscheine. Die Kommission habe jedoch bestätigt, dass in ihrer Mitteilung „die Verwaltungsmaßnahmen zugunsten des Beschwerdeführers“ festgelegt seien, „zu deren Einhaltung (die Kommission) sich bei der Bearbeitung seiner Beschwerde und der Prüfung des entsprechenden Vertragsverletzungsdossiers verpflichtet“. Der Ermessungsbefugnis der Kommission werde Rechnung getragen, doch wäre die Kommission befugt, immer dann von den Bestimmungen der Mitteilung abzuweichen, wenn sie dies für gerechtfertigt hält, so wäre die Mitteilung ohne jegliche Bedeutung. Die Ermessensbefugnis der Kommission müsse im Rahmen der Mitteilung ausgeübt werden, und die Tatsache, dass die Kommission zu keiner Entscheidung gelangt sei, lasse sich nicht mit ihrer Ermessensbefugnis rechtfertigen.

–      Zudem habe die Kommission Aspekte nicht bearbeitet, die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs unabhängig seien.

–      Der festgestellte Missstand in der Verwaltungstätigkeit bestehe darin, dass die Kommission in Bezug auf die Vertragsverletzungsbeschwerde des Beschwerdeführers keine endgültige Haltung eingenommen habe. Wenn eine Prüfung abgeschlossen und eine Vertragsverletzung festgestellt worden sei, könne die Kommission nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Angelegenheit vor den Gerichtshof bringe oder nicht. Eine solche Entscheidung sei von der Kommission jedoch bislang nicht getroffen worden.

–      Die Frage, ob die Kommission offenkundig die Grenzen ihres Ermessenspielraums überschritten hat, könnte Thema einer Debatte im Europäischen Parlament sein.

  • [1]  ABl. L 307 vom 13.12.1993, S. 18-24.
  • [2]  ABl. L 299 vom 18.11.2003, S. 9-19.

STELLUNGNAHME des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (29.5.2008)

für den Petitionsausschuss

zum Sonderbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten im Anschluss an den Empfehlungsentwurf an die Europäische Kommission in der Beschwerde 3453/2005/GG
(2007/2264(INI))

Verfasser der Stellungnahme: Alejandro Cercas

VORSCHLÄGE

Der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten ersucht den federführenden Petitionsausschuss, folgende Vorschläge in seinen Entschließungsantrag zu übernehmen:

1.  hebt die Schlussfolgerung des Europäischen Bürgerbeauftragten hervor, dass die Unterlassung der Behandlung der Beschwerde des Beschwerdeführers durch die Kommission, was objektiv als eine unbegründete Verzögerung von mehreren Jahren festgestellt wurde, einen Verwaltungsmissstand darstellt;

2.  teilt den Standpunkt des Europäischen Bürgerbeauftragten, dass die Kommission die Beschwerde des Beschwerdeführers so schnell und so sorgfältig wie möglich bearbeiten sollte;

3.  betont, dass dieser konkrete Fall einen Missbrauch des Ermessensspielraums darstellen kann, mit dem die Kommission ihre Pflichten auslegt, wie sie in Artikel 211 des EG-Vertrags, der ihr die Rolle der Hüterin der Verträge zuweist, enthalten sind, insofern der Ermessensspielraum, den sie sich in ihrer Mitteilung zur Verbesserung der Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts selbst einräumt (KOM(2202)0725), erheblich überschritten wurde und zwar derart, dass man die Ansicht vertreten könnte, sie habe eher willkürlich als in Ausübung ihres Ermessensspielraums gehandelt;

4.  weist ferner darauf hin, dass das Gemeinschaftsrecht, solange es nicht durch ein späteres Gesetz verändert wird, buchstabengetreu angewendet werden muss und dass kein Änderungsvorschlag der Kommission eine Rechtslücke (vacatio legis) herbeiführen kann, die die praktische Rechtfertigung der Kommission für ihre Untätigkeit im konkreten Fall darstellte;

5.  stellt fest, dass noch nicht berücksichtigt wurde, dass seit dem 1. Januar 2004 ein deutsches Gesetz erlassen wurde, das jedoch eine Übergangsvorschrift zu den bestehenden Tarifverträgen enthielt, die bis zum 31. Dezember 2005 abweichende Regelungen von der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 zu bestimmten Aspekten der Arbeitszeitgestaltung[1] erlaubte, eine Frist, die später durch einen Beschluss des Bundesrats bis zum 31. Dezember 2006 verlängert wurde; zeigt sich bei diesem Stand der Dinge überrascht und hält es für notwendig, dass die Kommission die deutsche Rechtsvorschrift und alle Tarifverträge, in denen Ausnahmen von derArbeitszeitgesetzgebung vereinbart sind, überprüfen muss, um zu prüfen, ob die Richtlinie 2003/88 /EG dadurch umgesetzt wird;

6.  weist darauf hin, dass dieser Fall nur ein Beispiel für die systematische Nichteinhaltung und die Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Grundprinzipien der Richtlinie 2003/88/EG in mehreren Mitgliedstaaten ist, wie dem Bericht über die Folgenabschätzung (SEK(2004)1154) zu entnehmen ist, den die Kommission vor der Initiative zur geplanten Überarbeitung dieser Richtlinie erstellte; erinnert die Kommission daran, dass dem Bürgerbeauftragten weitere Beschwerden übermittelt wurden, die die Nichteinhaltung der Richtlinie 2003/88/EG durch andere Mitgliedstaaten betreffen;

7.  fordert aus all diesen Gründen ferner alle Mitgliedstaaten auf, sämtliche Gesundheits- und Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz ordnungsgemäß und gemäß dem Grundsatz anzuwenden, dass im Zweifelsfall die Auslegung vorzuziehen ist, die der Gesundheit und der Sicherheit des Arbeitnehmers (in dubio pro operario) Vorrang einräumt.

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS

Datum der Annahme

29.5.2008

 

 

 

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

35

1

1

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Jan Andersson, Edit Bauer, Philip Bushill-Matthews, Alejandro Cercas, Derek Roland Clark, Luigi Cocilovo, Jean Louis Cottigny, Jan Cremers, Harald Ettl, Richard Falbr, Roger Helmer, Stephen Hughes, Jan Jerzy Kułakowski, Jean Lambert, Bernard Lehideux, Elizabeth Lynne, Thomas Mann, Maria Matsouka, Elisabeth Morin, Juan Andrés Naranjo Escobar, Csaba Őry, Marie Panayotopoulos-Cassiotou, Pier Antonio Panzeri, Rovana Plumb, Jacek Protasiewicz, Bilyana Ilieva Raeva, José Albino Silva Peneda, Jean Spautz, Gabriele Stauner, Ewa Tomaszewska, Anne Van Lancker, Gabriele Zimmer

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen)

Françoise Castex, Gabriela Creţu, Sepp Kusstatscher, Roberto Musacchio, Ria Oomen-Ruijten, Csaba Sógor, Tatjana Ždanoka

  • [1]  ABl. L 299 vom 18.11.2003, S. 9

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS

Datum der Annahme

25.6.2008

 

 

 

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

14

1

0

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Sir Robert Atkins, Margrete Auken, Inés Ayala Sender, Victor Boştinaru, Michael Cashman, Proinsias De Rossa, David Hammerstein, Marian Harkin, Carlos José Iturgaiz Angulo, Marcin Libicki, Manolis Mavrommatis, Mairead McGuinness, Marie Panayotopoulos-Cassiotou

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen)

Margie Sudre

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellv. (Art. 178 Abs. 2)

Georgios Toussas