BERICHT zur Lage der Frau in Nordafrika
25.2.2013 - (2012/2102(INI))
Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter
Berichterstatterin: Silvia Costa
ENTWURF EINER ENTSCHLIESSUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
zur Lage der Frau in Nordafrika
Das Europäische Parlament,
– gestützt auf Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 5 Unterabsatz 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und Artikel 8 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),
– unter Hinweis auf Artikel 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
– unter Hinweis auf die Strategische Partnerschaft Afrika-EU – eine gemeinsame Strategie Afrika-EU,
– unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission vom 21. September 2010 mit dem Titel „Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010–2015“ (COM(2010)0491),
– unter Hinweis auf die gemeinsamen Mitteilungen der Kommission und der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik mit den Titeln „Eine Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand“ (COM(2011)0200), „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“ (COM(2011)0303) und „Umsetzung einer neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik“ (COM(2012)0014),
– unter Hinweis auf die thematischen und geografischen Finanzierungsinstrumente der Kommission zur Förderung der Demokratisierung und der Menschenrechte, wie etwa das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) und das Europäische Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument (ENPI),
– unter Hinweis auf die Strategie der EU zur Beseitigung des Menschenhandels 2012–2016 (COM(2012)0286),
– unter Hinweis auf die Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu dem Thema „Gleichstellung der Geschlechter: eine Voraussetzung für den Erfolg des Arabischen Frühlings“[1],
– unter Hinweis auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) vom 18. Dezember 1979, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 und das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie vom 25. Mai 2000,
– unter Hinweis auf die Resolution Nr. 67/167 der VN-Generalversammlung vom 20. Dezember 2012 zur Genitalverstümmelung von Frauen,
– unter Hinweis auf die Vierte Weltfrauenkonferenz vom September 1995 in Peking und die Pekinger Erklärung und Aktionsplattform sowie die Abschlussdokumente der Sondertagungen der Vereinten Nationen zu Peking +5, Peking +10 und Peking +15 betreffend weitere Maßnahmen und Initiativen zur Umsetzung der Pekinger Erklärung und Aktionsplattform, die am 9. Juni 2000, 11. März 2005 bzw. 2. März 2010 angenommen wurden,
– unter Hinweis auf das Protokoll zu der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker über die Rechte der Frauen in Afrika,
– unter Hinweis auf die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum,
– unter Hinweis auf den Istanbul-/Marrakesch-Prozess und die Schlussfolgerungen der Minister im Rahmen der ersten und zweiten Europa-Mittelmeer-Ministerkonferenz zum Thema „Die Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft“, die am 14./15. November 2006 in Istanbul bzw. am 11./12. November 2009 in Marrakesch stattgefunden haben,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der regionalen Dialoge in der Region Naher Osten und Nordafrika (MENA) zwischen der Zivilgesellschaft, staatlichen Akteuren und politischen Entscheidungsträgern, die im Juni und November 2012 in Beirut und Amman im Rahmen des von der EU finanzierten regionalen Projekts „Förderung einer gemeinsamen Agenda für die Gleichstellung von Frauen und Männern durch den Istanbul-Prozess“ stattgefunden haben,
– unter Hinweis auf das gemeinsame Regionalprogramm für den südlichen Mittelmeerraum mit dem Titel „Spring Forward for Women“, das von der Kommission und von UN Women verwaltet wird,
– unter Hinweis auf „A Report Card on Adolescents“ (Ein Bericht über Jugendliche), die 10. Ausgabe der UNICEF-Berichtsreihe „Fortschritt für Kinder“,
– unter Hinweis auf den Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt von 2005 mit dem Titel „Towards the Rise of Women in the Arab World“ und den entsprechenden Bericht von 2009 mit dem Titel „Challenges for Human Security in the Arab Region“, insbesondere auf dessen Kapitel „The personal insecurity of vulnerable groups“,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 17. Februar 2011 zur Lage in Ägypten[2],
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 10. März 2011 zu den südlichen Nachbarländern der EU, insbesondere Libyen[3],
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 7. April 2011 zur Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik – südliche Dimension[4],
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 7. April 2011 zum Einsatz von sexueller Gewalt in Konflikten in Nordafrika und im Nahen Osten[5],
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 13. März 2012 zu der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Europäischen Union – 2011[6],
– unter Hinweis auf seine Empfehlung vom 29. März 2012 an den Rat zu den Modalitäten der möglichen Einrichtung eines Europäischen Fonds für Demokratie (EFD)[7],
– gestützt auf Artikel 48 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter und der Stellungnahme des Entwicklungsausschusses (A7-0047/2013),
A. in der Erwägung, dass viele Frauen, insbesondere junge Frauen, maßgeblich am Arabischen Frühling in Nordafrika beteiligt waren und von Anfang an an Demonstrationen, öffentlichen und politischen Debatten sowie Wahlen teilgenommen und eine aktive Rolle unter anderem in der Zivilgesellschaft, in den sozialen Medien und auf Blogs gespielt haben, weshalb sie in ihren Ländern Schlüsselfiguren für den demokratischen Wandel sowie für die Förderung der Entwicklung und des Zusammenhalts waren und immer noch sind;
B. in der Erwägung, dass diese Länder einen Prozess des politischen und demokratischen Wandels und der Änderung und Anpassung ihrer Verfassungen durchlaufen, an dem Frauen, sei es als Abgeordnete, gewählte Vertreterinnen oder Mitglieder der Zivilgesellschaft, aktiv und kontinuierlich beteiligt sind; in der Erwägung, dass das Ergebnis dieses Prozesses die demokratische Funktionsweise sowie die Grundrechte und -freiheiten dieser Länder bestimmen und Einfluss auf den Status von Frauen haben wird;
C. in der Erwägung, dass die Rolle, welche die Frauen während der Revolution gespielt haben, ihnen auch im Prozess des demokratischen Wandels und beim Wiederaufbau der Staaten zukommt; in der Erwägung, dass der Erfolg dieser Prozesse in hohem Maße von einer umfassenden Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung abhängt;
D. in der Erwägung, dass Frauen in diesen Ländern im Laufe der letzten Jahrzehnte – wenn auch ungleichmäßig – im Hochschulwesen, in Organisationen der Zivilgesellschaft, in Unternehmen und in Institutionen präsenter geworden sind, obwohl unter diktatorischen und paternalistischen Regimen die effektive Umsetzung von Rechten nur begrenzt möglich war und die Beteiligung von Frauen zahlreichen restriktiven Bedingungen unterlag;
E. in der Erwägung, dass die Rechte der Frau eines der am meisten debattierten Themen im aktuellen politischen Prozess darstellen und das Hauptanliegen von Frauen sind, da sie der Gefahr einer Gegenreaktion und Einschüchterung gegenüberstehen, welche die Chancen auf Verwirklichung des Ziels einer gemeinsamen Demokratie und eines gleichen bürgerrechtlichen Status mindern könnten;
F. in der Erwägung, dass einige allgemeine geschlechtsspezifische Fragen, wie die Rechte von Mädchen und Frauen als integraler Bestandteil der universellen Menschenrechte, die Gleichberechtigung und die Einhaltung internationaler Übereinkommen, im Mittelpunkt der Verfassungsdebatten stehen;
G. in der Erwägung, dass die Vertretung von Frauen in der Politik sowie in Entscheidungsträgerpositionen in allen Bereichen von einem Land zum anderen variiert, jedoch enttäuschend niedrig ist, wenn sie mit der starken weiblichen Beteiligung an den einzelnen Aufstandsbewegungen und anschließenden Wahlen sowie dem steigenden Anteil von Frauen mit hohem Bildungsgrad verglichen wird;
H. in der Erwägung, dass die neue Nachbarschaftspolitik der EU die Gleichstellung der Geschlechter, die Stärkung der Rolle der Frau und die Unterstützung der Zivilgesellschaft stärker gewichten sollte;
I. in der Erwägung, dass sich die spezifische finanzielle Unterstützung der EU für geschlechtsspezifische Fragen in der Region derzeit auf 92 Mio. EUR beläuft, von denen 77 Mio. auf bilateraler Ebene und 15 Mio. auf regionaler Ebene eingesetzt werden;
J. in der Erwägung, dass das mit einem Budget in Höhe von 45 Mio. EUR größte der bilateralen Programme der EU für die „Förderung der Gleichstellung der Geschlechter“ in Marokko umgesetzt werden soll; sowie in der Erwägung, dass in Ägypten ein Programm mit einem Budget von 4 Mio. Euro von UN Women umgesetzt werden soll, während UN Women in Tunesien und Libyen bilaterale Programme für Frauen im Rahmen der Vorbereitung der Wahlen umsetzt;
K. in der Erwägung, dass die sozioökonomische Lage, insbesondere die hohe Jugend- und Frauenarbeitslosigkeit und die Armut, die oft zu einer Marginalisierung der Frauen und zu deren zunehmender Verletzlichkeit führte, zusammen mit dem Streben nach Rechten, Würde und Gerechtigkeit zu den hauptsächlichen Gründen für die Aufstände in der Region zählte;
L. in der Erwägung, dass während und nach den Aufständen in der Region zahlreiche Akte sexueller Gewalt an Mädchen und Frauen verübt wurden, einschließlich Vergewaltigungen und Jungfräulichkeitstests, die – unter anderem von den Sicherheitskräften – als politisches Druckmittel gegen Frauen verwendet wurden, sowie sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit; in der Erwägung, dass die geschlechtsbezogene Einschüchterung verstärkt von extremistischen Bewegungen benutzt wird; ferner in der Erwägung, dass laut Umfragen 80 % der ägyptischen Frauen bereits sexuelle Belästigung erlebt haben;
M. in der Erwägung, dass die Lage von weiblichen Migranten und von Migranten im Kindesalter aufgrund der Unsicherheit in einigen Teilen der Region und der Wirtschaftskrise sogar noch kritischer ist;
N. in der Erwägung, dass die Gefahr des Menschenhandels in Ländern steigt, die sich im Wandel befinden, und in Gebieten, in denen Zivilisten von Konflikten betroffen sind oder in denen sich zahlreiche Flüchtlinge oder Binnenvertriebene aufhalten;
O. in der Erwägung, dass die Frage, ob der Islam in der Verfassung als Religion des Volkes oder des Staates festzulegen ist oder nicht, ein grundlegendes Thema im Rahmen der Verfassungsdebatten ist;
P. in der Erwägung, dass die Beteiligung der Bürger am ägyptischen Verfassungsreferendum vom Dezember 2012 nur unzureichend war und dass das Referendum nicht die Zustimmung aller Parteien hatte, sodass einige Fragen und Interpretationsspielräume zu wichtigen konstitutionellen Sachverhalten, darunter den Rechten von Frauen, offengeblieben sind;
Q. in der Erwägung, dass die parlamentarische Dimension der Union für den Mittelmeerraum (UfM) und der Istanbul-/Marrakesch-Prozess zu den besten Instrumenten für Gesetzgeber gehören, wenn es darum geht, sich über all diese Fragen auszutauschen, und dass die Parlamentarische Versammlung der Union für den Mittelmeerraum auch einen Ausschuss für die Rechte der Frau umfasst, der richtig eingesetzt werden muss;
Frauenrechte
1. fordert die staatlichen Stellen der betroffenen Länder auf, in ihren Verfassungen den Grundsatz der Gleichstellung von Männern und Frauen unwiderruflich zu verankern, und somit ausdrücklich jegliche Art der Diskriminierung von Frauen zu verbieten, Fördermaßnahmen zu ermöglichen und die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Frauen zu festigen; fordert die Gesetzgeber dieser Länder auf, alle bestehenden Gesetze zu überarbeiten und den Gleichstellungsgrundsatz in alle Entwürfe oder Gesetzesvorschläge, die zur Diskriminierung von Frauen führen könnten – beispielsweise in den Bereichen Eheschließung, Scheidung, Sorgerecht für Kinder, Elternrechte, Staatsangehörigkeit, Erbrecht und Rechtsfähigkeit –, aufzunehmen, und zwar im Einklang mit internationalen und regionalen Instrumenten, sowie innerstaatliche Mechanismen zum Schutz der Rechte der Frau darin zu verankern;
2. fordert die staatlichen Stellen auf, die Gleichstellung von Frauen und Männern in den Strafgesetzbüchern und in den Sozialversicherungssystemen zu berücksichtigen;
3. hebt die Tatsache hervor, dass die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen ein wesentliches Element der Demokratie darstellt und dass die Beteiligung von Frauen an der Regierungsführung eine Voraussetzung für sozioökonomischen Fortschritt, sozialen Zusammenhalt und eine ausgewogene demokratische Staatsführung ist; fordert daher alle Länder nachdrücklich auf, im Rahmen ihrer Maßnahmen zur Förderung der Demokratie der Gleichstellung der Geschlechter Vorrang einzuräumen;
4. betont, dass der derzeitige Wandel in Nordafrika nur dann zu demokratischen politischen Systemen und Gesellschaften führen wird, wenn die Gleichstellung der Geschlechter einschließlich der freien Wahl der Lebensform erreicht worden ist;
5. fordert die staatlichen Stellen in Nordafrika auf, das CEDAW, die dazugehörigen Protokolle und alle internationalen Menschenrechtsübereinkommen vollständig umzusetzen und somit alle Vorbehalte gegenüber dem CEDAW auszuräumen; ersucht die staatlichen Stellen in Nordafrika ferner, mit den VN-Mechanismen zum Schutz der Rechte von Mädchen und Frauen zusammenzuarbeiten;
6. verweist auf die offene Debatte unter weiblichen islamischen Gelehrten im Hinblick auf die Auslegung religiöser Texte aus einer Perspektive der Rechte der Frau und der Gleichstellung der Geschlechter;
7. weist erneut darauf hin, wie wichtig es ist, Meinungs- und Religionsfreiheit sowie Pluralismus zu gewährleisten, und zwar auch durch die Förderung des gegenseitigen Respekts und des interreligiösen Dialogs, insbesondere zwischen Frauen;
8. empfiehlt den betreffenden Staaten, eine integrative, umfassende und freiwillige Debatte mit allen betroffenen Akteuren – darunter der Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern, den örtlichen Frauenorganisationen, den lokalen Behörden und den religiösen Führern – anzuregen und darauf zu achten, dass die Rechte der Frauen und der Grundsatz der Gleichstellung von Männern und Frauen geschützt und garantiert werden;
9. verweist darauf, dass keine monotheistische Religion Gewalt zwischen den Menschen lehrt oder dazu benutzt werden darf, diese zu rechtfertigen;
10. fordert die Länder Nordafrikas auf, Gesetze zu erlassen und konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um alle Formen von Gewalt gegenüber Frauen unter Strafandrohung zu verbieten, einschließlich häuslicher und sexueller Gewalt, sexueller Belästigung und schädlicher traditioneller Praktiken wie Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen oder Zwangsehen, insbesondere im Falle Minderjähriger; hebt die Bedeutung des Opferschutzes und der Bereitstellung besonderer Dienstleistungen hervor; begrüßt die jüngste Kampagne gegen häusliche Gewalt der tunesischen Ministerin für Frauen und Familienangelegenheiten sowie den kontinuierlichen Einsatz Marokkos, das 2012 seine zehnte nationale Kampagne zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen organisiert hat, für diese Sache;
11. weist auf die doppelte Diskriminierung hin, der lesbische Frauen ausgesetzt sind, und fordert die staatlichen Stellen in Nordafrika auf, Homosexualität zu entkriminalisieren und dafür zu sorgen, dass Frauen nicht aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminiert werden;
12. betont, wie wichtig die Bekämpfung der Straffreiheit im Hinblick auf jegliche Gewalt – insbesondere sexuelle Gewalt – gegen Frauen ist, indem sichergestellt wird, dass derartige Verbrechen wirksam untersucht, verfolgt und streng bestraft werden, dass Minderjährige durch das Rechtssystem angemessen geschützt werden und dass alle Frauen vollständigen Zugang zur Justiz haben, und zwar ohne jegliche religiöse und/oder ethnische Diskriminierung;
13. fordert die nationalen Regierungen auf, ausreichende Schulungen anzubieten, um sicherzustellen, dass die Mitarbeiter des Justizwesens und die Sicherheitskräfte angemessen gerüstet sind, um mit sexuellen Gewaltverbrechen und deren Opfern umzugehen; unterstreicht ferner die Bedeutung einer geschlechtersensiblen Übergangsjustiz;
14. verurteilt die Anwendung jeder Art von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, vor, während und nach den Aufständen und deren kontinuierliche Anwendung als politisches Druckmittel sowie als Mittel zur Unterdrückung, Einschüchterung und Erniedrigung von Frauen; fordert die nationalen Justizsysteme auf, diese Verbrechen mit geeigneten Mitteln zu verfolgen, und betont, dass der Internationale Strafgerichtshof eingreifen könnte, wenn auf nationaler Ebene kein gerichtliches Vorgehen möglich ist;
15. weist darauf hin, dass Frauen in Nordafrika während und nach den Aufständen höherer Verletzlichkeit und Viktimisierung ausgesetzt waren;
16. fordert die nordafrikanischen Länder auf, eine Strategie für diejenigen zu entwickeln, die während und nach den Aufständen Opfer sexueller Gewalt wurden, um ihnen eine angemessene Entschädigung sowie wirtschaftliche, soziale und psychologische Unterstützung zu bieten; fordert die staatlichen Stellen der nordafrikanischen Länder auf, vorrangig dafür zu sorgen, dass die Täter vor Gericht gebracht werden;
17. verurteilt die Praxis der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen, die in einigen Gebieten Ägyptens immer noch angewandt wird, ruft die ägyptischen Behörden auf, das Verbot stärker durchzusetzen und fordert die Kommission auf, Programme einzurichten, die auf die Beseitigung dieser Praxis abzielen, und zwar auch unter Beteiligung nichtstaatlicher Organisationen und durch gesundheitliche Aufklärung; betont darüber hinaus die Bedeutung der Sensibilisierung, der Mobilisierung von Gemeinschaften und der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie die Notwendigkeit der Einbeziehung nationaler, regionaler und lokaler Behörden und der Zivilgesellschaft sowie der religiösen Führer und der Führer von Gemeinschaften, um die Praxis der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen zu bekämpfen;
18. begrüßt die Tatsache, dass immer mehr Staaten der Region sich in den vergangenen Jahrzehnten entschlossen haben, das gesetzliche Heiratsalter für Mädchen anzuheben (16 Jahre in Ägypten, 18 Jahre in Marokko, 20 Jahre in Tunesien und Libyen), und verurteilt jeglichen Versuch, das Alter wieder zu senken oder die Reichweite dieser Reformen einzuschränken, da eine frühe Eheschließung – bei der es sich oft um eine Zwangsehe handelt – nicht nur den Rechten der Mädchen, ihrer Gesundheit, ihrer Psyche und ihrer Bildung schadet, sondern auch zu anhaltender Armut beiträgt, wodurch das Wirtschaftswachstum negativ beeinflusst wird;
19. betont, dass keine Diskriminierung oder Gewalt gegen Frauen oder Mädchen durch Kultur, Tradition oder Religion gerechtfertigt werden kann;
20. unterstreicht die Notwendigkeit, vor allem bei der Schaffung neuer Strategien in der Gesundheitspolitik den Zugang zu Sozialschutz und zu Gesundheits- und anderen Dienstleistungen für Frauen und Mädchen zu erleichtern, insbesondere im Hinblick auf die Gesundheit von Müttern, die sexuelle und die reproduktive Gesundheit sowie die entsprechenden Rechte; fordert die staatlichen Stellen auf, das Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung und die VN-Agenda für Bevölkerung und Entwicklung vollständig umzusetzen, und weist sie auf die Schlussfolgerungen des Berichts des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) mit dem Titel „Das Recht auf Entscheidung – Familienplanung, Menschenrechte und Entwicklung“ hin;
21. betont, wie wichtig spezielle Maßnahmen zur Information von Frauen über deren Rechte sowie die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und staatlichen Einrichtungen bei der Vorbereitung von Reformen und der Umsetzung der Antidiskriminierungsgesetze sind;
Beteiligung von Frauen an Entscheidungsverfahren
22. betont, dass die aktive Beteiligung von Frauen am öffentlichen und politischen Leben, als Demonstrantinnen, Wählerinnen, Kandidatinnen und gewählte Vertreterinnen, deren Willen zeigt, ihre Bürgerrechte umfassend wahrzunehmen und für den Aufbau der Demokratie zu kämpfen; weist darauf hin, dass die jüngsten Ereignisse des Arabischen Frühlings gezeigt haben, dass Frauen im revolutionären Geschehen eine wichtige Rolle spielen können; fordert daher, dass alle notwendigen Maßnahmen, einschließlich positiver Maßnahmen und Quoten, ergriffen werden, um Fortschritte auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Beteiligung von Frauen an Entscheidungsverfahren auf allen Regierungsebenen (von der lokalen bis zur nationalen Ebene, von exekutiven bis legislativen Befugnissen) sicherzustellen;
23. hält es für äußerst wichtig, die Anzahl der Frauen, die sich in den nationalen Parlamenten an der Ausarbeitung von Gesetzen beteiligen, zu erhöhen, um eine Rechtspraxis mit mehr Gleichberechtigung und einen echten demokratischen Prozess zu gewährleisten;
24. unterstützt die Meinung zahlreicher weiblicher Abgeordneter in diesen Ländern, dass die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter sowie die aktive Teilnahme der Frauen am politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben durch die Förderung ihrer Fähigkeiten und die Bekämpfung der Diskriminierung besser gefördert und in der Gesetzgebung besser umgesetzt werden könnte, wenn ein Frauenausschuss oder ein spezieller parlamentarischer Ausschuss für die Gleichstellung der Geschlechter eingerichtet würde, soweit dieser noch nicht besteht, um sich mit dem Thema zu befassen und die durchgängige Berücksichtigung der Gleichstellung von Frauen und Männern im Rahmen der parlamentarischen Arbeit sicherzustellen;
25. weist erneut darauf hin, dass – genau wie in Europa – die Vertretung von Frauen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung verbessert werden sollte, insbesondere in Institutionen, politischen Parteien, Gewerkschaften und im öffentlichen Sektor (einschließlich der Justiz), und betont, dass Frauen in einer Reihe von Sektoren häufig gut vertreten sind, allerdings weniger in Führungspositionen, zum Teil aufgrund der weiterhin bestehenden geschlechtsspezifischen Diskriminierung und Stereotypen und dem Phänomen der „gläsernen Decke“;
26. vertritt die Auffassung, dass für einen demokratischen Wandel die Umsetzung von geschlechtsspezifischen Strategien und Mechanismen erforderlich ist, die sicherstellen, dass Frauen vollständig und gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung im öffentlichen Leben beteiligt sind, sei es im politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Bereich;
27. weist auf die wichtige Rolle von Bildung und Medien hin, wenn es darum geht, eine Veränderung der Denkmuster in der Gesellschaft zu fördern und die demokratischen Grundsätze der Achtung der menschlichen Würde und der Partnerschaft für beide Geschlechter durchzusetzen;
28. betont, wie wichtig es ist, mehr Frauen an Friedensverhandlungen, Vermittlung, interner Aussöhnung und Friedenskonsolidierung zu beteiligen;
29. weist auf die Bedeutung der Schaffung und Finanzierung von Schulungsmaßnahmen für Frauen hin, damit diese auf politische Führungspositionen vorbereitet werden, sowie auf die Bedeutung aller anderen Maßnahmen, die zur Stärkung der Handlungskompetenz von Frauen und zu deren umfassender Mitwirkung auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene beitragen;
Stärkung der Stellung der Frau
30. würdigt diejenigen Länder – wie Tunesien und Marokko –, in denen die Bildungsanstrengungen für Mädchen verstärkt wurden; bekräftigt jedoch, dass für Frauen und Mädchen ein besserer Zugang zum Bildungssystem, zum Förderunterricht im Hinblick auf das Nachholen einer Ausbildung und insbesondere zur Hochschulbildung angeboten werden sollte; weist darauf hin, dass noch einige Maßnahmen zu ergreifen sind, um den Analphabetismus unter Frauen zu beseitigen, und dass der Schwerpunkt auf eine Berufsausbildung gelegt werden sollte, einschließlich Kursen zur Förderung der digitalen Kompetenz von Frauen; empfiehlt, dass die Gleichstellung der Geschlechter in die Lehrpläne aufgenommen wird;
31. betont, dass die Regierungen und Parlamente der nordafrikanischen Staaten vorrangig gewährleisten sollten, dass Mädchen Zugang zu guten weiterführenden Schulen und Hochschulen haben, da auf diese Weise die Entwicklung und das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden und die Stabilität der Demokratie sichergestellt wird;
32. fordert politische Maßnahmen, die der besonderen Situation der schutzbedürftigsten Gruppen von Frauen, darunter Mädchen, Frauen mit einer Behinderung, Migrantinnen, Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, sowie homosexuelle und transsexuelle Frauen, Rechnung tragen;
33. betont, dass noch viel mehr unternommen werden sollte, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen zu gewährleisten und ihre Beteiligung an wirtschaftlichen Angelegenheiten, auch im landwirtschaftlichen und Dienstleistungssektor, zu fördern; weist darauf hin, dass wirtschaftliche Unabhängigkeit es Frauen ermöglicht, Widerstand gegen Gewalt und Demütigung zu leisten; vertritt die Auffassung, dass der Austausch bewährter Verfahren auf regionaler Ebene zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft verstärkt werden sollte, insbesondere um diejenigen Frauen zu unterstützen, die in ländlichen und ärmlichen städtischen Gebieten am meisten benachteiligt sind;
34. fordert die Regierungen der nordafrikanischen Länder auf, eine stärkere Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt zu fördern und zu unterstützen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um der geschlechtsspezifischen Diskriminierung am Arbeitsplatz vorzubeugen; hebt die Notwendigkeit von Instrumenten hervor, die Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt in Bereichen öffnen können, zu denen ihnen der Zugang traditionell verwehrt wird;
35. anerkennt die Rolle der Medien bei der Förderung von Themen im Zusammenhang mit der Lage der Frauen und deren Rolle in der Gesellschaft, sowie den Einfluss der Medien auf die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger in den jeweiligen Ländern; empfiehlt die Erarbeitung eines Aktionsplans, um Frauen in den Medien zu unterstützen, nicht nur, damit Frauen in diesem Bereich eine berufliche Laufbahn einschlagen können, sondern auch um überwachen zu können, wie Frauen im Fernsehen dargestellt werden, und zwar durch die Produktion von Fernsehsendungen und die Verwendung neuer Medien (Internet und soziale Netzwerke), um die Teilhabe von Frauen an der Politik zu fördern und deutlich zu machen, dass Tradition und Chancengleichheit durchaus harmonieren können;
36. empfiehlt, dass Schritte unternommen werden, um die Stärkung der Stellung der Frau zu überwachen, auch im Hinblick auf die Wahrung ihrer Rechte als Arbeitnehmerinnen, insbesondere im Industrie- und Dienstleistungssektor sowie in ländlichen und industriellen städtischen Gebieten, und um das Unternehmertum von Frauen zu unterstützen und gleiche Löhne zu fördern;
37. weist darauf hin, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Größe des KMU-Sektors und dem Wirtschaftswachstum eines Landes besteht; vertritt die Auffassung, dass die Mikrofinanzierung ein sehr nützliches Werkzeug ist, um die Stellung von Frauen zu stärken, und erinnert daran, dass die Investition in Frauen auch eine Investition in Familien und in Gemeinschaften darstellt, was zur Beseitigung von Armut sowie von sozialen und wirtschaftlichen Unruhen beiträgt, Frauen eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglicht und den sozialen Zusammenhalt stärkt; weist darauf hin, dass Mikrofinanzierung über Kredite hinausgeht und sich auch auf betriebswirtschaftliche, finanzielle und kaufmännische Beratung und Sparpläne erstreckt;
38. fordert die nationalen Behörden auf, Rahmenbedingungen für Mikrokredite zu schaffen, um zu verhindern, dass Frauen aufgrund von Uninformiertheit oder Gesetzeslücken mit unbeabsichtigten Folgen, wie z. B. Überschuldung, konfrontiert sind;
39. empfiehlt den nordafrikanischen Staaten, Mechanismen zur Unterstützung von Unternehmerinnen einzuführen, u. a. indem sie einschlägige Informationen zur Verfügung stellen, für Rechtssicherheit sorgen und Schulungen im Hinblick auf den beruflichen Aufstieg und die Bekleidung von Führungspositionen anbieten;
40. setzt sich für die Stärkung der Stellung der Frau durch Austauschprojekte ein, die es Frauenorganisationen und einzelnen Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Ländern ermöglichen, zusammenzukommen und Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen, was ihnen dabei helfen könnte, unter Berücksichtigung ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und ihrer Herkunft übertragbare Strategien und Maßnahmen zu entwickeln;
41. unterstreicht, wie wichtig es ist, dafür Sorge zu tragen, dass die Programme und Maßnahmen zur Stärkung der Stellung der Frau in der Region drei unterschiedliche Interventionsebenen umfassen: zunächst die institutionelle Ebene, um die Gleichstellung der Geschlechter durch Reformen des Rechtsrahmens und neue Rechtsvorschriften zu fördern, wobei auch technische Unterstützung geleistet werden sollte; zweitens die Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich für die Rechte von Frauen einsetzen und deren Beteiligung an Entscheidungsprozessen erhöhen können; drittens die Ebene der lokalen Gemeinschaften, insbesondere in ländlichen Gegenden, um soziale Verhaltensmuster und Traditionen zu verändern und im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben der Gemeinschaften mehr Raum für Frauen zu schaffen;
Europäische Nachbarschaftspolitik / Maßnahmen der EU
42. betont, dass das Europäische Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument (ENPI) die Rechte der Frau, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Stellung der Frau in den Mittelpunkt seiner Programme stellen sollte, da sie zu den Schlüsselindikatoren gehören, an denen der Fortschritt im Bereich Demokratisierung und Menschenrechte gemessen wird; vertritt die Auffassung, dass die Gleichstellung der Geschlechter in jedem Länderstrategiepapier und Nationalen Indikativprogramm Priorität haben sollte;
43. fordert die Kommission auf, die durchgängige Berücksichtigung von Gleichstellungsfragen bei den einzelnen Maßnahmen der EU unabhängig von deren Kernthemen fortzusetzen und auszubauen, und empfiehlt der Kommission, die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen, wie beispielsweise UN Women, die als Träger fungieren, fortzuführen;
44. empfiehlt der Kommission, bei der Ausarbeitung von länderspezifischen Fahrplänen für einen Dialog mit den Organisationen der Zivilgesellschaft in den nordafrikanischen Ländern ein Konzept der durchgängigen Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts zugrunde zu legen, um geschlechtsbedingte Ungleichheiten abzubauen und die Voraussetzungen für eine gleichwertige Teilhabe von Frauen und Männern an Entscheidungsverfahren zu schaffen;
45. fordert die Vizepräsidentin/Hohe Vertreterin auf, den Dialog mit regionalen Einrichtungen im arabischen Raum zu vertiefen, um sicherzustellen, dass diese bei der durchgängigen Berücksichtigung von Frauenrechten und den entsprechenden Strategien in der Region eine führende Rolle spielen;
46. fordert die Vizepräsidentin/Hohe Vertreterin und die Kommission auf, das gemeinsame Arbeitsprogramm für Zusammenarbeit, das mit der Liga der Arabischen Staaten unterzeichnet wurde, umzusetzen, insbesondere hinsichtlich der Stärkung der Stellung der Frau und der Menschenrechte;
47. fordert die Kommission auf, die finanziellen Mittel für die Unterstützung der Frauen in der Region aufzustocken; ist der Auffassung, dass diese Unterstützung auch weiterhin sowohl die Besonderheiten jedes Landes als auch die gemeinsamen Probleme berücksichtigen sollte, denen die Länder auf regionaler Ebene – z. B. auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet – gegenüberstehen, und dabei Komplementarität zwischen regionalen und bilateralen Programmen angestrebt werden sollte;
48. fordert die Kommission auf, die Entwicklung von Leadership-Programmen für weibliche Meinungsführer und Führungskräfte im Wirtschafts- und Finanzsektor zu fördern und bereits bestehende Programme auf diesem Gebiet weiter zu unterstützen;
49. vertritt die Auffassung, dass im Einklang mit dem Grundsatz „Mehr für mehr“ der neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter in den Zusagen von Partnerstaaten adäquat berücksichtigt werden sollten; fordert daher die Vizepräsidentin/Hohe Vertreterin und die Kommission auf, eindeutige Kriterien auszuarbeiten, um Fortschritte zu gewährleisten und diese zu überwachen, und zwar anhand eines transparenten und integrativen Prozesses, auch in Konsultation mit Frauenrechtsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft;
50. fordert den EU-Sonderbeauftragten für Menschenrechte auf, im Einklang mit der überarbeiteten Menschenrechtsstrategie der EU den Rechten der Frau in Nordafrika besondere Beachtung zu schenken;
51. hebt die Bedeutung hervor, die der Förderung der Beteiligung von Frauen am Wahlverfahren zukommt, und fordert die staatlichen Stellen der betroffenen Staaten daher auf, das Recht der Frauen auf Teilnahme am Wahlverfahren in ihre Verfassungen aufzunehmen, damit die Hindernisse für eine wirkliche Teilnahme der Frauen an diesen Verfahren beseitigt werden; fordert die EU auf, eng mit den nationalen Regierungen zusammenzuarbeiten, um diesen bewährte Verfahren im Hinblick auf die Unterrichtung von Frauen über deren politische Rechte und Wahlrechte zur Verfügung zu stellen; erinnert daran, dass dies über den gesamten Wahlzyklus hinweg durch Unterstützungsprogramme geschehen und, falls notwendig, durch die EU-Wahlbeobachtungsmission genau überwacht werden sollte;
52. fordert die Kommission auf, die Umsetzung der Empfehlungen, welche die EU-Wahlbeobachtungsmissionen in Bezug auf Frauenrechte abgegeben haben, in den nordafrikanischen Staaten weiter zu verfolgen und dem Europäischen Parlament einen Bericht vorzulegen;
53. fordert die Vizepräsidentin/Hohe Vertreterin und die Kommission auf, im Einklang mit dem Grundsatz „Mehr für mehr“ die arbeitsrechtliche Diskriminierung von Frauen im Rahmen von Treffen innerhalb des politischen und strategischen Dialogs mit den nordafrikanischen Ländern anzusprechen und die Beteiligung von Frauen in Gewerkschaften zu fördern;
54. fordert die Kommission und andere Geber auf, Programme zu fördern, mit denen ein gleichberechtigter Zugang aller Frauen zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildung gewährleistet werden soll, und die Mittel aufzustocken, die zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten für Frauenorganisationen der Zivilgesellschaft und Netzwerke für Frauen auf nationaler und regionaler Ebene bereitgestellt werden;
55. fordert die Kommission auf, positive Vorbilder des Unternehmertums von Frauen aus nordafrikanischen Ländern oder von Verbänden, an denen europäische und nordafrikanische Unternehmerinnen beteiligt sind, darunter in den Bereichen Technologie und Industrie, hervorzuheben; fordert die Kommission daher auf, Mittel zur Verbreitung relevanter Informationen zu schaffen, damit gewährleistet wird, dass Erfahrungen möglichst umfassend genutzt werden, um in Gemeinschaften mit einer weniger dynamischen Wirtschaft das Entwicklungspotenzial solcher Tätigkeiten zu fördern und bewusst zu machen;
56. fordert die Kommission auf, bei der Durchführung von Folgenabschätzungen im Hinblick auf Länder, mit denen über ein „tiefgreifendes und umfassendes Freihandelsabkommen“ verhandelt wird, die potenziellen sozialen Folgen des Abkommens und dessen potenzielle Auswirkungen auf die Menschenrechte, insbesondere auf die Rechte von Frauen, zu berücksichtigen, und zwar auch im Hinblick auf den informellen Sektor;
57. fordert die Kommission auf, Maßnahmen zu unterstützen, mit denen sichergestellt werden kann, dass den besonderen Bedürfnissen von Frauen in Krisen- und Konfliktsituationen, einschließlich ihrer Gefährdung durch geschlechtsbezogene Gewalt, unverzüglich und angemessen Rechnung getragen wird;
58. fordert die Vizepräsidentin/Hohe Vertreterin und die Kommission auf, im Rahmen ihres politischen und strategischen Dialogs mit den nordafrikanischen Ländern für ein positives Umfeld Sorge zu tragen, in dem die Zivilgesellschaft frei agieren und am demokratischen Wandel teilhaben kann;
59. fordert die Kommission auf, das in den EU-Delegationen der Region für geschlechtsspezifische Fragen zuständige Personal aufzustocken und sicherzustellen, dass Frauen und nichtstaatliche Organisationen in den Konsultationsprozess rund um die Programmplanung einbezogen werden;
60. begrüßt die Tatsache, dass UN Women Büros in Nordafrika eingerichtet hat, und empfiehlt den EU-Delegationen in den betroffenen Staaten, auch weiterhin mit den Büros der Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten, um Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die Gleichstellung der Geschlechter sichergestellt und die Rechte der Frauen nach dem Arabischen Frühling gefördert werden;
61. fordert die Kommission auf, die Schaffung von Beratungszentren und „Frauenhäusern“ zu fördern und zu finanzieren, in denen Frauen eine Beratung zu Themen aller Art – von politischen Rechten über Gesundheitsfragen und den Schutz vor häuslicher Gewalt bis hin zur Rechtsberatung – erhalten können, da ein ganzheitlicher Ansatz Frauen zugutekommt, aber auch diskreter ist, wenn es um Gewalt geht;
62. empfiehlt den staatlichen Stellen in Nordafrika, Programme zur Sensibilisierung für häusliche Gewalt aufzulegen und gleichzeitig Zufluchtsstätten für Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben oder aktuell erfahren, einzurichten;
63. fordert die staatlichen Stellen in Nordafrika auf, für angemessene medizinische und psychologische Unterstützung, kostenlosen Rechtsbeistand und Zugang zum Recht und zu Beschwerdeverfahren für weibliche Opfer und Zeugen von Gewalt zu sorgen;
64. weist darauf hin, dass die Unterstützung von Zivilgesellschaft, nichtstaatlichen Organisationen und Frauenorganisationen auch durch die Mechanismen der UfM erfolgen sollte; fordert die Kommission auf, die Zusammenarbeit zwischen Frauenorganisationen in der EU und ihren Pendants in Nordafrika zu erleichtern;
65. fordert die Kommission auf, die Anstrengungen in den nordafrikanischen Ländern im Hinblick auf den Aufbau einer umfassenden und nachhaltigen Demokratie auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten, der Rechte der Frau sowie der Grundsätze der Gleichstellung von Männern und Frauen, der Nichtdiskriminierung und der Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen; betont die Notwendigkeit, die Entwicklung eines aktiven Bürgersinns in der Region durch technische und finanzielle Unterstützung der Zivilgesellschaft zu fördern, um zur Schaffung einer demokratischen politischen Kultur beizutragen;
66. fordert die Kommission auf, vollständige Transparenz bei Handelsverhandlungen zu gewährleisten, auch hinsichtlich aller Hintergrundinformationen, auf deren Grundlage Handelsabkommen vorgeschlagen werden; betont, dass Frauengruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft aktiv am gesamten Prozess beteiligt sein sollten;
67. fordert die Parlamentarische Versammlung der UfM auf, der Lage der Frauen in dieser Region im März jedes Jahr eine Sitzung zu widmen;
68. fordert die Kommission auf, die Stärkung des Istanbul-/Marrakesch-Prozesses zu fördern und Programme zu unterstützen, die den Dialog zwischen der Zivilgesellschaft und den Regierungen im Europa-Mittelmeer-Raum vorantreiben;
69. vertritt die Auffassung, dass der neu gegründete Europäische Fonds für Demokratie der Beteiligung von Frauen am demokratischen Reformprozess in Nordafrika besondere Beachtung schenken sollte, indem Frauenorganisationen und Projekte in geschlechterspezifischen Bereichen unterstützt werden, wie beispielsweise durch die Förderung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs, die Bekämpfung von Gewalt, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung der Teilnahme am kulturellen und politischen Leben oder die Erweiterung des Zugangs zum Recht, zu Gesundheitsdienstleistungen und zu Bildung für Frauen und Mädchen, und indem bestehende Formen der Diskriminierung von Frauen und Verletzungen der Rechte der Frau beseitigt werden und diesen vorgebeugt wird;
70. fordert die Kommission, die Mitgliedstaaten und insbesondere den EU-Koordinator für die Bekämpfung des Menschenhandels auf, die Koordinierung der außenpolitischen Maßnahmen der EU im Rahmen der EU-Strategie zur Beseitigung des Menschenhandels 2012–2016 zu berücksichtigen und diesbezüglich gemeinsam vorzugehen; ist der Auffassung, dass die staatlichen Stellen in den nordafrikanischen Ländern wenn möglich dazu angehalten werden sollten, sich mit anderen Staaten der Region zusammenzuschließen, um den Menschenhandel zu bekämpfen;
71. fordert die Kommission auf, Frauenprojekte zu unterstützen und Netzwerke von Frauen in Universitäten, den Medien, Kultureinrichtungen, der Filmindustrie und anderen kreativen Sektoren zu stärken, und verweist auf die Bedeutung, die der Verbesserung der kulturellen Beziehungen zwischen beiden Seiten des Mittelmeeres, auch über die sozialen Medien, digitale Plattformen und Satellitenübertragung, zukommt;
72. fordert die Regierungen und anderen staatlichen Stellen der Mitgliedstaaten auf, die Rechte der Frau in den Mittelpunkt ihrer bilateralen diplomatischen und Handelsbeziehungen mit den nordafrikanischen Ländern zu stellen;
73. fordert die Kommission auf, Austauschprogramme im Hochschulbereich zu stärken, wie beispielsweise Erasmus Mundus, und die Teilnahme junger Frauen zu fördern; fordert ferner die Entwicklung einer interregionalen Zusammenarbeit (sei es durch Partnerschaften oder einen Peer-to-Peer-Austausch) zwischen den Regionen des nördlichen und südlichen Mittelmeeres;
74. fordert die Kommission auf, die Teilnahme junger Frauen an bilateralen Mobilitätsprogrammen im Bildungsbereich, wie beispielsweise Erasmus, zu fördern und eine interregionale Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Regionen des nördlichen und südlichen Mittelmeerraums zu entwickeln;
75. begrüßt die Mobilitätspartnerschaften, soweit sie den Austausch erleichtern und dazu beitragen, Migration in menschlicher und würdiger Weise zu bewältigen;
76. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten zu übermitteln.
- [1] Entschließung 1873 (2012), von der Versammlung angenommen am 24. April 2012 (13. Sitzung).
- [2] Angenommene Texte, P7_TA(2011)0064.
- [3] Angenommene Texte, P7_TA(2011)0095.
- [4] Angenommene Texte, P7_TA(2011)0154.
- [5] Angenommene Texte, P7_TA(2011)0155.
- [6] Angenommene Texte, P7_TA(2012)0069.
- [7] Angenommene Texte, P7_TA(2012)0113.
BEGRÜNDUNG
Seit Ende des Jahres 2010 ist eine Welle an Protesten und Demonstrationen über Nordafrika und den Nahen Osten hinweggerollt und hat die Region von innen heraus maßgeblich verändert. Unabhängig davon, welche Stellung die Frauen in diesen Regionen innehatten, haben sie als Demonstrantinnen, Organisatorinnen und Führerinnen aktiv an diesen Bewegungen teilgenommen und waren neben ihren männlichen Mitstreitern Schlüsselfiguren des Wandels. Heute kämpfen sie weiterhin für ihre Vertretung in den neu gegründeten Versammlungen und Regierungen und für gleiche Rechte in den neuen Verfassungen ihrer Länder.
Der Erfolg dieser revolutionären Proteste, die allgemein als Arabischer Frühling bezeichnet werden, war aus einer Reihe von Gründen von Land zu Land unterschiedlich. Dieser Bericht beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit vier Ländern in Nordafrika: Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien. Trotz einiger Unterschiede ist es in all diesen Ländern zu einem Regimewechsel, zu Wahlen und zu einer Umgestaltung der Verfassung gekommen.
Ziel dieses Berichtes ist es, (1) die Errungenschaften von Frauen in Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien hervorzuheben; (2) das Engagement von Frauen in der Zivilgesellschaft, nichtstaatlichen Organisationen, den Medien und politischen Parteien zur Unterstützung des politischen Wandels zu unterstreichen; (3) auf die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten und potenziellen Fallstricke hinzuweisen, denen Frauen in ihrem Streben nach Gleichstellung in diesen Ländern begegnen, obwohl ihre Beteiligung maßgeblich zu dem Erfolg der Demonstrationen beigetragen hat; (4) aufzuzeigen, wie die EU-Instrumente genutzt werden sollten, um die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter in diesen Ländern im demokratischen Prozess zu unterstützen.
In den Jahrzehnten vor den Aufständen haben Frauen in Tunesien und zu einem gewissen Grad auch in Ägypten, Marokko und Libyen, recht fortschrittliche Rechtsvorschriften hinsichtlich des Schutzes ihrer Rechte erreicht. Trotzdem war die Verwirklichung einer echten Gleichstellung der Geschlechter durch die repressive Natur der Regime, den Mangel an einer rechtswirksamen Umsetzung und die traditionellen Ansichten hinsichtlich der Rolle der Frau in der Praxis nur begrenzt möglich. Noch schlimmer war, dass die Fortschritte, die hinsichtlich der Rechte von Frauen erzielt wurden, von den autoritären Regimen zu Propagandazwecken genutzt wurden, insbesondere in Libyen und auch in Ägypten. Darüber hinaus unterlag die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben der Bedingung ihrer Mitgliedschaft in der regierenden Partei.
In Tunesien spielt die Zivilgesellschaft eine tragende Rolle, wie auch schon unter dem Ben-Ali-Regime, insbesondere Frauenrechtsorganisationen. Trotzdem waren während des Arabischen Frühlings viele überrascht, welch bedeutende Rolle Frauen gespielt haben und wie stark sie sich an den Demonstrationen in Ägypten, Libyen und Tunesien beteiligten. Frauen haben somit während der Revolution große Sichtbarkeit erlangt. Häufig zahlten sie einen hohen Preis für ihre Beteiligung; insbesondere in Ägypten und Libyen wurde von einer alarmierend hohen Zahl an sexuellen Übergriffen und Einschüchterungen berichtet.
Nach den Aufständen bestand die Herausforderung für Frauen darin, ihren bürgerrechtlichen Kampf in politische Aktionen umzuwandeln und an Wahlen teilzunehmen. Die Ergebnisse waren von Land zu Land unterschiedlich. Es hat sich vor allem gezeigt, dass das vom Wahlrecht vorgesehene Wahlverfahren weibliche Kandidaten entweder positiv oder negativ beeinflusst.
Das Wahlrecht in Libyen verlangte von den politischen Parteien, geschlossene Listen aufzustellen, die sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler Ebene abwechselnd männliche und weibliche Kandidaten beinhalteten. Das führte zu einem guten Ergebnis, bei dem Frauen 32 der 80 an politische Parteien vergebenen Sitze erhielten (von den 200 Sitzen des neuen Nationalkongresses). Die anderen 120 Sitze wurden an Einzelkandidaten vergeben und es wurde lediglich eine Frau gewählt (von 89 Kandidaten). Das libysche Recht wurde unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus Tunesien angenommen, wo die Listen lediglich auf vertikaler Ebene abwechselnd waren.
Die Erfahrung Tunesiens zeigt, dass die Zersplitterung der politischen Landschaft das Quotensystem geschwächt hat. Trotzdem liegt der Anteil der Frauen in der verfassunggebenden Nationalversammlung mit 27 % immer noch weit über dem regionalen – und europäischen – Niveau, wie es bereits vor der Revolution der Fall war, nun allerdings nach freien Wahlen.
Die Ergebnisse der Wahlen in Ägypten waren sehr enttäuschend. Bei den Wahlen, die von November 2011 bis Januar 2012 stattfanden, wurden lediglich acht Frauen (1,6 %) gewählt; zwei weitere waren unter den zehn Abgeordneten des Parlaments, die vom Obersten Rat der Streitkräfte (Supreme Council of the Military Forces - SCAF) ernannt werden, wodurch die Gesamtquote bei 1,9 % liegt. Bei den Wahlen zum Schura-Rat, die von Januar bis März 2012 stattfanden, gewannen Frauen fünf der insgesamt 180 Sitze (2,8 %).
Diese Ergebnisse sind von maßgeblicher Bedeutung, nicht nur, weil der Aufbau einer Demokratie die umfassende Beteiligung von Frauen beinhaltet, sondern auch, weil die neu gewählten Versammlungen in Ägypten, Libyen und Tunesien für die Ausarbeitung neuer Verfassungen zuständig sind. Die Ausarbeitung oder Überarbeitung der Verfassung ist ein Kernelement der politischen Debatte. Die aktuelle verfassungsrechtliche Lage in Nordafrika erinnert an diejenige im Europa der Nachkriegszeit. Die größte Herausforderung besteht für die Frauen in Ägypten, Libyen und Tunesien darin sicherzustellen, dass Frauen aktiv in den für die Ausarbeitung der neuen Verfassung zuständigen Organen vertreten sind, und zu gewährleisten, dass Demokratie, die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung eindeutig festgelegt werden. Zu diesem Zweck sollten sich Frauen innerhalb der Versammlungen organisieren, zum Beispiel in Ausschüssen, in denen Vertreter aller politischen Parteien zusammenkommen, wie es bereits im tunesischen Parlament der Fall ist.
An dem Dialog zwischen Frauen über die Werte und Grundsätze, die der zukünftigen Verfassung zugrunde liegen, und über darüber hinausgehende Themen sollten sich Frauen unterschiedlicher Hintergründe und Religionen beteiligen.
Nach den Wahlen in diesen Ländern sind – mit Ausnahme von Libyen – islamistische Parteien an die Macht gekommen, zum Teil in einer Koalition, wie in Tunesien. Einige Mitglieder dieser Parteien und externer Bewegungen konzentrieren sich symbolisch auf die Rechte der Frau und üben Druck auf die Regierungen aus, mit dem Ziel, die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen zu verhindern. Die Frage der Gleichstellung der Geschlechter steht im Zentrum der öffentlichen und verfassungsrechtlichen Gespräche und wirkt polarisierend. Die Frage des Status und der Rolle der Frau in der Gesellschaft hat die Tendenz, „Modernisierer“ und „Traditionalisten“ gegenüberzustellen und führt derzeit fast zu einer Spaltung der Gesellschaft. Deshalb ist es an dieser Stelle sehr wichtig, dieses Risiko und eine zu starke Bipolarisierung zu vermeiden. Eine Lösung könnte darin bestehen, institutionelle Unterstützung zu schaffen, die Möglichkeiten bietet, Brücken zwischen Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund zu bauen und schlussendlich Kompromisse zu finden.
In Marokko waren die Folgen des Arabischen Frühlings eher anders geartet. Zu Beginn der Aufstände in den Nachbarstaaten fand am 20. Februar 2011 eine große Demonstration statt. Es wurde eine Überarbeitung der Verfassung durchgeführt und im Juli 2011 per Referendum angenommen. Daraufhin gewann eine islamistische Partei, die PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die Parlamentswahlen im November 2011.
Die zentrale Frage in diesen Ländern ist, wie die Gestaltung des politischen Islams innerhalb dieser Gesellschaften verlaufen wird, die sich beispielsweise von den Golfstaaten stark unterscheiden. Dies wird unter anderem davon abhängen, inwiefern es dem politischen Islam gelingt, eine staatliche Doktrin in Nordafrika zu entwickeln und den Besitzstand der Vergangenheit darin zu integrieren.
Es besteht ein breites Spektrum an Kombinationsmöglichkeiten zwischen dem Islam und der Universalität der Menschenrechte. Die verfassunggebende Versammlung in Tunesien versucht, in dieser Frage einen Kompromiss zu finden. Dass so etwas nicht unmöglich ist, zeigt Artikel 19 der marokkanischen Verfassung, die im Jahr 2011 überarbeitet wurde. Er besagt, dass Männer und Frauen hinsichtlich bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Rechte und Freiheiten gleichgestellt sind.[1] Die neue Verfassung wurde per Referendum angenommen.
In Ägypten stellen sich die Gespräche rund um die Ausarbeitung einer neuen Verfassung als besonders schwierig heraus. Trotz lebhafter und fortgeschrittener Debatten unter den Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlung hat sich eine Kompromissfindung zwischen den islamistischen und nicht islamistischen Mitgliedern als ein sehr schwierig zu bewerkstelligender Kraftakt herausgestellt. Darüber hinaus schwächt die völlige Abwesenheit einer kritischen Masse von Frauen in der demokratisch gewählten Volksversammlung die Stimme der Frauen im Verfassungsprozess, obwohl eine lebendige Zivilgesellschaft vorhanden ist, in der Frauen sehr aktiv sind.
Libyen stellt sich weiterhin als ein Land dar, das noch an den Folgen der Konflikte leidet, mit sehr spezifischen Problemen, und verfügt über keinerlei tragfähige staatliche Strukturen, auf denen ein Wiederaufbau vorgenommen werden könnte. Für die Stabilisierung des Landes spielen die Volksstämme immer noch eine wichtige Rolle, und Frauen, die an öffentlichen Kampagnen für den Frieden und die nationale Aussöhnung beteiligt sind, müssen in die Verhandlungsgremien aufgenommen werden.
In den vier Ländern ist der Prozess noch nicht abgeschlossen und erfährt sowohl Fortschritte als auch Rückschritte; somit ist weiterhin unklar, wie die endgültige Situation aussehen wird.
Die Rolle der Frau in Nordafrika kann ebenfalls anhand ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung bewertet werden. In Tunesien, Marokko und Libyen sind Frauen seit Jahren als Studentinnen an Universitäten (40 – 60 %)[2], Unternehmerinnen, Teilnehmerinnen am Wirtschaftsleben (über 25 %)[3] usw. sehr gut vertreten. In Ländern wie Libyen, in denen Frauen die Teilnahme am öffentlichen Leben komplett verwehrt war, haben Frauen es geschafft, im wirtschaftlichen und sozialen Leben relativ gut vertreten zu sein, und machen nun 17 % der gewählten Parlamentarier im Nationalkongress aus, leiten jedoch nur 2 von 24 Ministerien.
Die EU muss hier über ihre neue Nachbarschaftspolitik ihre Rolle wahrnehmen. Durch die Unterstützung des Aufbaus von demokratischen Systemen und der wirtschaftlichen wie auch sozialen Entwicklung könnte die EU ihren südlichen Nachbarn helfen, das zu erreichen, was von den Volksaufständen gefordert wurde: mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit. Bei der Durchführung ihrer Maßnahmen sollte die EU nicht vergessen, dass es keine echte Demokratie gibt, welche die Hälfte ihrer Bevölkerung unberücksichtigt lässt. Die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte der Frau sollten deshalb zu den Prioritäten der EU zählen und der Fortschritt in diesem Bereich sollte berücksichtigt werden, wenn Zusagen von Partnern gemäß dem Ansatz „Mehr für mehr“ bewertet werden. Zu diesem Zweck sollten Frauen und Frauenorganisationen an dem Verhandlungsprozess mit den Behörden beteiligt sein, wenn es um Entscheidungen hinsichtlich der Schwerpunkte und Programme im Rahmen des Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments (ENPI) geht.
Die Strukturen der Union für den Mittelmeerraum (UfM) sind ein weiteres Instrument, um den Dialog zu stärken und die Netzwerke zwischen Universitäten, Forschern, Journalisten, Unternehmern und nichtstaatlichen Organisationen auszubauen.
Dieser Bericht basiert auf einer öffentlichen Anhörung, einer Delegationsreise nach Tunesien und der Anhörung mehrerer Frauen, die in den betroffenen Ländern gewählt wurden, sowie von Experten und nichtstaatlichen Organisationen.
- [1] „L’homme et la femme jouissent, à égalité, des droits et libertés à caractère civil, politique, économique, social, culturel et environnemental, énoncés dans le présent titre et dans les autres dispositions de la Constitution, ainsi que dans les conventions et pactes internationaux dûment ratifiés par le Royaume et ce, dans le respect des dispositions de la Constitution, des constantes et des lois du Royaume. L’Etat marocain œuvre à la réalisation de la parité entre les hommes et les femmes. Il est créé, à cet effet, une Autorité pour la parité et la lutte contre toutes formes de discrimination.“
- [2] UNESCO-Institut für Statistik. Hochschulbildung.
- [3] IAO – UNDP-Institut für Statistik. Wirtschaftliche Aktivität.
STELLUNGNAHME des Entwicklungsausschusses (23.1.2013)
für den Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter
zur Lage der Frauen in Nordafrika
(2012/2102(INI))
Verfasserin der Stellungnahme: Corina Creţu
VORSCHLÄGE
Der Entwicklungsausschuss ersucht den federführenden Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter, folgende Vorschläge in seinen Entschließungsantrag zu übernehmen:
1. fordert alle nordafrikanischen Länder mit Nachdruck auf, ihre Bemühungen zur Förderung des gleichberechtigten Zugangs der Frauen zu Bildung, medizinischer Betreuung, zum Recht und zu den öffentlichen Medien und zur Politik zu intensivieren;
2. setzt sich für die Stärkung der Stellung der Frau durch Austauschprojekte ein, die es Frauenorganisationen und einzelnen Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Ländern ermöglichen, zusammenzukommen und Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen, was ihnen dabei helfen wird, auf ihre jeweiligen Bedürfnisse und ihre Herkunft anwendbare Strategien und Maßnahmen auszuarbeiten;
3. weist auf die große Herausforderung hin, den Analphabetismus unter den Frauen zu beseitigen, und fordert, dass die Ursachen für einen Schulabbruch besser untersucht werden; weist mit Nachdruck darauf hin, wie wichtig es ist, dass es an Schulen gute weibliche Rollenvorbilder gibt;
4. fordert die Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung von Frauen in den derzeit geltenden Rechtsvorschriften in den nordafrikanischen Ländern, und weist darauf hin, wie wichtig es ist, dass Frauen aktiv in die Politik und in Organisationen der Bürgergesellschaft sowie bei der Ausarbeitung von Gesetzen eingebunden werden und sich daran beteiligen; weist darauf hin, wie wichtig es ist, dass Frauen und Männer mit unterschiedlichem Hintergrund und aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen über gleichberechtigte Bürgerschaft und Wahlrecht informiert werden;
5. fordert die Kommission und andere Geber auf, Programme zu fördern, mit denen ein gleichberechtigter Zugang aller Frauen zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildung gewährleistet werden soll, und die Mittel aufzustocken, die zur Förderung des Aufbaus von Kapazitäten für Organisationen der Bürgergesellschaft und Netzwerke für Frauen auf nationaler und regionaler Ebene bereitgestellt werden;
6. empfiehlt der Kommission, die positiven Vorbilder weiblichen Unternehmertums hervorzuheben, an denen Frauen aus Nordafrika beteiligt sind, bzw. Konsortien, an denen europäische und nordafrikanische Unternehmerinnen beteiligt sind, vor allem im Bereich der Technologie und der Industrie; fordert die Kommission daher auf, Methoden zur Verbreitung dieser Informationen einzuführen, damit Erfahrungen möglichst umfassend genutzt werden können und einen stimulierenden Beitrag in weniger dynamischen Situationen leisten können, indem die Aufmerksamkeit auf das Entwicklungspotenzial der betroffenen Gemeinden gelenkt wird;
7. fordert die staatlichen Stellen in den nordafrikanischen Ländern auf, nachhaltige Maßnahmen zur Bekämpfung des Lohngefälles zwischen Männern und Frauen und zur zunehmenden Arbeitslosigkeit von Frauen zu ergreifen und darüber hinaus den geschlechtsbezogenen Sozialschutz zu stärken, insbesondere bei Mutterschaft;
8. fordert, dass das Erbe und die kulturellen, religiösen und anderen Traditionen von Frauen geachtet werden, ihre Würde, ihre Freiheit und ihre Sicherheit jedoch nicht beeinträchtigt werden dürfen; ist der Auffassung, dass den Bemühungen zur Verbesserung der Stellung der Frauen in den Gemeinschaften, in denen sie leben, entsprechend ihren Bedürfnissen und den Umständen, mit denen sie konfrontiert sind, Priorität eingeräumt werden muss;
9. empfiehlt der Kommission, bei der Ausarbeitung von länderspezifischen Fahrplänen für einen Dialog mit den Organisationen der Bürgergesellschaft in Nordafrika ein Konzept der durchgängigen Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts zugrunde zu legen, um geschlechtsbedingte Ungleichheiten abzubauen und die Voraussetzungen für eine gleichwertige Teilhabe von Frauen und Männern an Beschlussfassungsverfahren zu schaffen.
10. fordert die staatlichen Stellen in Nordafrika auf, für angemessene medizinische und psychologische Unterstützung, kostenlosen Rechtsbeistand und Zugang zum Recht und zu Beschwerdeverfahren für weibliche Opfer und Zeugen von Gewalt zu sorgen.
ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS
Datum der Annahme |
22.1.2013 |
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Ergebnis der Schlussabstimmung |
+: –: 0: |
22 0 2 |
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Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder |
Thijs Berman, Michael Cashman, Corina Creţu, Véronique De Keyser, Nirj Deva, Leonidas Donskis, Charles Goerens, Filip Kaczmarek, Miguel Angel Martínez Martínez, Gay Mitchell, Norbert Neuser, Bill Newton Dunn, Maurice Ponga, Birgit Schnieber-Jastram, Michèle Striffler, Alf Svensson, Keith Taylor, Eleni Theocharous, Patrice Tirolien, Anna Záborská, Iva Zanicchi |
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Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen) |
Enrique Guerrero Salom, Gesine Meissner, Judith Sargentini |
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ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS
Datum der Annahme |
19.2.2013 |
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Ergebnis der Schlussabstimmung |
+: –: 0: |
24 0 4 |
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Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder |
Regina Bastos, Andrea Češková, Marije Cornelissen, Iratxe García Pérez, Zita Gurmai, Mikael Gustafsson, Mary Honeyball, Sophia in ‘t Veld, Teresa Jiménez-Becerril Barrio, Constance Le Grip, Astrid Lulling, Ulrike Lunacek, Elisabeth Morin-Chartier, Krisztina Morvai, Siiri Oviir, Joanna Senyszyn, Joanna Katarzyna Skrzydlewska, Marc Tarabella, Britta Thomsen, Anna Záborská, Inês Cristina Zuber |
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Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter(innen) |
Izaskun Bilbao Barandica, Minodora Cliveti, Silvia Costa, Anne Delvaux, Mariya Gabriel, Nicole Kiil-Nielsen, Doris Pack, Licia Ronzulli, Angelika Werthmann |
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