ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in der Ukraine
15.7.2014 - ((2014/2717(RSP))
gemäß Artikel 123 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Helmut Scholz, Miloslav Ransdorf, Jean-Luc Mélenchon, Jiří Maštálka, Kateřina Konečná, Younous Omarjee, Sofia Sakorafa, Dimitrios Papadimoulis im Namen der GUE/NGL‑Fraktion
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf den Bericht des Amts des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte vom 15. Juni 2014 zur Menschenrechtslage in der Ukraine,
– gestützt auf Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. unter Hinweis darauf, dass die politischen und militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine seit Februar 2014 andauern, als der Präsident der Ukraine nach Monaten der politischen Unruhen gestürzt wurde;
B. unter Hinweis darauf, dass nach dem Sturz des Präsidenten Wiktor Janukowytsch am 21. Februar 2014 in mehreren Städten in der Ostukraine die Menschen im Südosten der Ukraine gegen die neue Regierung demonstriert haben, dass ab Mitte März in mehreren Städten, insbesondere in Donezk und Luhansk, bewaffnete Gruppen, die sich anfangs „Selbstverteidigungseinheiten“ nannten, Verwaltungsgebäude einnahmen und besetzten und dass ihre Forderungen von einer Föderalisierung der Ukraine über die Abspaltung ihrer Gebiete vom Rest der Ukraine bis zu einem Anschluss an Russland reichten;
C. unter Hinweis darauf, dass der Sicherheitsdienst und das Innenministerium der neuen Regierung der Ukraine Mitte April zunächst im Gebiet Donezk und dann im Gebiet Luhansk Militäroperationen einleiteten, die die Regierung als „Operation zur Bekämpfung des Terrorismus“ bezeichnete, und dass die Militäroperationen der ukrainischen Regierung nach den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen verstärkt wurden, womit die während des Wahlkampfes gemachten Versprechen des neu gewählten Präsidenten Poroschenko, er werde den Konflikt deeskalieren, gebrochen wurden;
D. unter Hinweis darauf, dass eine zehntägige Waffenruhe von beiden Seiten oft gebrochen wurde, dass mit ihr nie die zur Beendigung der Gewalt benötigten Impulse erzielt wurden und dass Präsident Poroschenko am 30. Juni 2014 beschloss, die Militärangriffe auf die südöstlichen Gebiete der Ukraine wieder aufzunehmen;
E. unter Hinweis darauf, dass immer häufiger Wohngebiete, Krankenhäuser und städtische Infrastruktur, einschließlich Wasser- und Elektrizitätskraftwerke und Schulen, zu Zielen der Militäraktionen der ukrainischen Armee, der Nationalgarde und anderer bewaffneter Formationen werden, dass laut dem am 15. Juni 2014 veröffentlichten Bericht des Amts des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte 356 Menschen – zu denen 257 Zivilisten und auch 14 Kinder gehörten – umgekommen sind, seit die Regierung der Ukraine ihre Militäroperation in den östlichen Gebieten Donezk und Luhansk begonnen hat, dass es in den belagerten Städten an Essen, Wasser und Medikamenten mangelt, dass es Hinweise auf den Einsatz von Landminen und Phosphorbomben gibt, dass laut Informationen der VN etwa 160 000 Flüchtlinge vor den Kämpfen geflohen sind, und dass nach Angaben der VN bei der Fähigkeit des Staates, Binnenvertriebene zu schützen, erhebliche Lücken bestehen;
F. in der Erwägung, dass die Hauptgründe für den anhaltenden Konflikt in der Ukraine ungelöste innenpolitische Probleme sind, dass die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der Ukraine sehr schwach ausgeprägt sind, dass die ukrainische Politik von Oligarchen beherrscht wird und Erdöl- und Erdgashändler zu Ministern, Gouverneuren oder Leitern wichtiger ukrainischer Einrichtungen ernannt werden; in der Erwägung, dass die wichtigsten staatlichen und demokratischen Organe – das Parlament, die Judikative und die Exekutive – ihren grundlegenden Aufgaben einer angemessenen Vertretung, Verteidigung und Wahrnehmung der Interessen der ukrainischen Gesellschaft nicht nachkommen; in der Erwägung, dass Korruption weitverbreitet ist, dass einem aktuellen Bericht der OECD zufolge die Unterschiede zwischen den Regionen nach OECD‑Maßstäben hoch sind und weiter zunehmen und dass sich der Index der menschlichen Entwicklung in den meisten ukrainischen Gebieten im Zeitraum 2000–2010 verschlechtert hat; dass nachgeordnete Regierungsebenen oftmals in hohem Maße von den Transfers der Zentralregierung abhängig sind, deren Zuweisungen für sie sowohl unvorhersehbar als auch wenig transparent sind; in der Erwägung, dass die Regierungen und Parlamente das Misstrauen und den bestehenden Hass zwischen den Teilen der ukrainischen Gesellschaft durch die Annahme umstrittener Beschlüsse in den Bereichen Sprache, Geschichte und internationale Beziehungen geschürt haben und dass keine dieser Probleme durch die politischen Veränderungen der letzten Zeit gelöst wurden;
G. in der Erwägung, dass die Anzahl der rechtsextremen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Politiker in der neuen ukrainischen Regierung äußerst besorgniserregend ist, dass es der neuen Regierung nicht gelingt, den berüchtigten Rechten Sektor unter Kontrolle zu bringen, dass die Kommunistische Partei der Ukraine, die ein Programm für den Fortbestand der Einheit der Ukraine bei gleichzeitigem Schutz aller Bürger des Landes vorgelegt hat, gewaltsamer Unterdrückung ausgesetzt ist und dass ein Verfahren zum gesetzlichen Verbot der Partei eingeleitet worden ist, bei dem die Partei kürzlich vor Gericht gebracht wurde;
H. in der Erwägung, dass zwischen der Ukraine, dem Westen und Russland derzeit ein Propagandakrieg ausgetragen wird, sodass es äußerst schwierig ist, an objektive Informationen zur Situation in der Ukraine zu gelangen, dass sechs Journalisten getötet und viele weitere festgenommen, angegriffen und belästigt worden sind und dass regierungskritische Medien, wie etwa die Holdinggesellschaft „Multimedia Invest Group“, diskriminiert werden;
I. unter Hinweis darauf, dass die Armutsrate in der Ukraine laut dem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen Anfang 2014 bei etwa 25 % lag, wobei die Lebensbedingungen von 11 Millionen Menschen unter den inländischen Sozialstandards lag, dass die sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen der Majdan‑Bewegung durch die neoliberale Agenda der neuen Regierung ersetzt wurden, die die Umsetzung der Bedingungen für das Darlehen des Internationalen Währungsfonds vorsieht – Kürzungen bei wichtigen Energiesubventionen, bei der Beschäftigung und den Renten im öffentlichen Dienst sowie einschneidende Kürzungen bei der sozialen Sicherheit, die für die schwächsten Teile der ukrainischen Bevölkerung schwerwiegende Folgen haben, dass der derzeitige militärische Konflikt die Lage noch verschlimmert hat und dass die Lebensmittelpreise im Vergleich zu 2013 um 8,2 % gestiegen sind, sodass die sozioökonomische Krise Einzug in viele Privathaushalte der Ukraine gehalten hat;
J. in der Erwägung, dass im Mai 2014 die Gaspreise für Privathaushalte in der Ukraine um 50 % und für Fernwärmeunternehmen um 40 % gestiegen sind und bis 2018 weitere Preiserhöhungen geplant sind, dass beide Seiten – anstatt Lösungen für die bestehenden Probleme bei der Umsetzung der Verträge zwischen Russland und der Ukraine auszuhandeln – den Gasstreit verschärfen und dadurch die Ängste und Emotionen der ukrainischen Bevölkerung weiter schüren;
K. unter Hinweis darauf, dass die Vereinten Nationen, Mitgliedstaaten der EU, die NATO und Russland zu dem Konflikt beitragen, indem sie beide Konfliktparteien politisch und materiell, auch militärisch, stark unterstützen;
L. unter Hinweis darauf, dass die Vereinigten Staaten auf die Krise in der Ukraine reagiert haben, indem sie ein 1 Milliarde Dollar schweres Programm für neue, in Osteuropa stattfindende militärische Übungen zu Land, zur See und in der Luft verabschiedet haben, dass der neu gewählte Präsident Poroschenko ein „Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Ukraine“ unterzeichnet hat, das die Grundlage für die enge Beteiligung von US‑Beratern an den Militäraktionen der ukrainischen Regierung sowie der Modernisierung und dem Wiederaufbau der Armee und des gesamten Sicherheitsbereichs bietet;
M. in der Erwägung, dass die NATO die Krise in der Ukraine für den eigenen Wiederaufschwung und die neue Konfrontation mit Russland missbraucht, nachdem sie doch die Zahl der Manöver in osteuropäischen Ländern erhöht hat, und dass sie auf ihrem Gipfel im September 2014 neue Militärstrategien und -einsätze in Osteuropa erörtern wird, worin ein Verstoß gegen die Grundakte zwischen der NATO und der Russischen Föderation von 1997 liegt, in der die NATO zusicherte, dass keine „zusätzliche permanente Stationierung substanzieller Kampftruppen“ in Osteuropa erfolgen wird;
N. in der Erwägung, dass die EU weiterhin die Augen vor der tatsächlichen Lage in der Ukraine verschließt und die ukrainische Regierung unkritisch unterstützt, dass die EU ihre Sanktionspolitik gegenüber Russland fortsetzt, dass das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, das ein umfassendes Freihandelsabkommen einschließt, trotz der Bedenken und des Widerstands aus breiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung unterzeichnet wurde, und dass sich die Kommission auf eine Reihe von konkreten Maßnahmen zur kurz- und mittelfristigen Unterstützung der Ukraine geeinigt hat;
1. erklärt sich zutiefst besorgt über die Fortsetzung der militärischen Konfrontation in der Ostukraine; fordert Präsident Poroschenko nachdrücklich auf, die Militäraktionen zu beenden; fordert alle Parteien auf, der unmittelbaren Wiederaufnahme der Waffenruhe zuzustimmen und auf die endgültige Beendigung der Gewalt mittels eines politischen und diplomatischen Prozesses hinzuarbeiten;
2. betont, dass die derzeitige tiefe politische Krise in der Ukraine nicht mit militärischen Mitteln bewältigt werden kann, sondern dass vielmehr eine tiefgehende landesweite Debatte über die notwendigen verfassungsmäßigen, politischen und wirtschaftlichen Reformen sowie die geopolitische Ausrichtung des Landes erforderlich ist;
3. fordert Russland, die EU und die Vereinigten Staaten auf, den Konflikt nicht weiter durch politische und materielle, einschließlich militärische, Unterstützung der Konfliktparteien zu schüren, und damit zu beginnen, zur Schaffung eines neuen Sozialpaktes zwischen den einzelnen Teilen des Landes beizutragen, wobei die Vielfalt der Ukraine als ein weitgehend positives Element der ukrainischen Identität anzuerkennen ist, und auf die territoriale Integrität und Souveränität des Landes hinzuarbeiten;
4. fordert ein Waffenembargo gegen alle Konfliktparteien und den Abzug aller ausländischen Militärberater und sonstigen Militärangehörigen aus der Ukraine;
5. fordert alle Beteiligten auf, von Äußerungen der Intoleranz sowie solchen, die Hass, Gewalt, Feindseligkeit, Diskriminierung und Radikalisierung schüren können, abzusehen;
6. unterstützt die verstärkte Rolle der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei der Bewältigung der Krise in der Ukraine; fordert die Umsetzung des unter dem Schweizer OSZE‑Vorsitz entwickelten „Fahrplans“, der eine gute Grundlage für einen Ausweg aus der Krise mit politischen Mitteln ist;
7. erklärt sein tiefes Mitgefühl mit den Familien der zivilen Opfer des Konflikts; verurteilt die schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts durch beide Seiten in den von dem Konflikt betroffenen Gebieten; fordert eine unabhängige Untersuchung aller Menschenrechtsverletzungen und die Strafverfolgung der Verantwortlichen;
8. erklärt sich zutiefst besorgt über die Zuspitzung der humanitären Krise in den Konfliktgebieten; fordert alle Konfliktparteien auf, internationalen Organisationen den Zugang zu den von den Sicherheitsoperationen betroffenen Gebieten zu ermöglichen, damit die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung begutachtet und befriedigt werden können;
9. fordert, dass eine unabhängige und umfassende Untersuchung aller Menschenrechtsverletzungen durchgeführt wird, insbesondere der Kriegsverbrechen, der Verbrechen im Zuge der Gewalthandlungen in Odessa am 2. Mai 2014 und der Verbrechen im Zusammenhang mit den Protesten auf dem Majdan, und dass gegen alle, die für Unrecht verantwortlich sind, ermittelt wird; betont, dass dieses Verfahren auf eine Art und Weise durchgeführt werden muss, die Vertrauen in die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren sicherstellt, sodass die Bevölkerungsgruppen das Ergebnis einer solchen Untersuchung uneingeschränkt akzeptieren können;
10. erklärt sich zutiefst besorgt über die Folgen der Maßnahmen, die die neue Regierung unter Befolgung der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU festgelegten Bedingungen beschlossen hat; missbilligt, dass die Bevölkerung der Ukraine den Preis für die verfehlte Politik früherer Regierungen zahlen muss und nicht stattdessen die ukrainischen Oligarchen zur Kasse gebeten werden;
11. erklärt sich zutiefst besorgt über die instabile Politik der Ukraine im Bereich der Energieversorgungssicherheit und über die damit verbundenen Folgen für die Bürger; fordert Russland und die Ukraine auf, die konstruktive Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft und Energie wieder aufzunehmen, um sicherzustellen, damit die Energiepreise für alle erschwinglich sind, und davon abzusehen, Energie und Handel als politisches Instrument einzusetzen;
12. fordert die ukrainischen und die internationalen Politiker auf, Zurückhaltung zu üben und von Erklärungen, die zu einer weiteren Eskalation des Konflikts führen könnten, abzusehen; erklärt sich äußerst besorgt über den von allen Konfliktparteien ausgetragenen Propagandakrieg; fordert alle Konfliktparteien auf, die Voraussetzungen für die Arbeit von Journalisten und anderen Angehörigen der Medien zu schaffen, die für eine objektive Beurteilung der Lage in allen Teilen der Ukraine unentbehrlich ist;
13. erklärt sich tief besorgt über die politische Rolle der rechtsextremen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Kräfte in der ukrainischen Politik; verurteilt die Angriffe gegen die Kommunistische Partei und die Bemühungen, diese Partei zu verbieten;
14. erklärt sich sehr besorgt über die zunehmende politische Konfrontation zwischen der NATO und Russland und über die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs; weist darauf hin, dass dadurch, dass kein ergebnisorientierter Dialog eingeleitet wurde, gefährliche Folgen für den Frieden und die Sicherheit in Europa und in der Welt drohen;
15. weist darauf hin, dass eine Politik, bei der die östliche Nachbarschaft losgelöst von der Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und Russland betrachtet wird, gescheitert ist; betont, dass es einer Neugestaltung der Politik der östlichen Nachbarschaft bedarf, um eine regionale Zusammenarbeit aufzubauen, von der kein Land ausgeschlossen wird; fordert Russland auf, sich aktiv an diesem Prozess zu beteiligen und Bereitschaft zu zeigen, zu einer gutnachbarlichen Politik beizutragen;
16. begrüßt die Aufnahme des Dialogs zwischen der EU, der Ukraine und Russland zu Maßnahmen zur Verhütung negativer Auswirkungen des Assoziierungsabkommens EU‑Ukraine für die Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und Russland und der Zollunion;
17. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Parlament und der Regierung der Ukraine und den Parlamentarischen Versammlungen der OSZE und des Europarats zu übermitteln.