Entschließungsantrag - B9-0483/2021Entschließungsantrag
B9-0483/2021

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in Belarus ein Jahr nach dem Beginn der Proteste und ihrer gewaltsamen Niederschlagung

4.10.2021 - (2021/2881(RSP))

eingereicht im Anschluss an eine Erklärung des Vizepräsidenten der Kommission/Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik
gemäß Artikel 132 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Manu Pineda
im Namen der Fraktion The Left

Verfahren : 2021/2881(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
B9-0483/2021
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B9-0483/2021
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B9-0483/2021

Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in Belarus ein Jahr nach dem Beginn der Proteste und ihrer gewaltsamen Niederschlagung

(2021/2881(RSP))

Das Europäische Parlament,

 unter Hinweis auf die Charta der Vereinten Nationen,

 unter Hinweis auf die Verfassung der Republik Belarus,

 unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der einzigen internationalen Wahlbeobachtungsmission, die von der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten durchgeführt wurde, und auf das Ausbleiben einer rechtzeitigen Einladung an das BDIMR der OSZE, eine Wahlbeobachtungsmission zur Präsidentschaftswahl zu entsenden,

 unter Hinweis auf die Erklärungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 10. und 14. August 2020 sowie vom 24. Mai 2021,

 unter Hinweis auf den Bericht der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über die Menschenrechtssituation in Belarus vom 19. November 2020 über die Rechtsstaatlichkeit und einen inklusiven politischen Dialog,

 unter Hinweis auf den am 8. Dezember 1999 unterzeichneten Vertrag über die Gründung eines Unionsstaates zwischen Russland und Belarus,

 unter Hinweis auf die jüngsten, am 9. September 2021 unterzeichneten Verträge zwischen Russland und Belarus im Zusammenhang mit dem Unionsstaat,

 unter Hinweis auf die Erklärung des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vom 21. September 2021 zu den Todesfällen nahe der belarussisch-polnischen Grenze,

 unter Hinweis auf den von Polen am 2. September 2021 ausgerufenen Notstand,

 unter Hinweis auf die im Juli und August 2021 vorgenommenen Änderungen am litauischen Gesetz über den Rechtsstatus von Ausländern und auf den von der Regierung des Landes am 15. September 2021 angekündigten Vorschlag für eine Überarbeitung der litauischen Rechtsvorschriften über Freiheitsentzug,

 gestützt auf Artikel 132 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass sich die Lage in Belarus seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 weiter verschlechtert hat; in der Erwägung, dass Einrichtungen der Vereinten Nationen über ein hartes Vorgehen gegen Demonstranten und Oppositionelle berichtet und gefordert haben, dass die Rechtsstaatlichkeit im Justizwesen sichergestellt wird; in der Erwägung, dass die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über die Menschenrechtssituation in Belarus erklärt hat, dass der einzige Ausweg aus dieser Situation in einem inklusiven politischen Dialog und der Pflicht zur Rechenschaft liegt;

B. in der Erwägung, dass die Zahl der Menschen aus verschiedenen Ländern, die internationalen Schutz suchen und über die Grenzen von Belarus zu Polen und Litauen in die EU einreisen, in den letzten Monaten zugenommen hat; in der Erwägung, dass nach Angabe der polnischen Behörden 3 800 Menschen seit dem 1. September 2021 versucht haben, aus Belarus nach Polen einzureisen; in der Erwägung, dass die Reaktion der polnischen Behörden auf diesen Anstieg der Zahl der Neuankömmlinge darin bestand, Soldaten an die Grenze zu entsenden und den Notstand in dem Gebiet auszurufen, sodass nichtstaatliche Organisationen und Journalisten nicht länger frei in dem besagten Gebiet arbeiten konnten; in der Erwägung, dass Lettland und Litauen aus denselben Gründen ebenfalls den Notstand ausgerufen haben;

C. in der Erwägung, dass derzeit Dutzende von Personen im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen ausharren, von denen die meisten aus Afghanistan und dem Irak stammen; in der Erwägung, dass der UNHCR und die IOM den Umstand beklagten, dass ihnen von den polnischen Behörden der Zugang zu diesen Personen verwehrt wird, sodass es ihnen nicht möglich ist, fehlende lebensnotwendige Güter und Dienste wie angemessene Nahrung und sauberes Wasser, Sanitäreinrichtungen oder eine medizinische Versorgung für sie bereitzustellen; in der Erwägung, dass an der Grenze zwischen Belarus und Polen in der vergangenen Woche fünf Menschen ums Leben gekommen sind;

D. in der Erwägung, dass die polnischen und litauischen Behörden Asylbewerbern, die über Belarus ankommen, das Recht auf internationalen Schutz verweigern; in der Erwägung, dass diese Behörden an ihren Grenzen zu Belarus regelmäßig kollektive Rückführungen ohne ein ordnungsgemäßes Verfahren durchführen, was eindeutig einen Verstoß gegen das internationale Asylrecht darstellt;

E. in der Erwägung, dass Beamte von Frontex allein im August 2021 zwölf Berichte über schwerwiegende Zwischenfälle im Zusammenhang mit mutmaßlichen Push-back-Aktionen und Verletzungen der Grundrechte im Rahmen der gemeinsamen Frontex-Operation „FOA Land 2021“ vorgelegt haben, nachdem Frontex-Beamte die Gruppen an die litauischen Grenzbeamten übergeben hatten; fordert den Grundrechtsbeauftragten nachdrücklich auf, hinsichtlich dieser Operation ein Verfahren einzuleiten, um zu prüfen, ob der Sorgfaltspflicht Genüge getan wurde, und fordert im Einklang mit Artikel 46 der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache die Aussetzung dieser Operation;

F. in der Erwägung, dass nichtstaatliche Organisationen, die Menschen auf der Suche nach internationalem Schutz im Grenzgebiet zu Polen und Litauen unterstützen, systematische Gewalt gegen Neuankömmlinge sowie die Versuche der polnischen und litauischen Behörden angeprangert haben, sie selbst einzuschüchtern und an der Hilfe zu hindern; in der Erwägung, dass im litauischen Asylsystem Beschäftigte bemängelt haben, dass die Regierung ihnen gegenüber Druck ausgeübt hat, damit sie Asylanträge ablehnen, Scheingespräche führen und Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu einer freiwilligen Rückkehr nötigen;

G. in der Erwägung, dass die litauische Regierung ihre Absicht verlauten ließ, die derzeitige Begrenzung der Dauer des Freiheitsentzugs auf sechs Monate aufzuheben und die zeitlich unbegrenzte Inhaftnahme von Migranten zuzulassen, um Neuankömmlinge ohne Berücksichtigung von Menschenrechtsaspekten abzuschrecken;

H. in der Erwägung, dass die US-Armee mechanisierte Einheiten in Gebiete Litauens verlegt hat, die in der Nähe der belarussischen Grenze liegen; in der Erwägung, dass die USA im Jahr 2020 mehr als 20 000 Soldaten nach Estland, Lettland, Litauen und Polen verlegt haben; in der Erwägung, dass die russische Armee zusätzliche Truppen in das westliche Gebiet der Russischen Föderation nahe der belarussischen Grenze entsandt und im Rahmen des Manövers „Sapad-2021“ militärische Übungen durchgeführt hat;

I. in der Erwägung, dass Belarus Teil der EU-Initiative für die Östliche Partnerschaft ist; in der Erwägung, dass Belarus und die EU in den letzten Jahren mehrere Abkommen, unter anderem im Bereich Governance, unterzeichnet haben; in der Erwägung, dass sich die EU-Hilfe für Belarus im Rahmen des Europäischen Nachbarschaftsinstruments im Zeitraum 2014–2020 auf 170 Millionen EUR belief;

J. in der Erwägung, dass die EU seit Oktober 2020 vier Sanktionspakete gegen Belarus verhängt hat, von denen das jüngste Paket vom 21. Juni 2021 gegen 78 Personen und acht belarussische Organisationen, darunter staatliche Unternehmen, gerichtet war; in der Erwägung, dass die EU ihre Flughäfen und ihren Luftraum für belarussische Fluggesellschaften gesperrt hat, nachdem die oppositionellen Journalisten Raman Pratassewitsch und Sofja Sapega nach der erzwungenen Landung ihres Verkehrsflugzeugs in Minsk festgenommen worden waren;

1. bekundet tiefe Besorgnis über die Lage in Belarus; betont, dass für die gegenwärtige Krise eine friedliche und demokratische Lösung gefunden werden muss;

2. ist zutiefst besorgt über die humanitäre Lage von Personen, die an den Grenzen zwischen Belarus und der EU internationalen Schutz suchen, und lehnt jegliche Instrumentalisierung von Personen, die internationalen Schutz suchen, ab; fordert alle Akteure auf, das Völkerrecht, einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, uneingeschränkt zu achten;

3. verurteilt die Maßnahmen der Behörden Polens, Lettlands und Litauens, die Ankunft von Personen, die internationalen Schutz über ihre Grenzen zu Belarus suchen, aufzuhalten, was in der vergangenen Woche dazu geführt hat, dass fünf Menschen ihr Leben verloren haben und eine humanitäre Krise entstanden ist; spricht den Familien der Opfer dieser Politik sein Beileid aus und fordert, dass die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden;

4. weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten das einschlägige EU-Asylrecht und den Schengener Grenzkodex achten, Zugang zu ihrem Hoheitsgebiet gewähren, vernünftige Aufnahmebedingungen bieten und allen Personen, die ihren Willen bekunden, internationalen Schutz zu beantragen, Zugang zu einem fairen und zuverlässigen Asylverfahren ermöglichen müssen; bekräftigt, dass Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten sichergestellt werden muss, um für eine angemessene Aufnahme und gerechte Umverteilung von Asylbewerbern EU-weit zu sorgen;

5. fordert die Behörden Polens, Lettlands und Litauens auf, den von ihnen verhängten Notstand zu beenden, der als Mittel dient, eine angemessene Unterstützung für Asylbewerber zu verhindern und ein unbeaufsichtigtes Vorgehen der Grenzbehörden zu ermöglichen; fordert die litauischen Behörden auf, sämtliche Pläne für eine unbegrenzte Inhaftnahme von Migranten zu verwerfen und die jüngsten Reformen ihres Asylrechts zurückzunehmen, wozu auch die Möglichkeit zählt, Personen, die sich noch im Verfahren der Anfechtung einer ersten Asylentscheidung befinden, auszuweisen;

6. ist zutiefst besorgt über die wachsenden Spannungen zwischen der EU und Russland und die militärische Aufrüstung in der Region; fordert alle Akteure, einschließlich der NATO und Russlands, auf, Zurückhaltung zu üben und die Spannungen in der Region nicht weiter anzufachen;

7. bringt seine Besorgnis über die Fehlschläge bei der Politik der Östlichen Partnerschaft der EU zum Ausdruck und betont, dass diese Politik neu ausgerichtet werden muss; fordert den Vizepräsidenten der Kommission und Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) auf, einen Plan für den konstruktiven Dialog mit Russland vorzulegen, in dem die wichtige Rolle, die den Nachbarländern dabei zukommt, hervorgehoben wird;

8. lehnt die Verhängung von Sanktionen, die sich als kontraproduktives Instrument erweisen und sich negativ auf die Bevölkerung auswirken, ab, wie dies auch von verschiedenen Oppositionsgruppen und friedlichen Demonstranten hervorgehoben wurde;

9. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Vizepräsidenten der Kommission und Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie der Regierung von Belarus zu übermitteln.

 

Letzte Aktualisierung: 6. Oktober 2021
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