BERICHT über den Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Umberto Bossi

22.4.2009 - (2009/2020(IMM))

Rechtsausschuss
Berichterstatter: Klaus-Heiner Lehne

Verfahren : 2009/2020(IMM)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A6-0269/2009
Eingereichte Texte :
A6-0269/2009
Aussprachen :
Abstimmungen :
Angenommene Texte :

VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

über den Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte von Umberto Bossi

(2009/2020(IMM))

Das Europäische Parlament,

–   befasst mit einem von Umberto Bossi am 19. Februar 2009 übermittelten und am 9. März 2009 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Schutz seiner Immunität im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft des Bezirksgerichts Verbania,

–   gestützt auf die Artikel 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,

–   in Kenntnis der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Mai 1964, vom 10. Juli 1986 und vom 21. Oktober 2008[1],

–   gestützt auf Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 7 seiner Geschäftsordnung,

–   in Kenntnis des Berichts des Rechtsausschusses (A6‑0269/2009),

1.  beschließt, die Immunität und die Vorrechte von Umberto Bossi zu schützen;

2.  beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich an die zuständigen Behörden der Italienischen Republik zu übermitteln.

  • [1]  Rechtssache 101/63, Wagner/Fohrmann und Krier, Slg. 1964, S. 419, Rechtssache 149/85, Wybot/Faure und andere, Slg. 1986, S. 2403 und Rechtssache C-201/07 Marra/De Gregorio und Clemente, die noch nicht in der Sammlung der Rechtsprechung veröffentlicht ist.

BEGRÜNDUNG

I.         SACHVERHALT

In der Sitzung vom 9. März 2009 gab der Präsident des Europäischen Parlaments bekannt, dass er mit Schreiben vom 24. Februar 2009 einen Antrag auf Verteidigung der parlamentarischen Immunität von Umberto Bossi (ehemaliges Mitglied) erhalten habe, der gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Geschäftsordnung an den Rechtsausschuss weitergeleitet worden sei.

Der Antrag bezieht sich auf ein Ermittlungsverfahren gegen Umberto Bossi im Zusammenhang mit einer Straftat gemäß §§ 61 Absatz 10 und 612 Absätze I und II des italienischen Strafgesetzbuches, das bei der Staatsanwaltschaft des Bezirksgerichts Verbania anhängig ist.

Am 6. April 2008 bezog sich Umberto Bossi in einer Wahlkampfveranstaltung in Verbania mit folgenden Bemerkungen auf den Innenminister Giuliano Amato:

„Hier kann man nicht wählen, man kann nicht nur eine Partei in einem Kästchen ankreuzen, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, sie haben zwei Wahlsymbole zusammengesetzt, deshalb ... warten wir ab ... passt auf, diese Wahlen könnten damit enden, dass die Leute vielleicht zum Gewehr greifen und diese Schweine, die römischen Zentralisten, jagen ... um dieses Gesindel auszuräuchern, das die Wahlen verhindern will ... sie haben ... sie haben Wahlzettel gedruckt, auf denen zwei Symbole zusammenstehen, so dass man, wenn man für das eine stimmt, zwangsläufig auch für andere stimmt ... und deshalb ist es in der Wahlkabine dann ungültig, das ist doch Wahlmanipulation ... das ist alles abgekartet ... sie wissen nicht einmal, ob die Wahlscheine noch rechtzeitig gedruckt werden können ... die sind alle Abschaum, die Linke, das ist nur Gesindel und Verbrecher ... aber passt auf, ihr Verbrecher, passt bloß auf ... Padanien ... die Padanier, die Lombarden, die Veneter, die Piemontesen haben keine Angst vor euch ... wir kriegen euch, wenn wir wollen.“

II.       RECHTSVORSCHRIFTEN UND ALLGEMEINE ÜBERLEGUNGEN ZUR IMMUNITÄT DER MITGLIEDER DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

1. Die Artikel 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 lauten wie folgt:

Artikel 9:

Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.

Artikel 10:

Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

           a)        steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu;

           b)        können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaates weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.

2. Im Europäischen Parlament unterliegt das Verfahren den Vorschriften der Artikel 6 und 7 der Geschäftsordnung. Die entsprechenden Bestimmungen dieser Artikel lauten wie folgt:

Artikel 6 – Aufhebung der Immunität:

1. Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten ist es vorrangiges Ziel des Parlaments, seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung zu wahren und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherzustellen.

[...]

3. Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds auf Schutz der Immunität und der Vorrechte wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

[...]"

Artikel 7 – Immunitätsverfahren:

1. Der zuständige Ausschuss prüft die Anträge auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität und der Vorrechte unverzüglich und in der Reihenfolge ihres Eingangs.

2. Der Ausschuss unterbreitet einen Vorschlag für einen Beschluss, der sich darauf beschränkt, die Annahme oder Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität und der Vorrechte zu empfehlen.

3. Der Ausschuss kann die betreffende Behörde um jede Information oder Auskunft ersuchen, die er für erforderlich hält, um sich eine Meinung darüber bilden zu können, ob die Immunität aufzuheben oder zu verteidigen ist. Das betreffende Mitglied erhält die Möglichkeit, gehört zu werden. Das Mitglied kann alle Schriftstücke vorlegen, die ihm in diesem Zusammenhang zweckmäßig erscheinen. Es kann sich durch ein anderes Mitglied vertreten lassen.

4. Wurde der Antrag auf Aufhebung der Immunität aufgrund von mehreren Anklagepunkten formuliert, so kann jeder davon Gegenstand eines gesonderten Beschlusses sein. In Ausnahmefällen kann im Bericht des Ausschusses vorgeschlagen werden, dass die Aufhebung der Immunität ausschließlich die Strafverfolgung betrifft, ohne dass gegen das Mitglied, solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, Maßnahmen wie Festnahme, Haft oder sonstige ergriffen werden können, die es an der Ausübung seines Mandats hindern.

[...]

6. In Fällen des Schutzes eines Vorrechts oder der Immunität prüft der Ausschuss, inwieweit die Umstände eine verwaltungstechnische oder sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Mitglieder bei der An- oder Abreise zum bzw. vom Tagungsort des Parlaments oder bei der Abgabe einer Meinung oder einer Abstimmung im Rahmen der Ausübung des Mandats darstellen oder unter die Aspekte von Artikel 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen fallen, die nicht einzelstaatlichem Recht unterliegen, und unterbreitet einen Vorschlag, um die betreffende Behörde zu ersuchen, die erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.

7. Der Ausschuss kann eine mit Gründen versehene Stellungnahme zur Zuständigkeit der betreffenden Behörde und zur Zulässigkeit des Antrags abgeben, doch äußert er sich in keinem Fall zur Schuld oder Nichtschuld des Mitglieds bzw. zur Zweckmäßigkeit einer Strafverfolgung der dem Mitglied zugeschriebenen Äußerungen oder Tätigkeiten, selbst wenn er durch die Prüfung des Antrags umfassende Kenntnis von dem zugrunde liegenden Sachverhalt erlangt.

[...]"

Einschlägige nationale Rechtsvorschriften

Verfassung der Italienischen Republik, geändert durch Verfassungsgesetz Nr. 3 vom 29. Oktober 1993, Artikel 68 [Haftung, Immunität]

1. Die Mitglieder des Parlaments können wegen der in Ausübung ihres Mandats vorgenommenen Meinungsäußerungen und Abstimmungen nicht verfolgt werden.

2. Ohne die Zustimmung seiner Kammer darf kein Mitglied des Parlaments einem Strafverfahren unterzogen werden; es darf nicht verhaftet oder auf andere Weise der persönlichen Freiheit beraubt werden, keiner Leibesvisitation oder Hausdurchsuchung unterzogen werden, es sei denn, es werde beim Begehen einer Tat überrascht, für die ein Haftbefehl erlassen werden muss.

3. Die gleiche Genehmigung ist erforderlich, um, in welcher Form auch immer, die Gespräche oder sonstige Kommunikation von Mitgliedern des Parlaments abzuhören oder ihre Korrespondenz zu beschlagnahmen.

III.      BEGRÜNDUNG FÜR DEN VORGESCHLAGENEN BESCHLUSS

Herr Bossi beantragt die Anwendung von Artikel 68 Absatz 1 der italienischen Verfassung, in dem es heißt: „Die Mitglieder des Parlaments können wegen der in Ausübung ihres Mandats vorgenommenen Meinungsäußerungen und Abstimmungen nicht verfolgt werden.“

Dieser Antrag sollte als Antrag auf Anwendung von Artikel 9 des Protokolls aufgefasst werden, da Herr Bossi (ehemaliges) Mitglied des Europäischen Parlaments ist.

Gemäß Artikel 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen genießen die Mitglieder des Europäischen Parlaments „wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung“ uneingeschränkten Schutz vor gerichtlicher Verfolgung.

Nun ist es so, dass sich Herr Bossi mit seinen Bemerkungen auf einer Wahlkampfveranstaltung lediglich zu allgemein zugänglichen Fakten geäußert hat, denen politische Relevanz in Italien und Europa zukam, da sie unmittelbar im Zusammenhang mit dem Recht der Wähler auf eine faire Wahl und ihrem Interesse daran standen, dass alle Parteien und Kandidaten ordnungsgemäß dazu zugelassen werden. Die möglichst weitgehende Ausübung eines solchen Rechtes betraf jeden europäischen Bürger, da sie ein besonderer Ausdruck der allgemeinen und grundlegenden Freiheiten war, die in Artikel 6 des EUV niedergelegt sind.

Er übte daher sein Amt als Mitglied des Parlaments aus, indem er gegenüber seiner Wählerschaft seine Ansicht zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse zum Ausdruck brachte. Die Tatsache, dass der Gegenstand seiner Äußerungen das Verhalten eines Politikers und Trägers eines öffentlichen Amtes war, stellt sie außerdem in den Kontext einer legitimen politischen Diskussion.

Außerdem ist der Versuch, Mitglieder des Parlaments durch die Anstrengung eines Gerichtsverfahrens davon abzuhalten, ihre Meinungen über Angelegenheiten von legitimem öffentlichem Interesse und von allgemeiner Relevanz kundzutun, in einer demokratischen Gesellschaft inakzeptabel und ein offenkundiger Verstoß gegen Artikel 9 des Protokolls, der darauf abzielt, die Meinungsfreiheit der Mitglieder bei der Ausübung ihres Amtes im Interesse des Parlaments als Institution zu schützen.

IV.      SCHLUSSFOLGERUNG

Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ist der Rechtsausschuss der Auffassung, dass die Artikel 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 die Äußerungen von Umberto Bossi in vollem Umfang abdecken, und beschließt deshalb, seine Immunität zu verteidigen.

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS

Datum der Annahme

21.4.2009

 

 

 

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

10

0

0

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Carlo Casini, Monica Frassoni, Giuseppe Gargani, Lidia Joanna Geringer de Oedenberg, Klaus-Heiner Lehne, Manuel Medina Ortega, Aloyzas Sakalas, Eva-Riitta Siitonen, Francesco Enrico Speroni, Tadeusz Zwiefka