ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in Ungarn: Weiterbehandlung der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juni 2015
9.12.2015 - (2015/2935(RSP))
gemäß Artikel 128 Absatz 5 der Geschäftsordnung
Marie-Christine Vergiat, Cornelia Ernst, Malin Björk, Barbara Spinelli, Patrick Le Hyaric, Lola Sánchez Caldentey, Estefanía Torres Martínez, Xabier Benito Ziluaga, Miguel Urbán Crespo, Tania González Peñas, Helmut Scholz im Namen der GUE/NGL-Fraktion
Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B8-1351/2015
B8-1361/2015
Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in Ungarn: Weiterbehandlung der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juni 2015
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die Präambel des Vertrags über die Europäische Union (EUV), insbesondere auf die Absätze 2 und 4 bis 7,
– unter Hinweis insbesondere auf Artikel 2, Artikel 3 Absatz 3 Unterabsatz 2, Artikel 6 und Artikel 7 EUV sowie auf die Artikel des EUV und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über die Achtung, die Förderung und den Schutz der Grundrechte in der EU,
– unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000, die am 12. Dezember 2007 in Straßburg proklamiert wurde und im Dezember 2009 mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft trat,
– unter Hinweis auf seine Entschließungen vom 10. Juni 2015 zur Lage in Ungarn[1], vom 3. Juli 2013 zur Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn[2], vom 16. Februar 2012 zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Ungarn[3] und vom 10. März 2011 zum Mediengesetz in Ungarn[4],
– unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention,
– unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission vom 11. März 2014 mit dem Titel „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (COM(2014)0158),
– unter Hinweis auf die Stellungnahme, die der Menschenrechtskommissar des Europarats am 27. November 2015 nach seinem Besuch in Ungarn abgegeben hat,
– unter Hinweis auf die Erklärung, die die Kommission im Zuge der Aussprache am 2. Dezember 2015 im Plenum des Parlaments zur Lage in Ungarn abgegeben hat,
– unter Hinweis auf die Anfrage an die Kommission zur Lage in Ungarn: Folgemaßnahmen zur Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juni 2015 (O-000140/2015 – B8-1110/2015),
– gestützt auf Artikel 128 Absatz 5 und Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die Werte Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Personen, die einer Minderheit angehören, universelle Werte sind, die in Artikel 2 EUV als Werte der EU verankert und somit in einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet, gemeinsame Werte aller Mitgliedstaaten sind;
B. in der Erwägung, dass die Charta der Grundrechte der EU die Diskriminierung insbesondere aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verbietet;
C. in der Erwägung, dass das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des EUV und des AEUV garantiert ist;
D. in der Erwägung, dass sich die Lage im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte aufgrund der Maßnahmen der ungarischen Regierung in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat, insbesondere in folgender Hinsicht: Befugnisse und Zusammensetzung des Verfassungsgerichts, Wahlgesetze und Beschränkungen von Kampagnen der Opposition, Aufbau und Arbeitsweise der Justiz einschließlich der Staatsanwaltschaft, Behinderung der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Begrenzung des Zugangs zu Informationen und der Medienfreiheit, Einschränkung der Menschenrechte von Einwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen sowie feindseliges Verhalten und Hassreden gegenüber bestimmten Gruppen – beispielsweise Roma, Juden, lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Personen, Migranten, Obdachlose und andere von Armut betroffene Menschen;
E. in der Erwägung, dass das Parlament die Kommission in seiner Entschließung vom 10. Juni 2015 zur Lage in Ungarn aufgefordert hat, einen umfassenden Überwachungsprozess zur Lage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn in Gang zu bringen, die Kommission dieser Forderung jedoch bisher nicht nachgekommen ist;
F. in der Erwägung, dass das ungarische Parlament im Juli und im September 2015 eine Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet hat, von denen vor allem das Asylrecht, das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung, das Gesetz über die Staatsgrenzen, das Polizeigesetz und das Gesetz über die nationale Verteidigung betroffen sind; in der Erwägung, dass die Kommission in ihrer vorläufigen Einschätzung zu Inhalt und Anwendung dieser Gesetzesänderungen eine Reihe von Problemen und Fragen geäußert hat; in der Erwägung, dass die Kommission der ungarischen Regierung am 6. Oktober 2015 ein Verwaltungsschreiben übermittelt hat; in der Erwägung, dass die ungarische Regierung auf dieses Schreiben geantwortet hat;
G. in der Erwägung, dass die Kommission in ihrer Erklärung zur Lage in Ungarn auf der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments am 2. Dezember 2015 erklärt hat, dass sie bereit sei, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich des Vertragsverletzungsverfahrens, zu nutzen, um sicherzustellen, dass Ungarn – und alle anderen Mitgliedstaaten – seinen Verpflichtungen nach dem EU-Recht nachkommt und die in Artikel 2 EUV verankerten Werte der Union achtet;
H. in der Erwägung, dass die Kommission die Ansicht vertritt, dass die Bedingungen für die Anwendung des Rahmens für Rechtsstaatlichkeit im Falle Ungarns in diesem Moment nicht erfüllt sind;
1. bekräftigt den Standpunkt, den es in seiner Entschließung vom 10. Juni 2015 zur Lage in Ungarn zum Ausdruck gebracht hat;
2. verurteilt die in den vergangenen Monaten mit Hast getroffenen Maßnahmen, durch die der Zugang zu internationalem Schutz extrem schwierig geworden ist und Migranten und Asylbewerber ungerechtfertigterweise kriminalisiert werden; verurteilt den Umstand, dass Asylbewerber immer häufiger inhaftiert werden und fremdenfeindliche Rhetorik eingesetzt wird, bei der Migranten mit gesellschaftlichen Problemen oder Sicherheitsrisiken in Verbindung gebracht werden, sodass die Integration der wenigen Migranten, die in Ungarn bleiben, noch problematischer wird;
3. weist darauf hin, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten den Grundsätzen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte genügen und diesen entsprechen müssen;
4. verurteilt in allen Fällen Verletzungen der Grundrechte durch die Mitgliedstaaten sowie das Ausbleiben einer Reaktion des Rates auf diese beunruhigenden Entwicklungen, insbesondere in Ungarn; fordert den Rat der Europäischen Union und den Europäischen Rat mit Nachdruck auf, die Lage in Ungarn möglichst bald zu erörtern und entsprechende Schlussfolgerungen zu verabschieden;
5. stellt fest, dass aufgrund dieser Entwicklungen in den letzten Jahren Bedenken in Bezug auf die Grundsätze Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Achtung der Grundrechte in Ungarn aufgekommen sind, da diese Entwicklungen sich zusammengenommen zu einer systemischen Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit in diesem Mitgliedstaat auswachsen können; ist der Ansicht, dass im Fall Ungarns alle Rechtsverletzungen, die sich in anderen Mitgliedstaaten ereignen, zusammenkommen und dieser Fall deshalb für sich genommen eine Probe darstellt, bei der die EU unter Beweis stellen muss, dass sie in der Lage und dazu bereit ist, auf die Gefährdung und Verletzung ihrer Grundwerte durch einen Mitgliedstaat zu reagieren; verfolgt mit Besorgnis die Entwicklungen, die sich in einigen anderen Mitgliedstaaten, wie Polen, Frankreich, der Slowakei und der Tschechischen Republik, vollziehen, da sie beunruhigende Anzeichen für eine ähnliche Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips erkennen lassen;
6. missbilligt den Umstand, dass der von der Kommission zurzeit verfolgte Ansatz sich hauptsächlich auf marginale fachliche Aspekte der Rechtsetzung konzentriert, während Trends und Muster vernachlässigt werden; ist der Ansicht, dass gerade Vertragsverletzungsverfahren in den meisten Fällen versagt und weder echte Veränderungen angestoßen noch zu einer Verbesserung der Situation im weiteren Sinne beigetragen haben; fordert die Kommission mit Nachdruck auf, die erste Phase des EU-Rahmens zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit einzuleiten und folglich unverzüglich einen umfassenden Überwachungsprozess zur Lage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte – vor allem in Ungarn – in Gang zu bringen, dabei zu beurteilen, ob möglicherweise eine schwerwiegende systemische Verletzung der in Artikel 2 EUV verankerten Werte vorliegt, auf die sich die Union gründet – einschließlich der kombinierten Auswirkungen einer Reihe von Maßnahmen, die die Demokratie, das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte aushöhlen –, und zu bewerten, ob sich in diesem Mitgliedstaat eine systemische Gefährdung des Rechtsstaatsprinzips anbahnt, die sich zu einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung im Sinne von Artikel 7 EUV auswachsen könnte;
7. missbilligt, dass die Kommission in Fragen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte untätig bleibt, gleichzeitig aber Verfahren gegen Mitgliedstaaten einleitet, um sie – ohne Rücksicht auf die dramatischen sozialen Folgen und die Auswirkungen auf die Grundrechte, die Menschenrechte und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte – zur Einführung von Sparmaßnahmen zu verpflichten;
8. weist erneut nachdrücklich auf die Empfehlungen hin, die es der Kommission in seiner Entschließung vom 3. Juli 2013 zur Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn unterbreitet hat und in denen es insbesondere auch darauf hingewiesen hat, dass durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie den anstehenden Beitritt der Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention eine neue Architektur im Recht der Europäischen Union entsteht sowie dass das sogenannte „Kopenhagen-Dilemma“ dringend behoben und in der EU ein Mechanismus zur Wahrung der Demokratie, des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte eingerichtet werden muss;
9. nimmt zur Kenntnis, dass eine Europäische Bürgerinitiative registriert wurde, in deren Rahmen die Kommission ersucht wird, wegen der mutmaßlichen Verstöße Ungarns gegen die Grundwerte der EU die Anwendung von Artikel 7 EUV vorzuschlagen; fordert den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres auf, gemäß Artikel 83 der Geschäftsordnung einen Sonderbericht zu Ungarn auszuarbeiten, damit über einen begründeten Vorschlag abgestimmt werden kann, mit dem der Rat aufgefordert wird, Maßnahmen nach Artikel 7 Absatz 1 EUV zu treffen;
10. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung der Kommission, dem Rat, dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament Ungarns, den Regierungen und den Parlamenten der Mitgliedstaaten und der Bewerberländer, der Grundrechteagentur der EU, dem Europarat und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu übermitteln.
- [1] Angenommene Texte, P8_TA(2015)0227.
- [2] Angenommene Texte, P7_TA(2013)0315.
- [3] ABl. C 249 E vom 30.8.2013, S. 27.
- [4] ABl. C 199 E vom 7.7.2012, S. 154.