ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zum Recht auf friedlichen Protest und zum verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt
11.2.2019 - (2019/2569(RSP))
gemäß Artikel 123 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Sylvia-Yvonne Kaufmann, Birgit Sippel im Namen der S&D-Fraktion
Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B8-0104/2019
B8-0105/2019
Entschließung des Europäischen Parlaments zum Recht auf friedlichen Protest und zum verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die EU-Verträge, insbesondere die Artikel 2, 3, 4, 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV),
– unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta“),
– unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR),
– unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte,
– unter Hinweis auf die Grundprinzipien der Vereinten Nationen für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit Polizeibefugnissen,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 16. Januar 2019 zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union[1],
– gestützt auf Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass sich die EU auf folgende Werte gründet: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören; in der Erwägung, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam sind, die sich durch Pluralismus, Diskriminierungsfreiheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichstellung von Frauen und Männern auszeichnet;
B. in der Erwägung, dass die internationalen Menschenrechtsinstrumente für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten bindende Wirkung haben und zu achten sind;
C. in der Erwägung, dass die Rechtsstaatlichkeit das Rückgrat der Demokratie und eines der Grundprinzipien der EU ist, deren Wirken auf dem gegenseitigen Vertrauen darauf beruht, dass die Mitgliedstaaten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte gemäß der Charta der Grundrechte und der EMRK einhalten;
D. in der Erwägung, dass die EU unbedingt die Meinungs- und Informationsfreiheit sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wahren muss;
E. in der Erwägung, dass in Artikel 11 der EMRK und Artikel 12 der Charta verankert ist, dass jede Person das Recht hat, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten;
F. in der Erwägung, dass in der EMRK zudem verankert ist, dass die Versammlungsfreiheit „rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen[steht]“, sofern die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Notwendigkeit beachtet werden;
G. in der Erwägung, dass sich Beamte mit Polizeibefugnissen immer dann, wenn die rechtmäßige Anwendung von Gewalt unvermeidlich ist, bei dieser Anwendung zurückhalten und der Schwere der Tat und dem verfolgten legitimen Ziel angemessen handeln müssen; in der Erwägung, dass sie Schäden und Verletzungen vermeiden und das Leben von Menschen und die körperliche Unversehrtheit wahren und schützen sollten;
H. in der Erwägung, dass nach Artikel 12 der Charta ferner politische „Parteien auf der Ebene der Union [...] dazu [beitragen], den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen“;
I. in der Erwägung, dass es die Vereinigungsfreiheit zu schützen gilt; in der Erwägung, dass eine lebendige Zivilgesellschaft und pluralistische Medien eine zentrale Rolle bei der Förderung einer offenen und pluralistischen Gesellschaft und der Beteiligung der Öffentlichkeit am demokratischen Prozess sowie der Stärkung der Rechenschaftspflicht der Regierungen spielen;
J. in der Erwägung, dass die Versammlungsfreiheit Hand in Hand mit dem in Artikel 11 der Charta und Artikel 10 der EMRK verankerten Recht auf freie Meinungsäußerung geht und dass in diesen Artikeln jeder Person das Recht auf freie Meinungsäußerung zugesichert wird, wobei dieses Recht die Meinungsfreiheit und die Freiheit, Informationen und Ideen ohne behördliche Einmischung und über Staatsgrenzen hinweg zu empfangen und weiterzugeben, einschließt;
K. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 52 der Charta „jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten […] gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]“;
L. in der Erwägung, dass der Einsatz weniger letaler Waffen einschließlich der Gummigeschosswerfer Flash-Ball und LBD 40 und der Granate GLI‑F4 bei den jüngsten Demonstrationen in der EU in zahlreichen Fällen zu schweren Verletzungen geführt hat;
1. fordert die Mitgliedstaaten auf, das Recht auf freie und friedliche Versammlung, auf Vereinigungsfreiheit und auf freie Meinungsäußerung zu gewährleisten;
2. hebt hervor, dass das Recht des Einzelnen, sich mit anderen zu versammeln und sich gemeinsam Gehör zu verschaffen, für eine ordnungsgemäß funktionierende Demokratie unabdingbar ist;
3. verurteilt die Anwendung von Gewalt und das unverhältnismäßige Eingreifen der Einsatzkräfte mehrerer Mitgliedstaaten bei Protesten und friedlichen Demonstrationen; fordert die zuständigen Behörden auf, für transparente, unparteiische und wirkungsvolle Untersuchungen zu sorgen, wenn unverhältnismäßige Gewalt angewendet wurde;
4. fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu unterlassen;
5. betont, dass der Einsatz von Waffen jeglicher Art begrenzt sein und dass eine freiwillige, gewaltfreie Auflösung für Strafverfolgungsbehörden Priorität haben muss;
6. weist darauf hin, dass die Polizeikräfte, unter denen es ebenfalls zu zahlreichen Verlusten gekommen ist, in einem schwierigen Umfeld tätig sind, was insbesondere auf die Feindseligkeit mancher Demonstranten, aber auch auf eine übermäßige Arbeitsbelastung zurückzuführen ist; verurteilt jeglichen Einsatz von Gewalt gegen Einzelpersonen oder Eigentum durch gewalttätige und militante Demonstranten, die ausschließlich zum Zweck der Ausübung von Gewalt erscheinen und die Legitimität friedlicher Proteste untergraben;
7. fordert die Mitgliedstaaten auf, die Polizeikräfte mit Blick auf Techniken für den Umgang mit einer größeren Menschenmenge und den Einsatz bestimmter Waffen besser zu schulen; fordert die Mitgliedstaaten auf, auf alternative Methoden zurückzugreifen, die sich in manchen EU-Ländern bereits bewährt haben, wobei hier insbesondere die Kommunikation mit den Demonstranten über Großleinwände, sodass der physische Kontakt mit den Demonstranten weitestgehend vermieden wird, und der Einsatz von psychologisch und soziologisch geschulten Vermittlern zu nennen sind;
8. legt den Beamten mit Polizeibefugnissen der Mitgliedstaaten nahe, aktiv an den von der Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung (CEPOL) angebotenen Lehrgängen der Kategorie „Öffentliche Ordnung – Begleitung von Großveranstaltungen“ teilzunehmen; hält die Mitgliedstaaten dazu an, sich diesbezüglich über bewährte Verfahren auszutauschen;
9. stellt fest, dass die Vereinten Nationen fordern, dass bestimmte Arten weniger letaler Waffen verboten werden;
10. nimmt zur Kenntnis, dass in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Schwellen für den Einsatz von Gewalt und Waffen gelten; bedauert, dass die EU-Bürger von den Strafverfolgungsbehörden sehr unterschiedlich behandelt werden und dass ihre Grundrechte nicht überall in gleichem Maße geschützt werden;
11. fordert die Kommission auf, zusätzliche Leitlinien für die Mitgliedstaaten zum Einsatz weniger letaler Waffen auszuarbeiten, und begrüßt die Entscheidung einiger Mitgliedstaaten, den Einsatz bestimmter Arten weniger letaler Waffen auszusetzen oder diese ganz zu verbieten;
12. fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass sie ihren aus den Grundrechten erwachsenden Verpflichtungen nachkommen und dass die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden bei Protestaktionen und Demonstrationen stets letztes Mittel, rechtmäßig, verhältnismäßig und notwendig ist;
13. weist darauf hin, dass bei Strafverfolgungsmaßnahmen, Anweisungen und Einsätzen besondere Rücksicht auf Menschen genommen werden muss, denen die abträglichen Folgen des Einsatzes von Gewalt im Allgemeinen sowie die Auswirkungen bestimmter weniger letaler Waffen besonderes Leid zufügen können;
14. fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass sämtliche Waffen vor Markteinführung einer unabhängigen Bewertung und Überprüfung unterzogen werden und dass alle aktuellen Daten zu jedem Einsatz von Gewalt erfasst werden, damit Nachweise über Einsatz, Missbrauch, unerwartete Folgen, Verletzungen und Todesfälle sowie deren Ursachen gesammelt werden können;
15. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat und der Kommission sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Europarat, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und den Vereinten Nationen zu übermitteln.
- [1] Angenommene Texte, P8_TA(2019)0032.