ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in Afghanistan
7.6.2021 - (2021/2712(RSP))
gemäß Artikel 132 Absatz 2 der Geschäftsordnung
David Lega, Michael Gahler, David McAllister, Agnès Evren, Tom Vandenkendelaere
im Namen der PPE-Fraktion
Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B9-0324/2021
B9-0326/2021
Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in Afghanistan
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Afghanistan,
– unter Hinweis auf den Plan für ein gemeinsames Vorgehen Afghanistans und der EU in Migrationsfragen vom 2. Oktober 2016,
– unter Hinweis auf das Kooperationsabkommen vom 18. Februar 2017 über Partnerschaft und Entwicklung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Islamischen Republik Afghanistan andererseits[1],
– unter Hinweis auf die gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat vom 24. Juli 2017 mit dem Titel „Elemente einer EU-Strategie für Afghanistan“,
– unter Hinweis auf das Dokument mit dem Titel „Förderung der Konnektivität zwischen Europa und Asien – Elemente einer EU-Strategie“, das vom Rat (Auswärtige Angelegenheiten) im Oktober 2018 angenommen wurde,
– unter Hinweis auf die Resolution 2513 (2020) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. März 2020 zur Lage in Afghanistan,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates zu Afghanistan vom 29. Mai 2020,
– unter Hinweis auf die internationale Geberkonferenz auf Ministerebene 2020 (Afghanistan-Konferenz) vom 23. und 24. November 2020,
– unter Hinweis auf die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 2020 zur Lage in Afghanistan,
– gestützt auf Artikel 132 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass seit 2001 viele EU-Mitgliedstaaten, NATO-Partner und verbündete Länder mit militärischen und zivilen Ressourcen zur Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans beigetragen haben und dabei zahlreiche Opfer und schwere Verluste zu beklagen hatten; in der Erwägung, dass ein stabiles, unabhängiges Afghanistan, das für sich selbst sorgen kann und terroristischen Gruppen keine Zuflucht bietet, noch immer ein wesentliches sicherheitspolitisches Interesse der EU, der NATO und ihrer Mitgliedstaaten darstellt;
B. in der Erwägung, dass fast drei Millionen Menschen aufgrund von Gewalt und zusätzlich eine Million Menschen aufgrund von Naturkatastrophen zu Binnenvertriebenen wurden; in der Erwägung, dass der Iran und Pakistan mehrere Millionen afghanische Flüchtlinge und Migranten aufgenommen haben;
C. in der Erwägung, dass der Beitrag der EU zu Afghanistan in den letzten 20 Jahren zu erheblichen Verbesserungen in Bezug auf die Lebenserwartung, die Lese- und Schreibfähigkeit, die Mütter- und Kindersterblichkeit und die Frauenrechte geführt hat; in der Erwägung, dass die EU für den Zeitraum von 2021 bis 2025 Mittel in Höhe von 1,2 Mrd. EUR für langfristige Hilfe und Soforthilfe zugesagt hat; in der Erwägung, dass die EU zwischen 2002 und 2020 über 4 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt hat; in der Erwägung, dass Afghanistan das Empfängerland ist, das weltweit am meisten Entwicklungshilfe von der EU erhält;
D. in der Erwägung, dass die afghanische Regierung de facto etwa 55 % der Distrikte des Landes, in denen etwa 63 % der Bevölkerung des Landes leben, kontrolliert;
E. in der Erwägung, dass die COVID‑19-Pandemie zusätzlich zu der bereits schweren Armut, Ernährungsunsicherheit und Klimaanfälligkeit sowohl humanitäre als auch wirtschaftliche Not verursacht hat;
F. in der Erwägung, dass die Vereinigten Staaten und die Taliban am 29. Februar 2020 in Doha ein Abkommen für die Befriedung Afghanistans geschlossen haben, in dem gefordert wird, dass direkte innerafghanische Friedensgespräche zwischen den Taliban, der afghanischen Regierung und anderen Gruppen geführt werden; in der Erwägung, dass in diesem Abkommen ein Zeitplan für den Abzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan bis Mai 2021 vorgesehen ist und dass die Taliban im Gegenzug zugesagt haben, zu verhindern, dass Gebiete unter ihrer Kontrolle von terroristischen Gruppen genutzt werden;
G. in der Erwägung, dass die innerafghanischen Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, in deren Rahmen eine inklusive politische Lösung und ein dauerhafter und umfassender Frieden angestrebt werden, am 12. September 2020 in Doha aufgenommen wurden; in der Erwägung, dass die Verhandlungen derzeit zum Stillstand gekommen sind;
H. in der Erwägung, dass die Gewalt in Afghanistan seit Herbst 2020 stark zugenommen hat und sich 2021 weiter verschärft hat;
I. in der Erwägung, dass Antony Blinken, Außenminister der Vereinigten Staaten, am 14. April 2021 den vollständigen Abzug der Truppen der Vereinigten Staaten und der NATO bis zum 11. September 2021 angekündigt hat;
J. in der Erwägung, dass die Sicherheitslage im ganzen Land nach wie vor katastrophal ist, wobei ein hohes Maß an Gewalt gegen Zivilisten und afghanische Sicherheitskräfte zu verzeichnen ist; in der Erwägung, dass die begrenzten Kapazitäten der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte nach wie vor einer der kritischen Faktoren sind, die sich auf die Sicherheitslage in Afghanistan auswirken; in der Erwägung, dass allein während des Ramadan über 220 Zivilisten getötet und über 500 Zivilisten verletzt wurden;
K. in der Erwägung, dass die EU voll und ganz hinter der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 2020 steht, in der die Wiederherstellung des Islamischen Emirats Afghanistan weder unterstützt noch anerkannt wird;
1. ist der Auffassung, dass sich Afghanistan in einer kritischen Situation befindet, da eine instabile innerstaatliche Situation, eine sich verschlechternde Sicherheitslage, innerafghanische Friedensgespräche, die de facto zum Stillstand gekommen sind, und die Entscheidung, die Truppen der Vereinigten Staaten und der NATO bis zum 11. September 2021 abzuziehen, aufeinandertreffen, was zu neuer Unsicherheit, geringerer Stabilität, der Gefahr einer Zuspitzung interner Konflikte und einem Vakuum, das im schlimmsten Fall von den Taliban gefüllt wird, führen kann; ist besorgt darüber, dass dies eine äußerst besorgniserregende Perspektive für das Land und für die Dauerhaftigkeit der soziopolitischen Errungenschaften und Fortschritte der letzten 20 Jahre wäre; weist darauf hin, dass die Taliban eine theokratische islamische Regierung schaffen wollen und unter Umständen nicht bereit sind, mit einer demokratisch gewählten Regierung eine Vereinbarung über die Aufteilung der Macht zu treffen;
2. bekräftigt die unverbrüchliche politische Zusage der Europäischen Union, dass sie das afghanische Volk auf seinem Weg zu Frieden, Sicherheit, Stabilität, Demokratie, Wohlstand und Eigenständigkeit zum Wohle aller Afghanen unterstützen wird; weist darauf hin, dass Frieden und Wohlstand in einem vom Terrorismus befreiten Afghanistan eine Grundvoraussetzung für Stabilität und Entwicklung im Land sowie in der gesamten Region und darüber hinaus sind; weist darauf hin, dass der Abzug der Truppen der Vereinigten Staaten und der NATO aus dem Land nichts ans der Zusage der Europäischen Union ändern wird;
3. bekräftigt, dass eine ausgehandelte politische Lösung, mit der für Frieden gesorgt werden soll, auf den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Errungenschaften der letzten 20 Jahre aufbauen muss; hebt hervor, dass alle afghanischen Akteure aktiv an einem konstruktiven, inklusiven und umfangreichen Friedensprozess unter afghanischer Leitung und Verantwortung mitwirken müssen, der international unterstützt wird; betont, dass dies nun wichtiger denn je ist, da das Datum des Abzugs der Truppen der Vereinigten Staaten und der NATO schnell näher rückt;
4. betont, dass die politische und finanzielle Unterstützung, die die EU für die Zukunft des Landes leisten wird, von dem Engagement und der Kooperationsbereitschaft abhängt, die alle Akteure in Afghanistan – insbesondere die Taliban – an den Tag legen; weist darauf hin, dass die Unterstützung durch die EU von der tatsächlichen Verbesserung der inklusiven und verantwortungsvollen Staatsführung, der Stärkung der Institutionen, dem demokratischen Pluralismus, der Rechtsstaatlichkeit, der Bekämpfung der Korruption, der Stärkung unabhängiger Medien sowie der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sämtlicher Afghanen, insbesondere der Frauen, der Kinder und aller Angehörigen von Minderheiten und gefährdeten Gruppen abhängig ist; weist darauf hin, dass das Recht von Mädchen auf Bildung, das eine große Errungenschaft der letzten 20 Jahre darstellt, nicht infrage gestellt werden darf;
5. weist darauf hin, dass sich der afghanische Staat, um auf den Errungenschaften der letzten 20 Jahre aufzubauen, ernsthaft dazu verpflichten sollte, Terrorismus und bewaffnete Gruppen, Drogenproduktion und Drogenhandel zu bekämpfen und zu verhüten, gegen die Ursachen irregulärer Migration vorzugehen und diese Migration zu steuern, die regionale Instabilität zu überwinden, Anstrengungen zur Beseitigung der Armut zu unternehmen, Vorbeugung gegen Radikalisierung zu betreiben, die zu gewaltbereitem Extremismus führt, und gegen die Straflosigkeit bei Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts vorzugehen;
6. erklärt sich besorgt über das anhaltend hohe Maß an Gewalt und über die instabile Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere die hohe Zahl ziviler Opfer, unter anderem infolge der gezielten Tötung von Medienberichterstattern, Bürgerrechtlern und Beamten; fordert alle Seiten nachdrücklich auf, unverzüglich einen dauerhaften und umfassenden Waffenstillstand zu vereinbaren; ist besorgt über die Brüchigkeit und mangelnde Stabilität der afghanischen Regierung und über deren mangelnde Kontrolle über einen großen Teil des Landes, aufgrund derer sich die Auswirkungen der Gewalt auf die Zivilbevölkerung verschärfen;
7. fordert die afghanische Regierung nachdrücklich auf, sich um eine echte Rechenschaftspflicht zu bemühen und die zunehmende Zahl von Angriffen auf zivile Einrichtungen, einschließlich Schulen und Moscheen, gründlich zu untersuchen, z. B. den Angriff vom 8. Mai 2021 auf die Hazara-Mädchenschule Sjed al-Schahda, bei dem 85 Mädchen getötet wurden, oder den Angriff vom 12. Mai 2020 auf den Mutterschaftsflügel des Krankenhauses in Dascht-e Bartschi in Kabul, das von Ärzte ohne Grenzen unterstützt wird;
8. stellt fest, dass Sicherheit und Stabilität für eine nachhaltige Entwicklung und für den Fortschritt von entscheidender Bedeutung sind; erklärt sich besorgt über die Bedrohung, die der Terrorismus für Afghanistan und die Region bedeutet, insbesondere aufgrund der anhaltenden Präsenz der Organisation Islamischer Staat in Irak und der Levante (ISIL – Da'esh) und mit ihr verbundener Organisationen, insbesondere der Organisationen ISIL in der Provinz Chorasan und Al-Qaida; verurteilt sämtliche terroristischen Aktivitäten und alle Terroranschläge in Afghanistan; betont, dass die wirksame Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung und die Auflösung von Finanznetzen, durch die der Terrorismus unterstützt wird, wichtig sind; weist darauf hin, dass die Eskalation von Gewalt realistischen Aussichten auf Frieden nicht zuträglich ist; hebt die große anhaltende Zahl von Opfern unter den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften hervor und weist darauf hin, dass kontinuierlich eine langfristige Finanzierung für die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte bereitgestellt werden muss;
9. weist darauf hin, dass Afghanistan ein Binnenland im Übergangsbereich zwischen Asien und dem Nahen Osten ist, und stellt fest, dass die Unterstützung von und die positive Zusammenarbeit mit Nachbarländern und regionalen Mächten, insbesondere China, dem Iran, Indien, Russland und Pakistan, für die Stabilisierung, Entwicklung und wirtschaftliche Lebensfähigkeit Afghanistans wesentlich sind; betont, dass diesen Ländern eine wesentliche Rolle bei der Stabilisierung Afghanistans und dabei zukommt, zu verhindern, dass das Land im Chaos versinkt, wenn die ausländischen Truppen abziehen; betont, dass sich die EU und die Vereinigten Staaten in Bezug auf Afghanistan stärker abstimmen müssen, damit sie in Afghanistan – soweit dies möglich ist – weiterhin eine wichtige Rolle spielen;
10. stellt fest, dass das Endziel der Hilfe der EU für Afghanistan darin besteht, der Regierung und der Wirtschaft des Landes dabei zu helfen, mit innerer Entwicklung und regionaler Zusammenarbeit durch Außenhandel und nachhaltige öffentliche Investitionen die Armut auszumerzen und einen Zustand der Unabhängigkeit und des Wachstums zu entwickeln, um durch Beiträge zur sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung Afghanistans die übermäßige Abhängigkeit von ausländischer Hilfe zu verringern; bedauert, dass die bereits zuvor massiven wirtschaftlichen Herausforderungen in Afghanistan durch die COVID‑19-Pandemie weiter verschärft wurden;
11. hebt das noch immer ungelöste Problem des Anbaus und der Produktion von und des Handels mit illegalen Drogen in Afghanistan hervor, das eine Bedrohung für den Frieden und die Stabilität in Afghanistan und in der Region darstellt; betont, dass die afghanische Regierung ihre Anstrengungen zum Vorgehen gegen diese Bedrohung verstärken muss, wobei sie rückhaltlos von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden sollte; weist in diesem Zusammenhang auf das Problem des Menschenschmuggels hin;
12. stellt fest, dass das zunehmende Ausmaß der COVID‑19-Pandemie verheerende Auswirkungen auf Afghanistan hat und mit tiefgreifenden Herausforderungen für das Gesundheitssystem des Landes und in Bezug auf die sozioökonomische und humanitäre Lage einhergeht und dass dadurch die Lebensmittelkrise verschärft und die Armut erhöht wurde; ist der Ansicht, dass die Unterstützung aller afghanischen Parteien und der internationalen Gemeinschaft erforderlich ist, um die kurz- und langfristigen Folgen der Pandemie zu bewältigen; weist darauf hin, dass die EU seit Beginn der COVID‑19-Pandemie Mittel in Höhe von 147 Mio. EUR zur Bewältigung der unmittelbaren Gesundheitskrise und als humanitäre Hilfe für Afghanistan sowie Anfang 2021 zusätzlich 35 Mio. EUR für den Kampf gegen die Pandemie mobilisiert hat;
13. weist darauf hin, dass die Regierungen der Länder, die ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, die Verantwortung für den Schutz und erforderlichenfalls die Rückführung tausender lokaler Mitarbeiter, insbesondere von Übersetzern, tragen, die ihre Bemühungen unterstützt haben und deren Leben nun in ernster Gefahr sein könnte;
14. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Vizepräsidenten der Kommission und Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dem Sondergesandten der EU für Afghanistan, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie der Regierung und dem Parlament der Islamischen Republik Afghanistan zu übermitteln.
- [1] ABl. L 67 vom 14.3.2017, S. 3.