ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zum 20. Jahrestag des Friedensabkommens von Dayton
14.12.2015 - (2015/2979(RSP))
gemäß Artikel 123 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Fabio Massimo Castaldo, Ignazio Corrao im Namen der EFDD-Fraktion
Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B8-1362/2015
B8-1398/2015
Entschließung des Europäischen Parlaments zum 20. Jahrestag des Friedensabkommens von Dayton
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf das Friedensabkommen von Dayton, seinen Allgemeinen Rahmen und seine zwölf Anhänge,
– unter Hinweis auf seine Entschließungen vom 7. Juli 2005[1], 15. Januar 2009[2] und 9. Juli 2015[3] zu Srebrenica,
– unter Hinweis auf seine zahlreichen Entschließungen zu den Fortschrittsberichten über Bosnien und Herzegowina,
– unter Hinweis auf das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bosnien und Herzegowina (BiH) andererseits, das am 16. Juni 2008 in Luxemburg unterzeichnet wurde und am 1. Juni 2015 in Kraft getreten ist,
– unter Hinweis auf die Stellungnahme der Venedig-Kommission vom 11. März 2005 zur konstitutionellen Lage in Bosnien und Herzegowina und die Befugnisse des Hohen Vertreters;
– gestützt auf Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass der Text des Friedensabkommens von Dayton am 21. November 1995 in Dayton (Ohio) paraphiert wurde; in der Erwägung, dass das Friedensabkommen von Dayton am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet wurde und dem blutigsten Konflikt in Europa seit dem zweiten Weltkrieg ein Ende setzte;
B. in der Erwägung, dass Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge ungefähr 100 000 Menschen im Krieg in Bosnien und Herzegowina getötet und mehrere Tausend Menschen schwer verletzt wurden, und dass Zehntausende Opfer sexueller Gewalt wurden; in der Erwägung, dass infolge des Kriegs in Bosnien und Herzegowina mehr als zwei Millionen Menschen vertrieben wurden;
C. in der Erwägung, dass das Abkommen von Dayton notwendig war, um das Blutvergießen zu beenden, dass jedoch Bosnien und Herzegowina dadurch leider nicht zu einem sich selbst tragenden und funktionierenden Staat wurde, wie in den letzten Jahren durch die dauerhafte politische Krise deutlich wurde, die auf die Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen, zurückzuführen ist;
D. in der Erwägung, dass die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) detaillierte, maßvolle und praktische Vorschläge dazu vorgelegt hat, wie die Verfassung von Bosnien und Herzegowina auf ganzheitliche Weise reformiert werden kann;
E. in der Erwägung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2009 in der Rechtssache Sejdić und Finci entschieden hat, dass Teile der derzeitigen Verfassung von Bosnien und Herzegowina gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen; in der Erwägung, dass der Gerichtshof 2014 in der Rechtssache Zornic ein ähnliches Urteil gesprochen hat;
F. in der Erwägung, dass das sogenannte „April-Paket“ von Verfassungsänderungen, das von den Vertretern der meisten wichtigsten Parteien in Bosnien und Herzegowina unterstützt wurde, eine Reihe von Vorschlägen enthielt, mit denen die staatliche Macht hätte gestärkt werden und einige Missstände bei der Legislative und der Exekutive in Bosnien und Herzegowina angegangen werden sollen, und dass es nur daran gescheitert ist, dass das erforderliche Quorum für die Annahme von Verfassungsänderungen um zwei Stimmen verfehlt wurde;
G. in der Erwägung, dass Anhang 7 des Friedensabkommens von Dayton noch immer nicht vollständig umgesetzt wurde; in der Erwägung, dass immer noch eine faire, umfassende und dauerhafte Lösungen für Binnenvertriebene, Flüchtlinge und andere von dem Konflikten betroffene Personen gefunden werden muss und dass in Bezug auf die bessere sozioökonomische Integration der zurückgekehrten Menschen noch keine Fortschritte erzielt wurden;
H. in der Erwägung, dass nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz noch immer etwa 11 000 Personen vermisst werden, deren Schicksal nach wie vor unbekannt ist;
1. gedenkt des historischen Ereignisses der Paraphierung und Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton am 21. November 1995 in Dayton bzw. am 14. Dezember in Paris, wodurch ein schrecklicher bewaffneter Konflikt mitten in Europa beendet wurde, der durch groß angelegte ethnische Säuberungsaktionen, Völkermord und zahllose Kriegsverbrechen gekennzeichnet war;
2. spricht den Familien der zahlreichen Opfer und Vermissten des Kriegs in Bosnien und Herzegowina sein Beileid aus; fordert die Behörden von Bosnien und Herzegowina auf, ihre Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) fortzusetzen und ihre Bemühungen zu verstärken, wirksam den Rückstand bei den einheimischen Verfahren zu Kriegsverbrechen aufzuholen, damit die Täter von Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt werden;
3. erinnert daran, dass das Friedensabkommen von Dayton 12 Anhänge hat, die sich mit verschiedenen Themen wie den militärischen Aspekten (Anhang 1A), der regionalen Stabilisierung (Anhang 1B), der Verfassung (Anhang 4), den Menschenrechten (Anhang 6) und den Flüchtlingen und Vertriebenen (Anhang 7) befassen; unterstreicht, dass der 20. Jahrestag als Gelegenheit genutzt werden muss, den Stand der Umsetzung der einzelnen Anhänge zu bewerten;
4. ist zutiefst davon überzeugt, dass die derzeitige Verfassung von Bosnien und Herzegowina in der in Anhang 4 zum Friedensabkommen von Dayton enthaltenen Fassung dringend reformiert werden muss, damit der Staat in einer Art und Weise funktioniert, die allen seinen Bürgern zugutekommt, und damit Beitrittsgespräche mit der EU möglich werden; betont, dass eine eingehende Überarbeitung und Reform der Verfassung erforderlich ist, damit der institutionelle Rahmen des Landes wirksam und effizient funktioniert;
5. wiederholt das Bekenntnis der EU zu der europäischen Perspektive und dem weiteren Beitrittsprozess Bosnien und Herzegowinas sowie aller westlichen Balkanländer; vertritt die Auffassung, dass regionale Zusammenarbeit und der Prozess der europäischen Integration der beste Weg sind, um die Aussöhnung voranzutreiben sowie Hass und Differenzen zu überwinden;
6. vertritt die Ansicht, dass folgenden langfristigen Zielen Rechnung getragen werden sollte:
• dem obersten Ziel einer demokratisch legitimierten Verfassung, an deren Ausarbeitung sich alle politischen Kräfte und die Zivilgesellschaft in einem öffentlichen und transparenten Prozess beteiligen;
• der langfristigen Aussicht auf einen allmählichen Übergang von einem auf der Gleichheit dreier Volksgruppen beruhenden Staat zu einem auf der Gleichheit der Bürger basierenden Staat;
• der schrittweisen Abschaffung der Position des Hohen Repräsentanten, sobald die notwendigen Vorbedingungen erfüllt sind und dieser von einem Entscheidungsträger zu einem Vermittler geworden ist;
7. erinnert an seine früheren Erklärungen zur Art der Reform der Verfassung von Dayton und besteht weiter auf folgenden Punkten:
• der Staat sollte über ausreichende Legislativ-, Haushalts- und Exekutivbefugnisse sowie gerichtliche Befugnisse verfügen, um wie ein Mitglied der EU zu funktionieren, einen funktionsfähigen Binnenmarkt zu errichten und aufrechtzuerhalten und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu fördern;
• die Zahl der Verwaltungsebenen, die an der Führung des Landes beteiligt sind, sollte in einem angemessenen Verhältnis zu den finanziellen Ressourcen von Bosnien und Herzegowina stehen und auf einer effizienten, kohärenten und effektiven Aufteilung der Zuständigkeiten beruhen;
• die Wahrung der wesentlichen nationalen Interessen innerhalb von Bosnien und Herzegowina muss mit der Handlungsfähigkeit des Landes vereinbar sein; es bedarf einer deutlichen, erschöpfenden und gleichzeitig engen Auslegung des Begriffs der „wesentlichen nationalen Interessen“, um jeden ethnisch begründeten Missbrauch des einschlägigen Vetoinstruments für rein obstruktionistische Zwecke zu verhindern;
• es bedarf einer gründlichen Überprüfung des Entitätsvetomechanismus, der nur bei Fragen anwendbar sein sollte, die der gemeinsamen Verantwortung des Staates und der Entitäten unterliegen;
• alle Minderheitengemeinden müssen dieselben Rechte genießen wie die konstituierenden Volksgruppen, und dies schließt im Einklang mit den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und den einschlägigen Stellungnahmen der Europäischen Kommission für Demokratie durch das Recht (Venedig-Kommission) des Europarates die Abschaffung der auf der ethnischen Herkunft beruhenden Beschränkungen des passiven Wahlrechts ein;
8. fordert alle politischen Parteien auf, sich konstruktiv und offen an diesem Prozess zu beteiligen und sich dabei die Ratschläge und Orientierungen der Venedig-Kommission zunutze zu machen; begrüßt und unterstützt die Bemühungen von Organisationen der Zivilgesellschaft, Einfluss auf den Prozess der Verfassungsreform zu nehmen; begrüßt die Beschlüsse des Ministerrats vom September 2015 bezüglich eines Aktionsplans zur Umsetzung der Urteile des EGMR in den Rechtssachen Sejdić-Finci und Zornic sowie der Einsetzung einer Kommission, die Entwürfe von Verfassungsänderungen ausarbeiten soll;
9. bekräftigt die Verpflichtung, Anhang 7 des Friedensabkommens von Dayton umzusetzen, um für eine dauerhafte Rückkehr und auch faire, umfassende und nachhaltige Lösungen für Binnenvertriebene, Flüchtlinge und andere vom Konflikt betroffene Personen zu sorgen; stellt mit Besorgnis fest, dass es in Bosnien und Herzegowina noch immer 84 500 Binnenvertriebene gibt; fordert die wirksame Umsetzung der überarbeiteten Strategie im Zusammenhang mit Anhang 7 des Friedensabkommens von Dayton;
10. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament von Bosnien und Herzegowina und seiner Entitäten sowie den Regierungen und Parlamenten der Länder des westlichen Balkans zu übermitteln.
- [1] ABl. C 157 E vom 6.7.2006, S. 468.
- [2] ABl. C 46 E vom 24.2.2010, S. 111.
- [3] Angenommene Texte, P8_TA(2015)0276.