ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in der Ukraine
25.2.2014 - (2014/2595(RSP))
gemäß Artikel 110 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Rebecca Harms, Ulrike Lunacek, Mark Demesmaeker, Tarja Cronberg, Werner Schulz, Raül Romeva i Rueda, Indrek Tarand, Helga Trüpel im Namen der Verts/ALE-Fraktion
Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B7-0219/2014
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zur Europäischen Nachbarschaftspolitik, zur Östlichen Partnerschaft und zur Ukraine, insbesondere auf seine Entschließung vom 6. Februar 2014 zur Lage in der Ukraine[1],
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der außerordentlichen Tagung des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) zur Ukraine vom 20. Februar 2014,
– gestützt auf Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass nach der Entscheidung des Präsidenten und der Regierung der Ukraine, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens auszusetzen, Hunderttausende Menschen landesweit spontan auf die Straße gegangen sind, um für eine europäische Integration zu demonstrieren; in der Erwägung, dass die Demonstranten den Unabhängigkeitsplatz in Kiew friedlich besetzt und eine politische Kehrtwende dahingehend gefordert haben, dass die Regierung ihre Entscheidung überdenkt, und in der Erwägung, dass die Euromajdan-Bewegung die stärkste Bürgerbewegung für Freiheit und Demokratie in Europa seit den späten 80er Jahren ist;
B. in der Erwägung, dass die Regierung unter Präsident Janukowytsch die rote Linie überschritten hat, als sie den Sicherheitskräften die Erlaubnis erteilte, scharfe Munition gegen die Demonstranten einzusetzen, und auf Dächern am und rund um den Majdan-Platz, der seit vergangenem November das Zentrum der gegen die Regierung gerichteten, proeuropäischen Proteste darstellt, Scharfschützen platzierte; in der Erwägung, dass Demonstranten in den Straßen Kiews hingerichtet wurden, was international Empörung auslöste und verurteilt wurde;
C. in der Erwägung, dass zur selben Zeit drei Außenminister aus der EU nach Kiew gereist sind, um zwischen Präsident Janukowytsch und der Opposition zu vermitteln und einen Kompromiss herbeizuführen; in der Erwägung, dass sie bei der Einigung auf einen Fahrplan für einen friedlichen und demokratischen Ausweg aus der Krise erfolgreich vermittelt haben; in der Erwägung, dass auch der russische Sondergesandte zu der Vereinbarung beigetragen, diese jedoch nicht mit unterzeichnet hat;
D. in der Erwägung, dass der Präsident die Hauptstadt nach der Unterzeichnung der Vereinbarung mit unbekanntem Ziel verließ und der Parlamentspräsident kurz danach sein Amt niederlegte und das Land ohne Regierung zurückließ, da der Ministerpräsident schon vor Wochen zurückgetreten war;
1. drückt den Familien der Opfer sowohl unter den Demonstranten als auch unter den Sicherheitskräften sein tiefstes Mitgefühl aus, verurteilt scharf alle Gewalthandlungen und fordert alle ukrainischen Bürger ebenso wie die führenden Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft auf, in diesem für die Ukraine historischen Moment äußerst verantwortungsbewusst vorzugehen;
2. verurteilt entschieden das brutale und unverhältnismäßige Vorgehen der Einsatzkräfte, das zu der dramatischen Gewalteskalation geführt hat;
3. begrüßt, dass sich die Werchowna Rada verantwortungsbewusst gezeigt, ihre verfassungsmäßigen Funktionen vollumfänglich wahrgenommen und das politische und institutionelle Vakuum gefüllt hat, das durch den Rücktritt der Regierung und die Absetzung des Präsidenten entstanden ist, und vertritt die Überzeugung, dass die Euromajdan-Bewegung im künftigen politischen Prozess in der Ukraine eine Rolle spielen wird; nimmt die vom Parlament bisher ergriffenen Maßnahmen zur Kenntnis, insbesondere die Beschlüsse, zur Verfassung von 2004 zurückzukehren, am 25. Mai 2014 eine Präsidentschaftswahl abzuhalten, die Polizei- und Sicherheitskräfte abzuziehen und die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko aus dem Gefängnis zu entlassen; fordert die Bildung einer möglichst inklusiven Regierung der nationalen Einheit, damit die dringenden Belange des Landes geregelt werden;
4. beglückwünscht die ukrainische Bevölkerung zu dem raschen Machtwechsel und zu ihrem ausdauernden zivilen Widerstand in den letzten Monaten und hebt hervor, dass dieser zivile Bürgerprotest vorbildlich ist und einen Wendepunkt in der Geschichte der Ukraine markieren wird; hebt hervor, dass dieser demokratische Sieg der Zivilbevölkerung weder durch Rachegelüste oder Vergeltungsaktionen gegen Kontrahenten noch durch politische Grabenkriege geschmälert werden sollte;
5. fordert die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung der seit dem Beginn der Demonstrationen begangenen Menschenrechtsverletzungen in enger Zusammenarbeit mit dem internationalen Beratungsgremium des Europarates;
6. versichert alle Menschen, die in den letzten drei Monaten in Kiew und in der gesamten Ukraine friedlich für die europäischen Grundwerte, die demokratische Rechenschaftspflicht, die Achtung der Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Demonstrationsfreiheit auf die Straße gegangen sind, seiner Unterstützung, Anteilnahme und Solidarität; betont, dass Demokratie nicht die Herrschaft der Mehrheit ist, sondern eine Regierungsform, die auf der gegenseitigen Kontrolle der verfassungsmäßigen Staatsorgane beruht; bedauert vor diesem Hintergrund den kürzlich gefassten Beschluss der Werchowna Rada, das Sprachengesetz abzuschaffen, und fordert, dass neue Rechtsvorschriften erlassen werden, mit denen die Ukraine ihren Verpflichtungen gemäß der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen nachkommt;
7. fordert die Kommission nachdrücklich auf, in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes die medizinische Versorgung und Unterstützung aller Menschen, die bei den Demonstrationen Opfer von Gewalttaten wurden, zu ermöglichen;
8. begrüßt die Schlussfolgerungen der außerordentlichen Tagung des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) vom 20. Februar 2014 und insbesondere den Beschluss, gezielte Sanktionen zu erlassen, etwa die Einfrierung von Vermögen und Visumsperren für diejenigen, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, und den Beschluss, die Ausfuhrgenehmigungen für Ausrüstung, die für interne Repressionen verwendet werden kann, auszusetzen; stellt fest, dass sich diese Sanktionen erheblich auf die öffentliche Meinung in der Ukraine ausgewirkt haben, und vertritt die Auffassung, dass diese Maßnahmen früher hätten beschlossen werden können;
9. vertritt den Standpunkt, dass die EU im Rahmen ihrer Politik gegenüber der Ukraine in dieser Übergangszeit gezielte, flexible und individuelle Sanktionen und restriktive Maßnahmen beibehalten sollte und dass die Mitgliedstaaten in Ergänzung dazu ernsthaft gegen Geldwäsche und das Verbergen von Vermögenswerten vorgehen sollten;
10. fordert, dass alle rechtswidrig festgehaltenen Demonstranten und politischen Gefangenen umgehend und bedingungslos freigelassen werden, alle Anschuldigungen gegen sie fallengelassen werden und sie politisch rehabilitiert werden;
11. hofft, dass sich auf der Grundlage der in den letzten Tagen in der Werchowna Rada gebildeten verfassungsmäßigen Mehrheit ein nationaler Dialog entwickeln kann, an dem alle demokratischen Elemente der ukrainischen Gesellschaft beteiligt werden und der darauf abzielt, zu einer echten Aussöhnung zwischen den Parteien zu kommen, eine grundlegende Debatte über die Zukunft der ukrainischen Nation zu führen und die Einheit des Landes zu bewahren;
12. weist darauf hin, dass das Angebot, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, nach wie vor gültig ist und dass die EU jederzeit zu einer Unterzeichnung bereit ist, sobald die derzeitige politische Krise bewältigt ist und die vom Rat (Auswärtige Angelegenheiten) im Dezember 2012 festgelegten Bedingungen erfüllt sind;
13. erwartet, dass der Rat und die Kommission ihre Versprechen halten und die Ukraine weiterhin dabei unterstützen, diese schwere politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden und insbesondere einen finanziellen Engpass zu überstehen, der unter anderem aufgrund des Beschlusses der Russischen Föderation, den Ankauf der zweiten Tranche ukrainischer Staatsanleihen auszusetzen, möglicherweise unmittelbar bevorsteht;
14. erwartet, dass der Rat und die Kommission baldmöglichst gemeinsam mit dem IWF, der Weltbank, der EBWE und der EIB über Sofortmaßnahmen und ein langfristiges konkretes Finanzhilfepaket beschließen, mit denen der Ukraine bei der Bewältigung ihrer sich verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Lage geholfen und finanzielle Unterstützung für die Einleitung der erforderlichen tiefgreifenden und umfassenden Reformen der ukrainischen Wirtschaft bereitgestellt werden kann;
15. stellt fest, dass die weitverbreitete Korruption das Entwicklungspotenzial der Ukraine hemmt und das Vertrauen der Bürger in ihre eigenen Institutionen untergräbt; fordert daher die neue Regierung mit Nachdruck auf, dem Kampf gegen die Korruption im Rahmen ihres Programms höchste Priorität einzuräumen; fordert die EU und die Ukraine mit Nachdruck auf, sofort gegen eine weitere Kapitalflucht vorzugehen;
16. ist der Ansicht, dass am besten auf die Forderungen von Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft und von Studierenden, die in den vergangenen Tagen auf den Plätzen des Landes für eine europäische Ausrichtung der Ukraine demonstriert haben, eingegangen würde, wenn zügig ein Abkommen über die Aufhebung der Visumpflicht zwischen der EU und der Ukraine geschlossen würde; weist darauf hin, dass mit einem solchen Abkommen nicht nur der Austausch und der unmittelbare Kontakt zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft intensiviert und vorangebracht würden, sondern auch das gegenseitige Verständnis verbessert und der Öffentlichkeit in der Ukraine die Möglichkeit geboten würde, sich mit europäischen Normen und bewährten Verfahren in allen Bereichen vertraut zu machen; fordert, dass in der Zwischenzeit umgehend zeitlich begrenzte, einfache und unentgeltliche Verfahren für die Ausstellung von Visa eingeführt werden;
17. betont, dass die Bestimmungen über die vertiefte und umfassende Freihandelszone kein Handelshemmnis für die Russische Föderation darstellen und das Assoziierungsabkommen die historisch gewachsenen Beziehungen der Ukraine mit ihrem östlichen Nachbarn nicht beeinträchtigt; weist darauf hin, dass politische Stabilität, Berechenbarkeit und wirtschaftlicher Wohlstand das gemeinsame Ziel bleibt;
18. betont, dass ohne eine konstruktive und legitime Beteiligung Russlands keine langfristige politische Lösung in der Ukraine möglich ist, lehnt jedoch die Vorstellung einer erneuten Teilung Europas in Einflusssphären ab;
19. fordert Moskau auf, eine konstruktive Haltung einzunehmen und das souveräne Recht seiner Nachbarn, frei über ihre Zukunft zu entscheiden, nicht länger durch Vergeltungsmaßnahmen und ungebührlichen Druck zu untergraben und damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Ukraine bilaterale Beziehungen sowohl zur EU als auch zu Russland unterhalten kann; fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, gegenüber Russland mit einer Stimme zu sprechen, um die auf Europa gerichteten Hoffnungen der Länder der Östlichen Partnerschaft zu unterstützen, die sich aus freien Stücken entschieden haben, ihre Beziehungen zur EU zu vertiefen; fordert in diesem Zusammenhang die EU auf, die Ukraine und die anderen Länder der Östlichen Partnerschaft bei Auseinandersetzungen mit der Russischen Föderation in der WTO oder in anderen internationalen Organisationen zu unterstützen;
20. fordert außerdem die Kommission auf, in Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen der Ukraine zu ermitteln, wie den Auswirkungen der Vergeltungsmaßnahmen, die von Moskau beschlossen wurden, um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zu verhindern, entgegengewirkt werden kann;
21. ist außerdem der Auffassung, dass sich der Ukraine über das Assoziierungsabkommen hinaus gemäß Artikel 49 EUV eine ernsthafte europäische Perspektive bietet, wenn das Land seine Bereitschaft, Reformen einzuleiten und die Werte der EU zu übernehmen und zu teilen, konkret deutlich macht;
22. weist darauf hin, dass die Kommunikationsstrategie der EU in den Partnerländern immer noch nicht greift; fordert die Kommission vor diesem Hintergrund auf, sich stärker darum zu bemühen, den maßgeblichen Teilen der Öffentlichkeit die potenziellen Vorzüge bzw. Vorteile des Assoziierungsabkommens darzulegen;
23. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament der Ukraine, dem Europarat sowie dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation zu übermitteln.
- [1] Angenommene Texte, P7_TA(2014)0098.