ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Ukraine
11.3.2014 - (2014/2627(RSP))
gemäß Artikel 110 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Nikola Vuljanić, Marie-Christine Vergiat, Younous Omarjee, Patrick Le Hyaric im Namen der GUE/NGL-Fraktion
Das Europäische Parlament,
– gestützt auf Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die gegen die Politik der ukrainischen Regierung gerichteten Proteste, die dadurch ausgelöst wurden, dass die Regierung ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgelehnt hat, seit November 2013 anhalten, es zunehmend zu Gewalt auf beiden Seiten kommt und sich rechtsextreme und stark nationalistisch geprägte Gruppierungen den Protesten angeschlossen haben; in der Erwägung, dass die Unfähigkeit der politischen Kräfte – sowohl der Regierung als auch der Opposition –, einen Kompromiss zu finden, zu der Eskalation der Gewalt geführt hat, in deren Verlauf auf beiden Seiten dutzende Menschen getötet und hunderte verletzt wurden; in der Erwägung, dass die Proteste als proeuropäische Demonstrationen begannen, ihr Schwerpunkt sich dann aber auf eher innenpolitische Themen verschoben hat und sie sich von Kiew aus auf andere Städte ausgebreitet haben;
B. in der Erwägung, dass die Opposition den zwischen Wiktor Janukowytsch und den Vertretern der Opposition geschlossenen und von den Außenministern Frankreichs, Deutschlands und Polens vermittelten Kompromiss nicht eingehalten hat; in der Erwägung, dass Wiktor Janukowytsch die Ukraine verlassen und nach Moskau gereist ist, ohne offiziell zurückgetreten zu sein;
C. in der Erwägung, dass das Parlament der Ukraine, die Werchowna Rada, die Initiative ergriffen und beschlossen hat,
• Präsident Janukowytsch des Amtes zu entheben,
• am 25. Mai 2014 Wahlen abzuhalten,
• eine Übergangsregierung zu ernennen und
• die Verfassung von 2004, die für die Ukraine ein gemischtes parlamentarisch-präsidiales Regierungssystem vorsieht, wiedereinzuführen;
D. in der Erwägung, dass die Bevölkerung der Ukraine tief gespalten ist, was die Bewertung dieser Entwicklungen und die Zukunft des Landes angeht;
E. in der Erwägung, dass der russische Föderationsrat am 1. März 2014 den Einsatz von militärischer Gewalt auf dem Gebiet der Ukraine mit der Begründung genehmigt hat, dass Russland das Recht hat, die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine zu schützen; in der Erwägung, dass dies einen eindeutigen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt;
F. in der Erwägung, dass prorussische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen am 27. Februar 2014 begonnen haben, das Parlament der Krim, den internationalen Flughafen von Simferopol sowie Militärstützpunkte zu kontrollieren; in der Erwägung, dass die ukrainische Übergangsregierung de facto keine Kontrolle mehr über die Krim-Halbinsel hat; in der Erwägung, dass es Beweise gibt, dass Russland diese Entwicklung militärisch, politisch und wirtschaftlich unterstützt; in der Erwägung, dass es in mehreren ukrainischen Städten außerhalb der Krim nach wie vor große prorussische Kundgebungen gibt; in der Erwägung, dass diese Entwicklungen eine ernsthafte Bedrohung der territorialen Integrität der Ukraine darstellen;
G. in der Erwägung, dass die Reaktion der USA, der NATO und der EU darin bestand, verschiedene Treffen abzusagen und Kooperationsmechanismen auszusetzen, und dass sie Sanktionen erlassen haben;
H. in der Erwägung, dass die USA ihre Marinepräsenz im Schwarzen Meer erhöht und ihre Truppen im östlichen Europa verstärkt haben;
1. betont, dass die derzeitige tiefe politische Krise in der Ukraine weder durch Gewalt noch durch Entscheidungen der Übergangsregierung gelöst werden kann, sondern dass es einer eingehenden nationalen Debatte über die Zukunft des Landes bedarf; betont, dass langfristige Lösungen nur von der ukrainischen Bevölkerung selbst gefunden werden können, die – frei von ausländischer Einflussnahme – über die erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Reformen, die geopolitische Ausrichtung ihres Landes sowie darüber entscheiden sollte, welchen internationalen Abkommen und Gemeinschaften die Ukraine beitreten sollte;
2. bringt seine Sorge über die tiefgehende Spaltung des Landes zum Ausdruck; fordert alle politischen Akteure in der Ukraine auf, zur Deeskalation der Spannungen im Land beizutragen, sich für die territoriale Integrität und Souveränität des Landes einzusetzen, alle Bürger vor Einschüchterungsversuchen zu schützen, über die Rechte von Minderheiten zu wachen und bei der Vorbereitung freier und fairer Wahlen zu helfen;
3. betont, wie wichtig freie und faire Wahlen sind, um den demokratischen Einrichtungen der Ukraine Legitimität zu verleihen; fordert die Übergangsregierung der Ukraine auf, hierfür die notwendigen Grundlagen zu schaffen und allen politischen Kräften demokratische Rechte und Freiheiten und gleichberechtigten Zugang zu den Medien zu gewähren; erwartet von allen Parteien und politischen Institutionen, dass sie im Vorfeld der Wahl ihre Programme zur dauerhaften Überwindung der tiefen sozialen und wirtschaftlichen Krise veröffentlichen; verurteilt den Angriff auf die Kommunistische Partei durch rechte Kräfte und fordert die Übergangsregierung mit Nachdruck auf, solche Vorfälle zu verhindern;
4. verurteilt das gewaltsame Vorgehen der bewaffneten rechtsextremen und ultranationalistischen Gruppen in Kiew und anderen Orten in der Ukraine bei der Besetzung von Ministerien, Verwaltungsgebäude und Polizeistationen, wozu es vor allem in Kiew und im westlichen Teil des Landes gekommen ist; ist zutiefst besorgt darüber, dass rechtsextreme politische Gruppierungen wie die Swoboda-Partei und der Rechte Sektor, die für ihre rassistischen und antisemitischen Ansichten berüchtigt sind, in der Übergangsregierung in der Ukraine mehrere Ministerposten und andere Führungspositionen innehaben;
5. fordert eine unabhängige und transparente Untersuchung aller Gewaltakte der letzten Zeit, auch der Rolle und der Zugehörigkeit von Scharfschützen, und aller seit dem Beginn der Kundgebungen vorgefallenen Menschenrechtsverletzungen sowie eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen auf allen Seiten des Konflikts;
6. stellt mit Sorge fest, dass es sich bei den neu ernannten Gouverneuren der Oblaste Dnipropetrowsk und Donezk um Oligarchen handelt, die zu den zehn reichsten Personen in der Ukraine zählen; betont, dass die enge Verbindung zwischen der Verwaltung und den politischen Institutionen auf der einen Seite und den Oligarchen auf der anderen Seite in der Vergangenheit eines der entscheidenden Hindernisse für den Demokratisierungsprozess der Ukraine war;
7. ist äußerst besorgt darüber, dass die Ukraine zum Schlachtfeld des geopolitischen Wettbewerbs zwischen Russland und den USA geworden ist, sowie über die Rolle der EU bei dieser Entwicklung und darüber, dass die Konfrontation zwischen Russland, den USA, der EU und der NATO den Frieden und die Stabilität in Europa und auf globaler Ebene bedroht;
8. verurteilt die verschiedenen Formen der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine durch die EU, die USA und Russland sowie den wirtschaftlichen und finanziellen Druck, den diese Akteure auf das Land ausüben; betont, dass es für die politische Krise in der Ukraine keine militärische Lösung gibt;
9. ist zutiefst besorgt darüber, dass sich Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Krisensituationen, wie beispielsweise der derzeitigen in der Ukraine, nicht durch die Charta der Vereinten Nationen gebunden fühlen, was vor allem für den Grundsatz der Achtung der territorialen Integrität und Souveränität anderer Staaten, die Verpflichtung, ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beizulegen, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, sowie die Verpflichtung gilt, in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Anwendung von Gewalt zu unterlassen;
10. verurteilt die Genehmigung aufs Schärfste, die der Föderationsrat Russlands am 1. März 2014 für den Einsatz militärischer Gewalt auf dem Gebiet der Ukraine erteilt hat; fordert Russland mit Nachdruck auf, vom Einsatz von Gewalt sowie militärischen Interventionen in der Ukraine abzusehen und das Völkerrecht und seine Verpflichtungen im Rahmen internationaler Abkommen, wie etwa das Abkommen zwischen Russland und der Ukraine über die Präsenz der russischen Schwarzmeerflotte auf dem Territorium der Ukraine und das Budapester Memorandum von 1994, strikt zu befolgen;
11. bringt seine Sorge über den Beschluss des Parlaments der Autonomen Republik Krim zum Ausdruck, angesichts der derzeitigen angespannten Lage ein übereiltes Referendum über den Beitritt zur Russischen Föderation abzuhalten; ist besorgt über die mutmaßliche Rolle der russischen Streitkräfte auf der Krim-Halbinsel; kritisiert die übereilten Maßnahmen der russischen Gesetzgeber, mit denen ein Beitritt der Krim zur russischen Föderation ermöglicht wird;
12. unterstützt die Initiative für die Schaffung eines geeigneten internationalen Mechanismus, der vorzugweise unter der Federführung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stehen sollte, um eine politische Lösung für die Krim-Krise auszuhandeln;
13. ist besorgt darüber, dass der Gesandte der Vereinten Nationen, Robert Serry, bedroht und zum Verlassen der Krim gezwungen wurde, und dass den OSZE‑Beobachtern der Zugang verwehrt wurde; betont, dass die Situation auf der Krim-Halbinsel unbedingt objektiv bewertet werden muss; fordert die Regierung der Autonomen Republik Krim auf, den OSZE-Beobachtern Zugang zu gewähren und die notwendigen Voraussetzungen für eine objektive Bewertung der Situation durch internationale Beobachter zu schaffen;
14. ist zutiefst besorgt über die Entsendung zusätzlicher US-Streitkräfte in die Schwarzmeerregion und die baltischen Staaten; fordert Russland, die USA und die NATO mit Nachdruck auf, ihre Militärpräsenz in der Region zu reduzieren und von militärischen Übungen oder anderen potenziell provokanten Militäraktionen abzusehen;
15. bedauert zutiefst, dass die internationalen diplomatischen Bemühungen um einen Kompromiss zur Lösung der Krise bisher fehlgeschlagen sind; fordert alle Seiten mit Nachdruck auf, nicht weiter mit Sanktionen und der Einstellung bestehender Dialoge und Kooperationsmechanismen zu drohen, da dies zu einer weiteren Eskalation der internationalen Krise führen würde; betont, dass der Dialog mit Blick auf die Wiederherstellung des Vertrauens und eine Lösungsfindung im Interesse der ukrainischen Bevölkerung fortgesetzt werden muss;
16. betont, dass die internationale Krise, die im Kontext der Krise in der Ukraine entstanden ist, auf das Versagen Russlands und der EU zurückzuführen ist, auf dem europäischen Kontinent ein inklusives und nachhaltiges Sicherheitssystem sowie Kooperationsstrukturen zu schaffen, die eine echte Partnerschaft zwischen allen Ländern Europas, einschließlich Russlands, ermöglichen und fördern; kritisiert, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die Bedenken Russlands in Bezug auf die Östliche Nachbarschaftspolitik der EU, die Erweiterung der NATO und die Einrichtung eines Raketenabwehrsystems in Europa ignoriert haben; fordert in dem Bewusstsein, dass große Differenzen bei der Achtung der demokratischen Grundfreiheiten und der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption bestehen, eine Überprüfung der EU-Politik gegenüber Russland, um die Konfrontation zu beenden, einen konstruktiven Dialog über Fragen einzuleiten, die beiden Seiten ein Anliegen sind, und die Hindernisse für den Aufbau einer echten Partnerschaft zu beseitigen;
17. betont, dass die derzeitige politische Krise, die sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Probleme in der Ukraine verschlimmert; nimmt die Versprechen über kurzfristige finanzielle Hilfe der EU zur Kenntnis, durch die der Ukraine bei der Überwindung ihrer dringendsten finanziellen Probleme geholfen werden soll; betont, dass die Ukraine nachhaltige Unterstützung benötigt; hebt hervor, dass diese finanzielle Unterstützung nicht von Sparmaßnahmen abhängig gemacht werden sollte;
18. fordert die Übergangsbehörden in der Ukraine nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass die demokratischen Rechte und Freiheiten, die Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten, die Pressefreiheit sowie die Versammlungs- und Redefreiheit strikt geachtet werden; fordert alle EU-Organe und Mitgliedstaaten sowie die anderen ausländischen Akteure auf, diesbezüglich nicht nur Appelle zu veröffentlichen, sondern auch jegliche finanzielle Unterstützung der Ukraine von der Einhaltung dieser Normen und Verpflichtungen abhängig zu machen;
19. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Parlament und der Regierung der Ukraine, dem russischen Präsidenten, dem Parlament und der Regierung der Russischen Föderation, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und den Parlamentarischen Versammlungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des Europarats zu übermitteln.