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Ausführliche Sitzungsberichte
Mittwoch, 16. September 1998 - Straßburg Ausgabe im ABl.

4. Internationale Finanzkrise und politische Lage in Rußland (Fortsetzung)

  de Silguy, Mitglied der Kommission. – (FR) Herr Präsident, in der kurzen Zeit, die mir zugeteilt wurde, würde ich mich gerne sowohl zur wirtschaftlichen Situation in Europa als auch zur Lage in Rußland äußern.

Bezüglich der wirtschaftlichen Situation in Europa möchte ich betonen, daß wir die Entscheidung vom 2. Mai glücklicherweise hinter uns haben. Wie sähe die währungspolitische Situation heute in Europa aus, wenn Europa nicht am 2. Mai beschlossen hätte, welche Länder den Euro einführen, und wenn Europa nicht über die für die Festsetzung des Euro am 1. Januar erforderlichen Paritätskurse entschieden hätte? Folglich ist klar, daß der Euro bereits einen ersten Erfolg gebracht hat, und zwar den der Stabilität unserer Währungen. Dies mag zwar eine defensive Rolle sein – man spricht von einem Schutzschild –, aber es steht fest, daß dies eine unanfechtbare Tatsache ist.

Aber welche Auswirkungen wird die jetzige Krise auf die europäische Wirtschaft haben? Es stimmt, die Krise ist ernst zu nehmen, und sie wird Auswirkungen haben, aber diese werden zwangsläufig durch die Trümpfe, die Europa in der Hand hat, beschränkt sein. Die Krise ist ernst zu nehmen, vor allem, weil sie weite Kreise zieht. Es wurde den ganzen Vormittag über Rußland gesprochen, man hat wenig über Asien gehört, und dennoch ist Europa, was Handel und Finanzen betrifft, immer noch mehr in Asien engagiert als in Rußland. Zwar gibt es bereits eine Stabilisierung in Südostasien, und China zeigt zur Zeit ein bemerkenswertes Verantwortungsbewußtsein, aber das Problem in Japan konnte noch nicht gelöst werden, wo einerseits Rezession herrscht und andererseits das Programm für Stabilisierung und Sanierung des Banken‐ und Finanzsystems noch nicht wirksam ist. Es gibt also Unsicherheiten, warum soll man dies leugnen?

Die Krise wird Auswirkungen auf den Welthandel haben, wenn auch nur in bestimmten Sektoren, und es ist klar, daß sich diese Störung ungünstig auf die Entwicklung und Förderung des Welthandels auswirken wird und daß dies nicht gut für Europa ist. Was die sektoriellen Auswirkungen betrifft, so hat der Präsident eben die Bedeutung der russischen Märkte für europäische Agrarexporte erwähnt. Gewisse Länder wie Finnland und Griechenland haben intensivere Handelsbeziehungen zu Rußland als die anderen europäischen Länder. Was werden die Auswirkungen sein? Ich verweise Sie auf die Prognosen, die wir Ende Oktober vorlegen werden, um zu versuchen, diese Auswirkungen quantitativ darzustellen. Tatsache ist, daß sie aufgrund der Trümpfe, die Europa in der Hand hat, zwangsläufig beschränkt bleiben.

Es gibt heute keinerlei Grund zur Panik. Warum? Weil die Grundlagen gut sind. Ich erinnere mich, daß wir vor einem Jahr hier über die Auswirkungen der Krise in Asien gesprochen haben und uns fragten, welche Auswirkungen sie auf Europa haben würde. Es ist eine Tatsache, daß das europäische Wachstum im Jahre 1998 2, 8 % betragen wird und daß die langfristigen Zinssätze in Deutschland und im Gebiet des Euro im Vergleich zur gleichen Zeit im letzten Jahr, vor dieser Sitzung, um 1 % gesunken sind, was in Anbetracht der Krise beachtlich ist. Ich möchte hinzufügen, daß Europa 1998 und 1999 derjenige der großen Wirtschaftsräume sein wird, der das größte Wachstum aufweist. Was ist das doch für eine Veränderung im Vergleich zur Situation vor zwei Jahren, als man sich hier in diesem Parlament noch fragte, warum es überall Wachstum gibt, nur nicht in Europa! Die wirtschaftlichen Grundlagen sind daher gut. Heute gibt es keinen Grund zur Panik.

Die einzige Frage, die sich stellt, ist, wie man das Vertrauen in Europa aufrechterhalten kann. Meiner Meinung nach kann man die jetzige Dynamik erhalten, indem man den policy mix beibehält. Das ist ein wesentlicher Aspekt. Es ist daher keine Lockerung des Haushalts erforderlich, denn nur die Fortsetzung der Politik, die Früchte getragen hat, wird es definitiv ermöglichen, eine starke Nachfrage in Europa aufrechtzuerhalten, und zwar eine Nachfrage, die stark genug ist, um die negativen Auswirkungen, über die ich eben gesprochen habe, auszugleichen.

Ein Wort zur internationalen Wirtschaftslage. Zunächst ist Vorsicht geboten vor vermeintlich guten Lösungen und vermeintlich guten Konzepten. Schießen wir nicht auf den Klavierspieler, sagt man oft in Frankreich, d. h. in diesem Fall, daß wir nicht die internationalen Finanzinstitutionen verantwortlich machen sollten. Man darf nicht vergessen, daß die Staaten die Aktionäre dieser internationalen Finanzinstitutionen sind. 30 % des Kapitals des Internationalen Währungsfonds, 30 % der Anteile werden von den Europäern gehalten, nur 18 % von den Vereinigten Staaten. Daher müssen wir den prüfenden Blick zunächst auf uns selbst, auf unsere Staaten werfen. Außerdem glaube ich, daß die Währungsstabilität, eine Aufgabe des Internationalen Währungsfonds, wichtig ist und daß es erforderlich ist, sie zu unterstützen.

Daher ist es heute notwendig, die Funktionsweise und die Aufgaben des internationalen Währungssystems und des Internationalen Währungsfonds anzupassen. Ich glaube, daß man darüber nachdenken muß. Man muß den I.F. an die neue Situation anpassen, man muß herausfinden, wie seine Finanzprogramme mit dem sozialen Bereich vereinbart werden können und müssen. Der I.F. muß auch an den Euro angepaßt werden, der die Landschaft natürlich grundlegend verändert.

Die zweite falsche Lösung ist die Steuer auf Kapitalbewegungen. Vorsicht, sie ist gefährlich und unrealistisch. Gefährlich, weil ich befürchte, daß dadurch Nachteile für Investoren entstehen. Wir brauchen Investitionen, und dafür brauchen wir Kapital. Wir dürfen sie nicht behindern, auf keinen Fall jetzt, wo Europa das Kapital anzieht, was uns weiterhin Wachstum ermöglicht. Bestrafen wir unsere Unternehmen nicht. Bestrafen wir auch nicht die Entwicklungsländer, deren laufende Konten im Defizit sind und die Geld brauchen. Außerdem sind Steuern auf Kapitalbewegungen unrealistisch, da sie das Problem der Steuerparadiese nicht beseitigen, was einen Anreiz für Steuerhinterziehung und Spekulationen darstellen würde.

Also, welche Lösung gibt es? Ich persönlich denke, daß heute auf vier Wegen, die es zu prüfen gilt, eine Lösung gefunden werden kann. Zunächst durch mehr Transparenz in den Transaktionen, gleich ob sie finanzieller, wirtschaftlicher, öffentlicher oder privater Natur sind. Die Transparenz sollte größer sein. Zweitens muß man meiner Meinung nach über vorsichtige Regeln der Bankenaufsicht nachdenken und sicherstellen, daß die Standards, die wir in Europa anwenden, auch weitgehend in der ganzen Welt angewandt werden können. Man muß auch den Privatsektor in die Krisenbewältigung einbinden, und – ein weiterer wesentlicher Aspekt – wir benötigen eine verbesserte makroökonomische Zusammenarbeit auf internationaler Ebene.

Hier muß der Euro eine Rolle spielen, wenn wir wollen, daß Europa auf internationaler Ebene präsent ist und nicht nur als Beobachter fungiert, sondern zum Akteur wird. Aus der Entwicklung des Euro müssen Konsequenzen gezogen werden. Die Kommission setzt sich dafür ein. Außerdem ist es erforderlich, daß die Mitgliedstaaten den Euro akzeptieren, und in den kommenden Monaten wird eine schwere Verantwortung auf unseren Schultern lasten, auf Ihren Schultern, auf denen der österreichischen Präsidentschaft der Europäischen Union. Europa muß sich dergestalt an dem System beteiligen, daß dieses internationale System effizient funktionieren kann.

Schließlich, bevor ich zum Ende komme, ein Wort zu Rußland. Das Problem Rußlands besteht im Gegensatz zur Schwierigkeit in Europa darin, das Vertrauen wiederherzustellen. In Europa müssen wir uns das Vertrauen bewahren. Die Wiederherstellung des Vertrauens ist die Aufgabe der Russen. Es wurde heute vormittag viel darüber gesprochen. Nehmen wir den Russen nicht die Hoffnung, unterstützen wir sie, aber es ist auch erforderlich, daß die Russen das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft wiedergewinnen. Sie haben eine Regierung. Wir warten jetzt auf ihr Wirtschaftsprogramm. Wir werden dieses Wirtschaftsprogramm beurteilen, wenn es uns vorliegt. Ich glaube, daß Vertrauen nicht nur auf politischem Konsens beruht, der dieses Programm stützt, sondern auch auf den folgenden vier einfachen Regeln, nach denen die Situation beurteilt werden kann: die Fähigkeit, die Inflation in Grenzen zu halten, das heißt, den Rubel zu stabilisieren; die Fähigkeit, die Haushaltssituation wieder in Ordnung zu bringen; die Fähigkeit, das Bankensystem zu konsolidieren und zu sanieren, und schließlich die Fähigkeit, den finanziellen Verpflichtungen auf internationaler Ebene nachzukommen. Meiner Ansicht nach wird die Völkergemeinschaft den russischen Wirtschaftsplan nach diesen Fähigkeiten beurteilen.

Abschließend möchte ich sagen, daß die Krise sicherlich real ist, aber eine Krise ist noch nicht das Ende der Welt. Erinnern Sie sich an 1987, als trotz des Börsenkrachs das Wachstum im Jahre 1988 in Europa 4 % betrug. Wir müssen daher Ruhe bewahren. Wir Europäer müssen wachsam sein, unsere Trümpfe einsetzen und unsere Chancen und insbesondere die Einführung des Euro nutzen.

  Der Präsident . – Gemäß Artikel 37 Absatz 2 der Geschäftsordnung habe ich sieben Entschließungsanträge zur internationalen Finanzkrise erhalten.(1)

Des weiteren habe ich gemäß Artikel 37 Absatz 2 der Geschäftsordnung sechs Entschließungsanträge zu den politischen Entwicklungen in Rußland erhalten.(2)

  Ferrero‐Waldner, amtierende Ratspräsidentin. – Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Da ja die Abstimmung unmittelbar bevorsteht, nur noch ein kurzes Schlußwort, das der Präsidentschaft üblicherweise zusteht. Zum ersten danke ich Ihnen für diese sehr interessante Debatte über äußerst wesentliche Elemente der Asienkrise, der Krise in Rußland, der Krise, die sich in Lateinamerika abzeichnet. Was ist nun das Wichtigste für die Europäische Union? Lassen Sie mich das ganz kurz nochmals zusammenfassen. Zum einen ist sich der Rat selbstverständlich der Rolle bewußt, die Europa auch aufgrund seiner wirtschaftlichen und finanzpolitischen Stärke im globalen Rahmen zu spielen hat. Das möchte ich ganz besonders betonen, weil es in der Diskussion angesprochen wurde. Selbstverständlich werden hier der Rat, aber auch die Kommission ihren Beitrag leisten.

Zum anderen sollen Rat und Kommission bei der inhaltlichen Festlegung der Vorschläge eng zusammenarbeiten, die wir der russischen Seite bei dem kommenden Treffen unterbreiten können. Bestmögliche Koordination der Europäischen Union ist also absolut angesagt. Dies umfaßt insbesondere auch das Angebot von europäischem Know‐how im Bereich des Bankenund Finanzsektors, in der Verwaltung, beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität. Natürlich wird die Kommission auch weitere Vorschläge ausarbeiten, wie Rußland bei der Bewältigung dieser schwierigen Übergangsprobleme geholfen werden kann, insbesondere durch TACIS, aber auch durch andere Programme. Ich möchte aber nochmals betonen, was in der Diskussion oft gesagt und auch von der Kommission angesprochen wurde, daß selbstverständlich die Reformen in Rußland zu beginnen haben und wir nur Hilfestellung leisten können.

Ich halte es für sehr wichtig, den Mechanismus des Partnerschafts‐ und Kooperationsabkommens zu nutzen, um unseren Dialog mit Rußland weiter zu vertiefen. Die EU‐Finanzminister sollten bei ihren Überlegungen natürlich – und auch das ist in der Diskussion immer wieder angesprochen worden – die menschlichen und sozialen Aspekte der Lage in Rußland voll berücksichtigen. Durch die gemeinsame Überwachung der Entwicklungen in Rußland und deren Beurteilung sowohl durch die Außen‐ und Finanzminister der EU als auch durch die Kommission kann die Kohärenz der EU‐Aktionen gewährleistet werden. Auch das halte ich für enorm wichtig.

Lassen Sie mich noch auf einige wesentliche Punkte eingehen, die sozusagen in der Debatte aufgekommen sind. Beide Seiten sollten künftig die Beziehungen auf der Basis der Kooperation, der Partnerschaft und des gleichberechtigten Dialogs weiterführen. Es gab hier in der Diskussion ja diesbezüglich auch enorme Solidarität.

Zum zweiten möchte auch ich unterstreichen, was schon Herr de Silguy sagte, nämlich daß man die Situation nicht überdramatisieren soll. Es ist eine Krise, aber wir beginnen doch nicht bei der Stunde Null, und vieles ist auch schon erreicht worden. Frühzeitige Signale in bezug auf die Richtung des weiteren Kurses und rasche Maßnahmen sind von besonderer Bedeutung. Die gegenwärtige Situation wird nicht – das ist ganz wesentlich, und ich betone es noch einmal im Rahmen der Präsidentschaft – zu einem Rückzug der Partner Rußlands, sondern zu einem intensiveren Dialog führen.

Wie wird dieser Dialog aussehen? Wie Sie wissen, ist die Außenminister‐Troika bereits morgen bei Ministerpräsident Primakow, und am 27.10. findet in Wien der Gipfel EU‐Rußland statt, der bereits intensiv vorbereitet wird und auf dem wir all das, was hier in der Debatte gesagt wurde, ansprechen werden.

VORSITZ: DAVID MARTIN
Vizepräsident

  Der Präsident . – Die Aussprache ist geschlossen.

Wir kommen nun zu den Abstimmungen.

(1) Siehe Protokoll.
(2) Siehe Protokoll.

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