Entschließungsantrag - B7-0310/2013Entschließungsantrag
B7-0310/2013

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in der Türkei

11.6.2013 - (2013/2664(RSP))

eingereicht im Anschluss an eine Erklärung der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik
gemäß Artikel 110 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Alexander Graf Lambsdorff, Guy Verhofstadt, Louis Michel, Graham Watson, Marietje Schaake, Johannes Cornelis van Baalen, Sarah Ludford, Frédérique Ries, Annemie Neyts-Uyttebroeck, Edward McMillan-Scott, Hannu Takkula, Kristiina Ojuland im Namen der ALDE-Fraktion

Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B7-0305/2013

Verfahren : 2013/2664(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
B7-0310/2013
Eingereichte Texte :
B7-0310/2013
Aussprachen :
Angenommene Texte :

B7‑0310/2013

Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in der Türkei

(2013/2664(RSP))

Das Europäische Parlament,

–   unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen, insbesondere die Entschließung vom 18. April 2013 zum Fortschrittsbericht 2012 über die Türkei[1],

–   unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union,

–   unter Hinweis auf den Verhandlungsrahmen für die Türkei vom 3. Oktober 2005,

–   unter Hinweis auf die Entscheidung des Rates 2008/157/EG vom 18. Februar 2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei[2] („Beitrittspartnerschaft“) und die vorangegangenen Entscheidungen des Rates zur Beitrittspartnerschaft aus den Jahren 2001, 2003 und 2006,

–   gestützt auf Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass die türkische Polizei am Freitag, den 31. Mai 2013, in den frühen Morgenstunden versucht hat, eine Gruppe von Demonstranten zu vertreiben, die seit Wochen dagegen demonstriert hatten, dass im Istanbuler Gezi-Park nahe des Taksim-Platzes für ein Neubauprojekt Bäume gefällt werden sollen;

B.  in der Erwägung, dass die Demonstrationen in verschiedenen Schichten der türkischen Gesellschaft Unterstützung gefunden haben; in der Erwägung, dass dieser Bürgerprotest der Ausdruck einer spontanen Bewegung innerhalb der Zivilgesellschaft für eine moderne europäische liberale Demokratie ist;

C. in der Erwägung, dass Männer und Frauen gleichermaßen an den Demonstrationen teilnahmen, aber darüber hinaus Feministinnen ihrer Besorgnis über Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter besonderen Ausdruck gaben;

D. in der Erwägung, dass es infolge des gewaltsamen Vorgehens der Polizei zu Zusammenstößen mit den Protestanten kam, die sich rasch auf andere türkische Städte ausdehnten, und unter Hinweis darauf, dass diese Zusammenstöße Todesopfer gefordert haben und zahlreiche Menschen verletzt und verhaftet wurden; in der Erwägung, dass die harte Reaktion der türkischen Regierung und insbesondere von Ministerpräsident Erdoğan, der die Demonstranten als Plünderer und Terroristen bezeichnete, kontraproduktiv zu sein scheint und die Proteste offenbar weiter angeheizt hat;

E.  in der Erwägung, dass in Artikel 34 der türkischen Verfassung das Recht verankert ist, friedliche und unbewaffnete Versammlungen und Demonstrationen zu veranstalten, ohne dass dazu eine Genehmigung erforderlich ist;

F.  in der Erwägung, dass die Demonstranten zunehmend Bedenken hinsichtlich autoritärer Staatsführung, mangelnder Vertretung von Minderheitenansichten, Rechtstaatlichkeit, verantwortlichem Regierungshandeln sowie fairen und angemessenen Verfahren in der Türkei äußern;

G. in der Erwägung, dass eine Reihe von kürzlich ergangenen Beschlüssen und Rechtsakten zu Themen wie Einschränkungen des Verkaufs von Alkohol und Reformen des Bildungssystems unter säkularen Türken zu Bedenken hinsichtlich der Beschränkungen ihrer Freiheiten geführt haben;

H. in der Erwägung, dass die wichtigsten türkischen Massenmedien nur schleppend in angemessener Weise über die Demonstrationen berichteten und stattdessen einem Muster der Einschränkung der Medienfreiheit und (Selbst‑)Zensur folgten, das schon vor den Demonstrationen bestand;

I.   in der Erwägung, dass es der EAD an einer raschen und angemessene Reaktion fehlen ließ;

1.  verurteilt nachdrücklich die unverhältnismäßige und unangemessene Gewaltanwendung durch die türkischen Polizeikräfte bei ihrer Reaktion auf die friedlichen und rechtmäßigen Proteste im Istanbuler Gezi-Park und ruft die türkischen Behörden auf, die Polizeigewalt gründlich zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen; warnt die türkische Regierung vor harten Maßnahmen gegen die Demonstranten und fordert den Ministerpräsidenten nachdrücklich auf, eine einigende und versöhnliche Position einzunehmen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden;

2.  fordert die türkischen Behörden nachdrücklich auf, das Recht aller Bürger auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und friedlichen Protest zu garantieren und zu achten; fordert die unverzügliche Freilassung aller festgenommenen friedlichen Demonstranten;

3.  ist über die zunehmend harten Reaktionen der türkischen Regierung und von Ministerpräsident Erdoğan tief enttäuscht, die nur zu einer weiteren Polarisierung der türkischen Gesellschaft beigetragen haben; betont, dass der Dialog zwischen der türkischen Regierung und den friedlichen Demonstranten von großer Bedeutung ist;

4.  erinnert die Türkei daran, dass sich in einer inklusiven, pluralistischen Demokratie alle Bürger repräsentiert fühlen sollten und dass die Mehrheit die Verantwortung hat, die Opposition und die Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse einzubeziehen; betont, dass während die Regierung und die regierende Parlamentsmehrheit eine besondere Verantwortung für die Verbesserung der Rechtstaatlichkeit in der Türkei tragen, auch oppositionelle Parteien, Organisationen der Zivilgesellschaft und die Medien ihren Anteil an der demokratischen politischen Kultur haben sollten, was die Achtung anderer Ansichten und Meinungen einschließt;

5.  ist besorgt über die anhaltende Konfrontation zwischen den politischen Parteien und die mangelnde Bereitschaft seitens der Regierung und der Opposition, auf einen Konsens über wichtige Reformen hinzuarbeiten; fordert alle politischen Akteure, die Regierung und die Opposition, nachdrücklich auf zusammenzuarbeiten, um die politische Pluralität in den staatlichen Einrichtungen zu verbessern und die Modernisierung und Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft zu fördern;

6.  weist darauf hin, dass ein System der Kontrolle und Gegenkontrolle bei der Führung eines modernen demokratischen Staates von zentraler Bedeutung ist und sich auf den Grundsatz der Gewaltenteilung mit einem Gleichgewicht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, auf die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten – insbesondere der Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse, auch im Internet – und auf eine partizipative politische Kultur, die die Pluralität einer demokratischen Gesellschaft wirklich widerspiegelt, stützen muss;

7.  weist erneut darauf hin, dass die freie Meinungsäußerung und der Medienpluralismus den Kern der europäischen Werte bilden und dass eine wirklich demokratische, freie und pluralistische Gesellschaft eine wirklich freie Meinungsäußerung voraussetzt;; weist darauf hin, dass sich die freie Meinungsäußerung nicht nur auf Informationen oder Gedanken erstreckt, die positiv aufgenommen oder als harmlos angesehen werden, sondern im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte auch auf solche, die für den Staat oder einen Bevölkerungsteil Anstoß erregend, beunruhigend oder kränkend sind;

8.  ist besorgt über die Verschlechterung der Pressefreiheit, einige Zensurmaßnahmen und die zunehmende Selbstzensur in den türkischen Medien, auch im Internet; fordert die türkische Regierung auf, die Grundsätze der Pressefreiheit zu wahren;

betont, dass eine unabhängige Presse für eine demokratische Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, und weist in diesem Zusammenhang auf die grundlegende Rolle der Justiz bei der Wahrung und Förderung der Pressefreiheit hin, durch die ein öffentlicher Raum für eine freie und inklusive Diskussion gewährleistet wird;

9.  bekräftigt seine Besorgnis angesichts der Tatsache, dass sich die meisten Medien im Besitz von großen Konzernen befinden, einer starken Konzentration unterliegen und von einem breiten Spektrum geschäftlicher Interessen beeinflusst werden; bekräftigt seine Forderung nach Verabschiedung eines neuen Mediengesetzes, welches unter anderem Fragen der Unabhängigkeit, des Eigentums und der Verwaltungskontrolle regelt;

10. stellt zunehmende Unzufriedenheit in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung aufgrund von Versuchen fest, Lebensstile auf der Grundlage von parteiischen Ideologien und Überzeugungen zu regeln; bedauert in diesem Zusammenhang die jüngsten Äußerungen in Bezug auf das Familienleben, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, einschließlich des Zugangs zu sicherer Abtreibung, Einschränkungen der Medienfreiheit, auch im Internet, Einschränkungen bei der Verfügbarkeit von alkoholischen Getränken und Versuche, Unterhaltungssendungen im Fernsehen zu zensieren; erinnert die türkische Regierung daran, dass säkulare Lebensstile umfassend zu achten sind;

11. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik/Vizepräsidentin der Kommission, dem Generalsekretär des Europarates, dem Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten und der Regierung und dem Parlament der Republik Türkei zu übermitteln.