Entschließungsantrag - B9-0525/2021Entschließungsantrag
B9-0525/2021

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zur Lage in Tunesien

18.10.2021 - (2021/2903(RSP))

eingereicht im Anschluss an eine Erklärung des Vizepräsidenten der Kommission/Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik
gemäß Artikel 132 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Frédérique Ries, Olivier Chastel, Nathalie Loiseau, Javier Nart, Jan-Christoph Oetjen, Nicolae Ştefănuță
im Namen der Renew-Fraktion

Siehe auch den gemeinsamen Entschließungsantrag RC-B9-0523/2021

Verfahren : 2021/2903(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
B9-0525/2021
Eingereichte Texte :
B9-0525/2021
Abstimmungen :
Angenommene Texte :

B9-0525/2021

Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in Tunesien

(2021/2903(RSP))

Das Europäische Parlament,

 unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Tunesien,

 unter Hinweis auf die im Namen der Europäischen Union abgegebene Erklärung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidenten der Kommission (HR/VP) vom 27. Juli 2021 und seine am 10. September 2021 in Tunis gegenüber der Presse abgegebenen Erklärungen,

 unter Hinweis auf die gemeinsame Mitteilung der Kommission und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidenten der Kommission (HR/VP) vom 9. Februar 2021 mit dem Titel „Erneuerte Partnerschaft mit der südlichen Nachbarschaft – Eine neue Agenda für den Mittelmeerraum“ (JOIN (2021) 0002) und das beigefügte gemeinsame Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen mit dem Titel „Renewed Partnership with the Southern Neighbourhood – Economic and Investment Plan for the Southern Neighbours“ (Erneuerte Partnerschaft mit der südlichen Nachbarschaft – Wirtschafts- und Investitionsplan für die südlichen Nachbarn) (SWD (2021) 0023),

 unter Hinweis auf das Europa-Mittelmeer-Abkommen von 1998 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits (Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Tunesien)[1],

 unter Hinweis auf die tunesische Verfassung von 2014,

 unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, zu dessen Vertragsparteien Tunesien gehört,

 gestützt auf Artikel 132 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass Tunesien durch den friedlichen Sturz von Präsident Zine al-Abidine Ben Ali im Januar 2011 zur Wiege des Arabischen Frühlings wurde; in der Erwägung, dass Tunesien trotz eines von Instabilität gekennzeichneten Übergangs das einzige Land in der Region war, dem es gelungen ist, sich zu einer Demokratie zu entwickeln; in der Erwägung, dass die jungen demokratischen Institutionen des Landes nach wie vor fragil sind;

B. in der Erwägung, dass im Ergebnis der zweiten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Tunesien im Oktober und November 2019 Präsident Kais Saied an die Macht kam; in der Erwägung, dass infolge eines zersplitterten Parlaments zwischen diesen Wahlen und dem Juli 2021 drei Regierungschefs ernannt wurden; in der Erwägung, dass gemäß der Verfassung von 2014 sowohl der Präsident als auch der Ministerpräsident über Exekutivbefugnisse verfügen;

C. in der Erwägung, dass die Regierung Mechichi (2020–2021) für erhebliche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war; in der Erwägung, dass Amnesty International zufolge im Januar 2021 Demonstranten in Haft gefoltert wurden;

D. in der Erwägung, dass das Land seit Jahrzehnten von Korruption heimgesucht wird; in der Erwägung, dass Imed Boukhris, ehemaliger Präsident der nationalen Antikorruptionsbehörde, im Juni 2021 ohne Begründung entlassen und sofort durch den Schwiegersohn eines der Berater des damaligen Premierministers Mechichi ersetzt wurde;

E. in der Erwägung, dass immer mehr Tunesier ihr Land verlassen und dabei manchmal ihr Leben riskieren, indem sie das Mittelmeer überqueren; in der Erwägung, dass Tunesien unter einer der höchsten Abwanderungsraten hochqualifizierter Kräfte unter den arabischen Ländern leidet;

F. in der Erwägung, dass Tunesien die weltweit zweithöchste Zahl von COVID-19-Todesfällen erlitten hat; in der Erwägung, dass im Juli 2021 zahlreiche Protestdemonstrationen gegen die Regierung und zur Unterstützung von Präsident Kais Saied stattfanden, in denen die kollektive Empörung über Korruption und die Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitskrise zum Ausdruck kam;

G. in der Erwägung, dass Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 in einer im Fernsehen gehaltenen Rede seine Entscheidung verkündete, Ministerpräsident Mechichi und seine Regierung zu entlassen, das tunesische Parlament vorübergehend für einen verlängerbaren Zeitraum von 30 Tagen auszusetzen und die Immunität aller seiner Mitglieder aufzuheben; in der Erwägung, dass die Armee anschließend den Zugang zum Parlament blockierte; in der Erwägung, dass seitdem mehrere Mitglieder vor Militärgerichte gestellt wurden; in der Erwägung, dass in Artikel 80 der tunesischen Verfassung festgelegt ist, dass das Parlament während der gesamten Dauer eines Notstands ständig zusammentreten muss und der Präsident der Republik das Parlament nicht auflösen kann; in der Erwägung, dass der Präsident am 24. August 2021 die Aussetzung des Parlaments bis auf Weiteres verlängert hat;

H. in der Erwägung, dass das Büro des Fernsehsenders Al Jazeera in Tunis am 26. Juli 2021 von der Polizei geschlossen wurde; in der Erwägung, dass die Mitarbeiter ihre Tätigkeit im Land jedoch fortsetzen dürfen;

I. in der Erwägung, dass die nationale Antikorruptionsbehörde am 20. August 2021 ohne Begründung gezwungen wurde, ihre Büros zu schließen; in der Erwägung, dass die personenbezogenen Daten von Tausenden von Hinweisgebern vom Innenministerium beschlagnahmt wurden;

J. in der Erwägung, dass angeblich tausende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Unternehmer ohne richterliche Anordnung einem Reiseverbot unterworfen und Dutzende unter Hausarrest und staatliche Überwachung gestellt wurden;

K. in der Erwägung, dass der Präsident am 22. September 2021 das Präsidialdekret Nr. 117 erlassen hat, mit dem die Verfassung mit Ausnahme ihrer Präambel und ihrer ersten beiden Kapitel, die allgemeine Bestimmungen enthalten und in denen Rechte und Freiheiten festgeschrieben sind, ausgesetzt wurde; in der Erwägung, dass sich der Präsident selbst die volle Gesetzgebungsbefugnis zur Änderung der Gesetze über politische Parteien, Wahlen, das Justizwesen, die Gewerkschaften und Verbände, die Pressefreiheit und die Informationsfreiheit, die Organisation des Justizdienstes, die internen Sicherheitskräfte, die Menschenrechte und Grundfreiheiten, den Personenstandskodex, die internen Sicherheitskräfte, die Zollbehörden und den Staatshaushalt gewährt hat;

L. in der Erwägung, dass gemäß dem Präsidialdekret Nr. 117 keine Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Präsidenten vor Gerichten zugelassen sind, einschließlich des obersten Verwaltungsgerichts Tunesiens und seines Kassationshofs; in der Erwägung, dass mit dem Dekret die Schließung des provisorischen Gremiums für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (Instance provisoire de contrôle de constitutionnalité des lois) angeordnet wurde, das 2014 gemäß der Verfassung für die Übergangszeit bis zur Bildung des tunesischen Verfassungsgerichts eingerichtet wurde;

M. in der Erwägung, dass die tunesische Zivilgesellschaft öffentlich ihre tiefe Besorgnis über die neuen Einschränkungen der Rechte und Freiheiten zum Ausdruck gebracht hat; in der Erwägung, dass die Zivilgesellschaft, darunter Gewerkschaften, nichtstaatliche Organisationen und Parteien, seit 2011 eine grundlegende Rolle bei der Gestaltung und Stärkung des demokratischen Übergangs in Tunesien spielt; in der Erwägung, dass am 10. Oktober 2021 in Tunis trotz intensiver Überwachung durch die Polizei tausende Menschen gegen die Machtübernahme durch Präsident Kais Saied demonstriert haben;

N. in der Erwägung, dass der Präsident am 29. September 2021 Najla Bouden zur Ministerpräsidentin ernannt hat; in der Erwägung, dass der Präsident am 11. Oktober 2021 eine neue Regierung ernannt hat, die sich aus 25 Mitgliedern zusammensetzt, darunter die Minister für Inneres, Bildung und auswärtige Angelegenheiten aus früheren Regierungen in den Jahren 2020 und 2021;

O. in der Erwägung, dass die EU Tunesien im Rahmen ihrer Makrofinanzhilfe für das Land direkte Zuschüsse in Höhe von 2 Mrd. EUR zur Unterstützung seines demokratischen Übergangs gewährt hat, darunter 260 Mio. EUR im Jahre 2020 und 200 Mio. EUR im Jahre 2021;

1. ist zutiefst besorgt über die Konzentration der legislativen, exekutiven und justiziellen Befugnisse in den Händen von Präsident Kais Saied; weist darauf hin, dass dieser Konzentrationsgrad dem demokratischen Grundsatz der Gewaltenteilung zuwiderläuft, insbesondere, weil es keine Kontrolle und keine Möglichkeit gibt, gegen Entscheidungen Rechtsmittel einzulegen;

2. fordert den Präsidenten Tunesiens auf, die in der tunesischen Verfassung von 2014 verankerten Rechte und Freiheiten uneingeschränkt zu achten und die internationalen Verpflichtungen Tunesiens uneingeschränkt zu erfüllen;

3. fordert den Präsidenten auf, im Einklang mit der verfassungsmäßigen Ordnung Tunesiens eine Rückkehr zu einer uneingeschränkten parlamentarischen Demokratie zu ermöglichen;

4. verurteilt die hetzerischen Äußerungen einiger Mitglieder des tunesischen Parlaments, wie Rached Khiari, Mitbegründer der Bewegung Karama (Würde), der die Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty wegen angeblicher Blasphemie rechtfertigte;

5. fordert den Präsidenten nachdrücklich auf, das uneingeschränkte Funktionieren unabhängiger staatlicher Regulierungsstellen, einschließlich des provisorischen Gremiums für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und der nationalen Antikorruptionsbehörde, wieder zuzulassen;

6. fordert den Präsidenten nachdrücklich auf, einen inklusiven und partizipativen Ansatz zu verfolgen, bei dem Vertreter der Zivilgesellschaft so früh wie möglich in alle Verfassungs- und Gesetzesreformen einbezogen werden, und diese Reformen so bald wie möglich umzusetzen; betont, dass der HR/VP regelmäßig über die aktuellen institutionellen Entwicklungen in Tunesien informiert werden sollte;

7. betont, wie wichtig es insbesondere ist, Verfassungs- und Rechtstexte auszuarbeiten, die in Bezug auf die Gewaltenteilung und den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten mindestens ebenso viele Garantien bieten wie die tunesische Verfassung von 2014; weist darauf hin, dass diese Grundsätze zwar durch frühere Verfassungen in Tunesien offiziell garantiert wurden, sie aber aufgrund einer Reihe repressiver Gesetze nicht wirksam geschützt werden konnten; fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, dafür bereit zu sein, die tunesischen Institutionen auf Ersuchen der tunesischen Behörden durch technische Hilfe zu unterstützen;

8. nimmt die Ernennung von Najla Bouden zur ersten Ministerpräsidentin Tunesiens zur Kenntnis; weist darauf hin, dass ihre Befugnisse durch den im Präsidialdekret Nr. 117 vom 22. September 2021 festgelegten Rahmen begrenzt sind, in dem die Exekutivgewalt in den Händen des Präsidenten konzentriert wird; begrüßt die Ernennung einer neuen Regierung am 11. Oktober 2021;

9. fordert den Präsidenten auf, seinen Standpunkt, die ausnahmslose Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Bereichen nicht zu unterstützen, zu überdenken; fordert, dass der rechtlichen Diskriminierung von Frauen in den Bereichen Erbschaft, Sorgerecht für Kinder, Recht auf Wahrnehmung der Rolle des Familienvorstands, Recht auf Elternurlaub und Arbeitnehmerrechte, insbesondere für Hausangestellte und Landwirtinnen, ein Ende gesetzt wird; begrüßt das Gesetz von 2017 zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen und fordert seine vollständige Umsetzung vor Ort, unter anderem durch die Schulung von Strafverfolgungsbeamten, damit Opfer von Vergewaltigung und Missbrauch wirksam unterstützt werden; fordert die EU auf, die vier Frauenhäuser in Tunesien, die sämtlich chronisch überfüllt sind, weiterhin zu unterstützen;

10. bedauert, dass es der EU trotz ihrer starken Partnerschaft mit Tunesien seit dem Arabischen Frühling nicht gelungen ist, das Land besser zu unterstützen und erfolgreich zu einer verantwortungsvollen Staatsführung und einem inklusiven Wachstum beizutragen;

11. bekräftigt, dass die EU Tunesien als wichtigen demokratischen Partner in der Region uneingeschränkt unterstützt;

12. fordert die Kommission auf, die tunesischen Staatsorgane weiterhin zu unterstützen, unter anderem durch makroökonomische Hilfe und die COVAX-Fazilität, sofern die Menschenrechte und die demokratischen Grundsätze im Einklang mit Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Tunesien geachtet werden; betont, dass die Einsetzung einer rechenschaftspflichtigen Regierung ein wesentlicher Schritt in diese Richtung ist;

13. fordert die Kommission auf, den dreigliedrigen Dialog zwischen der tunesischen Zivilgesellschaft, den tunesischen Behörden und der Kommission wieder aufzunehmen;

14. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidenten der Kommission, der Kommission, den Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie der tunesischen Regierung und dem tunesischen Parlament zu übermitteln.

Letzte Aktualisierung: 20. Oktober 2021
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