ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zu der Ermordung des russischen Oppositionsführers Boris Nemzow und dem Zustand der Demokratie in Russland
9.3.2015 - (2015/2592(RSP))
gemäß Artikel 123 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Fabio Massimo Castaldo, Ignazio Corrao, Piernicola Pedicini, Kristina Winberg, Peter Lundgren im Namen der EFDD-Fraktion
B8‑0251/2015
Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Ermordung des russischen Oppositionsführers Boris Nemzow und dem Zustand der Demokratie in Russland
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine vorangegangenen Berichte und Entschließungen zu Russland,
− unter Hinweis auf seine Entschließung vom 11. Dezember 2013 zum Jahresbericht über Menschenrechte und Demokratie in der Welt 2012 und die Politik der Europäischen Union in diesem Bereich[1],
− unter Hinweis auf die Erklärung des Sprechers der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 30. Dezember 2014 zur Verurteilung von Alexei Nawalny und seinem Bruder Oleg Nawalny durch das Bezirksgericht Samoskworetschje,
− unter Hinweis auf die Erklärung der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 4. März 2015 zur fortdauernden Inhaftierung von Nadija Sawtschenko,
− unter Hinweis auf die Erklärung des Sprechers der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 4. März 2015 zur Entführung und andauernden unrechtmäßigen Inhaftierung eines estnischen Polizeibeamten,
− unter Hinweis auf die Erklärung des Sprechers der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 3. März 2015 zu dem Umstand, dass dem Mitglied des Europäischen Parlaments Sandra Kalniete die Einreise in das Hoheitsgebiet der Russischen Föderation verweigert wurde,
− unter Hinweis auf die Erklärung der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 28. Februar 2015 zu der Ermordung von Boris Nemzow,
− unter Hinweis auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Erklärung der Vereinten Nationen über die Menschenrechtsverteidiger und die Erklärung der Vereinten Nationen über das Recht und die Verpflichtung von Einzelpersonen, Gruppen und Organen der Gesellschaft, die allgemein anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen,
− unter Hinweis auf die Konsultationen zwischen der EU und Russland vom 28. November 2013 über Menschenrechtsthemen,
− unter Hinweis auf die Ergebnisse der Tagungen des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ vom 19. Januar 2015, 29. Januar 2015 und 9. Februar 2015,
− unter Hinweis auf die Verfassung Russlands, insbesondere auf deren Artikel 118, in dem es heißt, dass Rechtsprechung in der Russischen Föderation nur durch Gerichte ausgeübt wird, und auf deren Artikel 120, in dem es heißt, dass die Richter unabhängig und nur der Verfassung der Russischen Föderation und dem Föderationsrecht unterworfen sind,
− unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die beide 1973 von Russland ratifiziert wurden,
− unter Hinweis auf das derzeit geltende Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits sowie auf die ausgesetzten Verhandlungen über ein neues Abkommen zwischen der EU und Russland,
– gestützt auf Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass Boris Nemzow ein liberaler russischer Politiker und Ko-Vorsitzender der Republikanischen Partei Russlands – Partei der Volksfreiheit (RPR-PARNAS) war, einer registrierten Partei, die über keine Sitze in der Staatsduma und über einen Sitz auf Ebene der regionalen Parlamente verfügt;
B. in der Erwägung, dass Boris Nemzow in den Jahren 1997 und 1998 stellvertretender Ministerpräsident Russlands unter Präsident Boris Jelzin war; in der Erwägung, dass Boris Nemzow seit 1999 ein politischer Widersacher und ausgesprochener Kritiker von Wladimir Putin war, als er in seiner Eigenschaft als Mitgründer die Union der rechten Kräfte unterstützt hat, eine liberal-demokratische Koalition, die bei der Parlamentswahl im Dezember 1999 beinahe 6 Millionen Stimmen (8,6 % der Gesamtstimmen) erhalten hat;
C. in der Erwägung, dass Boris Nemzow ein aktiver Organisator und Teilnehmer des Marsches der Unzufriedenen sowie der bürgerlichen Aktionen und Kundgebungen „Für faire Wahlen“ im Rahmen der Strategie 31 war und dass diese Proteste der Opposition seit 2006 veranstaltet wurden; in der Erwägung, dass er 2007, 2010 und 2011 im Verlaufe von Demonstrationen festgenommen wurde;
D. in der Erwägung, dass der offiziellen Polizeiversion zufolge Boris Nemzow am 27. Februar 2015 auf einer Brücke in der Nähe des Kreml und des Roten Platzes in Moskau bei einem Spaziergang mit einer Frau von einem Angreifer in einem weißen Fahrzeug ermordet wurde, der ihm mehrfach in den Rücken geschossen hat;
E. in der Erwägung, dass sich der Mord einen Tag im Vorfeld einer von Boris Nemzow geplanten Demonstration gegen Präsident Wladimir Putin ereignete und dass diese Veranstaltung nach seiner Ermordung zu einem Marsch wurde, an dem Tausende Menschen zum Gedenken an den politischen Anführer teilnahmen;
F. in der Erwägung, dass Boris Nemzow in einem Interview in der Financial Times erklärt hat, an einem Bericht über russische Soldaten in der Ukraine zu arbeiten, und in einem weiteren, auf der russischen Nachrichten-Webseite „Sobesednik“ am 10. Februar 2015 veröffentlichten Interview seine Befürchtung geäußert hat, ermordet zu werden;
G. in der Erwägung, dass die russischen Stellen einen Ermittlungsausschuss eingerichtet haben, um den Mord an Boris Nemzow zu untersuchen, und dass dieser Ausschuss eine Reihe möglicher Verdächtiger aufgeführt hat, darunter Ultranationalisten, islamische Extremisten, Feinde im persönlichen Umfeld und Gruppen in Verbindung mit der Politik;
H. in der Erwägung, dass es keine eindeutigen Beweise im Zusammenhang mit der Verantwortung oder den Motiven für den Mordanschlag gibt;
I. in der Erwägung, dass nach Angaben von Alexander Bortnikow, Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, eine Reihe von Personen festgenommen wurden, die im Verdacht stehen, das Verbrechen begangen zu haben, und die Ermittlungen noch andauern;
J. in der Erwägung, dass politische Widersacher von Wladimir Putin außerhalb Russlands zunächst ihn verdächtigt haben, der Kreml jedoch alle Anschuldigungen zurückgewiesen und als „unlogisch“ und „inakzeptabel“ bezeichnet hat, da Boris Nemzow keine Bedrohung für den Präsidenten dargestellt habe; in der Erwägung, dass der Kreml angedeutet hat, dass es sich bei dem Mord womöglich um eine „Provokation“ handelte, um die russische Regierung und den russischen Staat zu destabilisieren;
K. in der Erwägung, dass die internationale Gemeinschaft den Mord verurteilt und transparente und unabhängige Ermittlungen gefordert hat, um die Wahrheit ans Licht zu bringen;
L. in der Erwägung, dass der Mord höchstwahrscheinlich politisch motiviert war erfolgte und dass die Freiheit der Meinungsäußerung und der politischen Betätigung in Russland für alle Bürger unvoreingenommen und ohne Angst garantiert sein sollte;
M. in der Erwägung, dass die Verabschiedung des Gesetzes über „ausländische Agenten“ zahlreiche Kritik ausgelöst hat, in dessen Rahmen jeder nichtstaatlichen Organisation, die ausländische Fördermittel erhält und in vage definierte „politische Tätigkeiten“ involviert ist, die Verpflichtung auferlegt wird, sich als „eine Organisation, die als ausländischer Agent agiert“ zu registrieren;
N. in der Erwägung, dass im Juni 2013 ein föderales Gesetz zum Verbot der „Propaganda zugunsten nicht traditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“ eingeführt wurde;
O. in der Erwägung, dass gemäß dem Bericht von Amnesty International mit dem Titel „Verletzung des Rechts auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Russland“ die Liste der Journalisten, die in Russland angegriffen und ermordet wurden, kontinuierlich zunimmt;
P. in der Erwägung, dass sowohl die Freiheit der Meinungsäußerung als auch die Achtung der Gesetze und Vorschriften gegeben sein müssen, während die russische Regierung gleichzeitig nicht möchte, dass sie von externen Akteuren, etwa von Drittländern, destabilisiert wird;
Q. in der Erwägung, dass die Spannungen in den Beziehungen zwischen der EU und Russland abgebaut werden müssen und dass wieder ein Klima der besonnenen und friedlichen Zusammenarbeit herbeigeführt werden muss;
1. verurteilt den Mord an Boris Nemzow und spricht den Angehörigen des Opfers und den vielen Teilnehmern am Marsch nach dem Mord sein Mitgefühl aus;
2. fordert die russischen Stellen auf, ihre Ermittlungen auf transparente und klare Weise durchzuführen, um so schnell wie möglich herauszufinden, wer Boris Nemzow ermordet hat, und um die Hintergründe dieses Mordes aufzuklären;
3. fordert die russischen Stellen auf, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Ermittlungen zu gewährleisten, um jegliche Beteiligung von Personen, die mit dem Staat in Verbindung stehen, auszuschließen;
4. betont, wie wichtig es ist, die Freiheit der Meinungsäußerung und der politischen Betätigung zu gewährleisten und den Menschen auf diese Weise zu ermöglichen, ihre Ansichten frei zu bekunden und Veranstaltungen und erforderlichenfalls Proteste und sonstige Demonstrationen zu organisieren, ohne dass die Organisatoren von oder die Teilnehmer an den Demonstrationen Gewalt, Einschränkungen, Schikanen oder Drohungen ausgesetzt sind;
5. betont, wie wichtig es ist, dass es oppositionelle politische Kräfte gibt, um in Russland eine kontinuierliche Debatte und einen kontinuierlichen Meinungs- und Gedankenaustausch in der Politik und im Prozess der Rechtsetzung sicherzustellen;
6. fordert die russische Regierung auf, die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Russland mit Blick auf die freie Wahl der Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, sexuellen Orientierung oder ihren politischen Ansichten und im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen und -standards und der russischen Verfassung sicherzustellen;
7. fordert die russische Regierung auf, die Freiheit und den Pluralismus der Medien zu fördern und zu gewährleisten, dass die Massenmedien keinerlei Zensur unterliegen;
8. verurteilt sämtliche Formen der Verfolgung und Schikanierung von Journalisten sowie die unbefriedigenden Ergebnisse bei Ermittlungen von in der Vergangenheit begangenen Übergriffen;
9. fordert die russische Regierung auf, eine faire und freie politische Debatte zu fördern und jegliches Klima der Intoleranz gegenüber öffentlichen Protesten zu verhindern;
10. fordert die russischen Stellen auf, die Achtung der Rechte aller Minderheiten und deren Vertretung in allen Bereichen der Gesellschaft – auf politischer, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Ebene – sicherzustellen;
11. betont, dass die europäischen Institutionen und Russland zusammenarbeiten sollten, um die gegenseitige Einhaltung des Personen- und Warenverkehrs wiederherzustellen samt der uneingeschränkten Achtung aller Grundrechte;
12. bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die Beziehungen zwischen Russland und der EU auf der Achtung der Menschenrechte in einem von Frieden und Eintracht geprägten Umfeld beruhen werden;
13. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation, dem EAD, der OSZE sowie dem Europarat zu übermitteln.
- [1] Angenommene Texte, P7_TA(2013)0575.