16. Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
Der Präsident. Nach der Tagesordnung folgen die Erklärungen zur Zukunft Europas sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.
Sie werden sich erinnern, dass ich am letzten Montag eine Erklärung zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa abgegeben habe, es war dies der Europatag, und im Monat Mai ist zudem ein Jahr seit dem Beitritt der zehn neuen Länder vergangen.
Angesichts des Zusammenfallens dieser drei Ereignisse hat die Konferenz der Präsidenten beschlossen, heute eine Aussprache zur Zukunft Europas sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg durchzuführen, die mehr sein soll als bloßes Gedenken, mehr als ein Blick zurück: Es soll ein Ausblick auf unsere Zukunft sein, gestützt auf die Erinnerung an unsere Vergangenheit.
Herr Juncker und Herr Barroso sind hier, um die Aussprache einzuleiten.
(Beifall)
Sie haben unlängst in Moskau an den dortigen Feierlichkeiten zum Gedenken an das Kriegsende teilgenommen, und jetzt sind sie hier, um gemeinsam mit uns diese Aussprache zu führen, in der wir – ich sagte es bereits und möchte es noch einmal betonen – versuchen werden, uns der Zukunft zuzuwenden und nicht nur an die Vergangenheit zu erinnern.
Wir sind dankbar für die Bemühungen, die Sie beide unternommen haben, um hier bei uns zu sein. Ihre Anwesenheit wird unsere Aussprache zweifellos befruchten. Ich werde Ihnen beiden zuerst das Wort erteilen, wie es üblich ist.
Jean-Claude Juncker,amtierender Ratspräsident.(FR) Herr Präsident, Herr Kommissionspräsident, meine Damen und Herren Abgeordneten! Sechzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Das Gedenken an den 8. Mai 1945, den Tag der Kapitulation des III. Reiches, ist eine dringende Pflicht, und ich möchte dem Europäischen Parlament danken, dass es heute nicht versäumt, des 8. Mai 1945 zu gedenken.
Die Pflicht zur Erinnerung ist ein dringendes Gebot. Dies trifft, wie mir scheint, auf die zu, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind, auf die Männer und Frauen meiner Generation. Und wenn wir des 8. Mai 1945, der Kapitulation der deutschen Demokratie im Jahr 1933 und der furchtbaren Zeit zwischen diesen beiden Daten gedenken, dann müssen wir, die wir jünger sind als die betroffene Generation, dies mit großer Zurückhaltung tun.
Diejenigen, die wie ich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind, in den Jahren 1954, 1955 und später, müssen dieser Ereignisse mit Zurückhaltung gedenken, weil wir keine direkten Zeugen der Tragödie waren, die über den europäischen Kontinent hereingebrochen war. Wir haben nicht wie die Generation vor uns die Konzentrationslager und die Gefängnisse gesehen, in denen Menschen getötet, gefoltert und bis zu größter Erniedrigung gedemütigt wurden. Wir haben nicht wie sie die Schlachtfelder gesehen, weil wir sie nicht durchqueren mussten, den Tod vor Augen, der so viele ereilte. Wir konnten und mussten nicht wie sie die endlosen Züge von Gefangenen aller Nationen sehen, die Europa durchquerten und im Grunde einen einzigen kontinentalen Trauerzug bildeten. Wir, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, standen nicht vor dramatischen individuellen oder gemeinsamen Entscheidungen. Wir brauchten nicht nein zu sagen, wir brauchten nicht ja zu sagen, wir konnten uns der Sonne der Nachkriegszeit erfreuen, ohne dramatische Entscheidungen treffen zu müssen.
Das Gedenken an den 8. Mai 1945 ist eine Handlung, die das kollektive Gedächtnis stärkt. Dies ist wichtig zu einer Zeit, da die direkten Erinnerungen, das direkte Erleben des Krieges oder der unmittelbaren Nachkriegszeit – das unmittelbaren Erleben mit all seinen persönlichen Erfahrungen und edlen Gefühlen – immer mehr zu Geschichte werden mit all dem, was die Geschichte an Distanz und angeblich objektiven Deutungsmustern beinhaltet. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der die direkten Zeugen dieser furchtbaren Epoche der europäischen Geschichte diese Welt verlassen. Wie bewegend ist es, die russischen Kriegsveteranen auf ihren Lastwagen auf dem Roten Platz zu sehen, wie bewegend ist der lange Zug jener, die für sich und für uns in den Krieg zogen und die heute nicht mehr laufen können, während wir wissen, worauf sie sich hinbewegen. Die Pflicht der Erinnerung ist ein dringendes Gebot.
Sich zu erinnern, bedeutet für die Männer und Frauen meiner Generation, dies mit Zurückhaltung, aber auch mit großer Dankbarkeit zu tun. Dankbarkeit zunächst für die Generation unserer Väter und unserer Großväter, die nach ihrer Rückkehr von den Schlachtfeldern, nach ihrer Rückkehr aus den Konzentrationslagern, nach ihrer Befreiung aus den Gefängnissen viele Gründe hatten, in Niedergeschlagenheit zu verfallen, nichts zu tun, als ihr Schicksal zu betrauern. Doch sie haben Europa wieder aufgebaut und daraus den schönsten Kontinent gemacht, den es gibt. Seien wir dankbar für die außergewöhnlichen Leistungen der Generation derer, die den Krieg ziehen mussten, und die doch den Frieden wollten!
(Beifall)
Wenn man sich erinnert, wenn man diese dringende Pflicht zur Erinnerung verspürt, dann muss man auch die Wahrheit sagen. Der 8. Mai 1945 war für Europa ein Tag der Befreiung.
Der 8. Mai 1945 war auch ein Tag der Niederlage. Aber es war die Niederlage des Faschismus, die Niederlage des Nationalsozialismus, die Niederlage der Kapitulation der Demokraten vor dem Schrecklichen, das seit 1933 passiert war. Aber es war für Deutschland auch und vor allem ein Tag der Befreiung!
(Beifall)
Ich möchte den gewählten Vertretern des deutschen Volkes in diesem Hause sagen: Noch nie waren die Deutschen uns so gute Nachbarn wie heute!
(Beifall)
Am 8. Mai, am 9. Mai, am 10. Mai die Wahrheit zu sagen, heißt auch, sich dankbar zu zeigen gegenüber denen, die ihre Kräfte und Energien mit den europäischen Kräften und Energien vereint haben, um den europäischen Kontinent zu befreien. Ich möchte nicht mit 60 Jahren Verspätung, sondern mit 60 Jahren Abstand sagen, wie sehr wir Europäer jenen jungen amerikanischen und kanadischen Soldaten zu Dank verpflichtet sind, die von der anderen Seite des Ozeans nach Europa kamen, um es zu befreien, obwohl sie eine Reihe von Ländern, zu deren Befreiung sie beitrugen, nicht einmal dem Namen nach kannten. Wir dürfen sie niemals vergessen.
(Beifall)
Ich möchte ebenfalls der Soldaten der Roten Armee gedenken. Welch ungeheure Verluste! Wie viele Leben wurden abrupt abgebrochen in Russland, das für die Befreiung Europas 27 Millionen Tote gab! Niemand muss - wie ich es tue - große Liebe für das eigentliche Russland, das ewige Russland empfinden, um anzuerkennen, dass Russland große Verdienste für Europa erworben hat.
(Beifall)
Besonders würdigen möchte ich ein Volk Europas, dass vermochte, nein zu sagen, während andere allzu oft zu einem halbherzigen Ja neigten. Ich möchte heute hier das britische Volk würdigen, das nein zu sagen vermochte, und ohne dessen Beitrag nichts möglich gewesen wäre.
(Beifall)
Doch die Anfang Mai 1945 wieder erlangte Freiheit wurde nicht überall in Europa in gleichem Maße spürbar. Wir in unserem westlichen Teil Europas, die wir fest in unseren alten Demokratien etabliert waren, konnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Freiheit leben, in einer wieder erlangten Freiheit, deren Preis wir kannten. Doch diejenigen, die in Mitteleuropa und in Osteuropa lebten, kamen nicht in den Genuss der Freiheit, die wir fünfzig Jahre lang erlebten.
(Beifall)
Sie waren einem fremden Gesetz unterworfen. Die baltischen Länder, deren Ankunft in Europa ich begrüßen möchte und denen ich sagen möchte, wie stolz wir darauf sind, dass sie nun zu uns gehören, wurden gewaltsam in ein fremdes Staatsgebilde eingegliedert. Sie erlebten nicht die pax libertatis,sondern die pax sovietika, die ihnen fremd war. Diese Völker, diese Nationen, die von einem Unglück in das andere stürzten, haben mehr gelitten als alle anderen Europäer.
(Beifall)
Den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern war nicht das außergewöhnliche Maß an Selbstbestimmung vergönnt, in dessen Genuss wir in unserer Region Europas kamen. Sie waren nicht frei. Sie mussten sich einem System unterordnen, das ihnen aufgezwungen wurde. Mit großer Trauer im Herzen denke ich an all das Schlechte, das heute über die Erweiterung gesprochen wird. Doch ich sage heute, da der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende gegangen ist: Es lebe die Erweiterung!
(Beifall)
Dieses Nachkriegseuropa, das ohne den Krieg niemals zu dem Europa hätte werden können, das wir heute kennen, dieses aus der Asche des Krieges entstandene Europa hätte es niemals gegeben ohne diejenigen, die als Gründerväter Europas bezeichnet werden – die Schuman, Bech, Adenauer, de Gasperi und andere -, die jenen Satz der Nachkriegszeit „Nie wieder Krieg“ zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents zu einer Hoffnung, einem Gebet und einem Programm gemacht haben. Wir müssen heute mit Bewegtheit, mit Dankbarkeit derer gedenken, die den Mut hatten, ja zu sagen, nachdem sie nein gesagt hatten.
Sie hätten dies nicht tun können, wenn sie nicht angespornt worden wären durch die edlen und tiefen Gefühle ihrer Völker. Wenn wir Europa so gestalten konnten, wie wir dies nach dem Zweiten Weltkrieg getan haben, dann weil die europäischen Völker nie wieder eine solche Tragödie erleben wollten, wie sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zweimal über den europäischen Kontinent hereingebrochen war.
Es gibt die Gründerväter Europas, die bekannt sind; es gibt die Völker, die im Schatten lebten und diese edlen Gefühle teilten, und dann gibt es die Philosophen, die Denker, die Politiker, an die man sich allzu oft nicht mehr erinnert: Léon Blum, der in einem französischen Gefängnis von Europa träumte; der große Spinelli, der von den italienischen Faschisten auf einer Insel eingekerkert wurde, und andere, deren Namen nicht bekannt sind, doch denen wir viel verdanken. Ich möchte all denjenigen meine Hochachtung erweisen, die, in Vergessenheit geraten oder unbekannt geblieben, das möglich gemacht haben, was nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde.
(Beifall)
Es gab den freien Teil Europas und den Teil Europas, der durch die unheilvolle Entscheidung der Geschichte, die Entscheidung von Jalta gelähmt war, die verfügte, dass Europa für immer in zwei Teile geteilt sein sollte, in zwei Teile, die sich oft feindselig gegenüberstanden und zwischen denen wir allzu oft keine Brücken zu schlagen vermochten. Der Kalte Krieg, wie diese tragische Periode der europäischen Geschichte verharmlosend bezeichnet wurde, hat die besten Energien Europas gelähmt; er hat den besten Talenten Europas nicht ermöglicht, all das Positive zum Ausdruck zu bringen, was sie hätten zum Ausdruck bringen können, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten.
Ich selbst bin im Dezember 1954 geboren, doch ich pflege zu sagen, dass ich 1955 geboren bin. Ich bin zunächst aufgewachsen in der Achtung vor der Leistung der Generation meines Vaters, der – wenn ich mir diese Abschweifung gestatten darf – ein doppelt trauriges Schicksal hatte, da alle zwischen 1920 und 1927 geborenen Luxemburger gewaltsam zur Wehrmacht eingezogen wurden und eine fremde Uniform tragen mussten, eine Uniform, die fremden Zielen diente. Es ist ein schweres Schicksal, die Uniform seines Feindes tragen zu müssen. Das Gleiche gilt im Übrigen für die Elsässer und die Lothringer, mit denen ich meine Verbundenheit zum Ausdruck bringen möchte.
Ich bin in der Atmosphäre des Kalten Krieges groß geworden, in der die Welt scheinbar leichter zu verstehen war. Sie war geteilt in diejenigen, die mit uns waren, und die, die gegen uns waren. Man wusste nicht, warum man die liebte, die mit uns waren, doch man wusste, dass man die Anderen hassen musste. Man wusste, dass die Gefahr von der anderen Seite ausging, und die auf der anderen Seite dachten, die Gefahr ginge von uns aus. Wie viele verlorene Chancen! Wie viel Zeit wurde in Europa mit diesen stupiden Bewertungen der unmittelbaren Nachkriegszeit verloren!
Freuen wir uns heute, dass wir nicht mehr der unerbittlichen Logik des Kalten Krieges folgen müssen und den Frieden zwischen den beiden Teilen Europas herstellen können.
(Beifall)
Ich denke oft – sicherlich weil ich keiner bin – an die Weisen Europas, zum Beispiel an Churchill. An den großen Churchill, der 1947, als der erste Kongress der Europabewegung in Den Haag stattfand und die Vorstellung von der Gründung des Europarates aufkam, angesichts der Weigerung der Sowjetunion, die anderen mittel- und osteuropäischen Staaten weder am Marshall-Plan noch am Aufbau des Europarates teilnehmen zu lassen, mit der ihm eigenen prophetischen Gabe erklärte: Wir beginnen heute im Westen, was wir eines Tages im Osten beenden werden. Meine Damen und Herren, wir können stolz darauf sein, dass wir dies erreicht haben.
(Beifall)
Ich erinnere mich an die Worte von Victor Hugo, der 1849 schrieb: „Der Tag wird kommen, an dem es keine anderen Schlachtfelder mehr gibt als die Märkte, die sich ... den Ideen öffnen. Der Tag wird kommen, an dem Kanonenkugeln und Bomben durch Wahlen ersetzt werden“. Seien wir stolz, dass wir dies heute erreicht haben.
Seien wir stolz darauf, dies vor dem Europäischen Parlament sagen zu können, der gewählten Vertretung der Völker Europas, deren Mitglieder die Erben derer sind, die nein zu sagen vermochten, als nein gesagt werden musste, die Erben derer, die ja zu sagen vermochten, als das Ja die einzige verbliebene Möglichkeit war. Seien wir denen dankbar, die nein sagten, als nein gesagt werden musste, und seien wir stolz auf diejenigen, die heute ja zu einem großen Europa sagen, einem Europa, das in seiner Geschichte und seiner Geografie wieder ausgesöhnt ist. Seien wir stolz auf diejenigen, die nicht wollen, dass Europa zu einer Freihandelszone wird; seien wir stolz auf diejenigen, die wie wir und wie Millionen andere der Meinung sind, dass Europa ein komplexer Kontinent ist, der Besseres verdient als eine Freihandelszone. Seien wir stolz auf das Europa, das von denen, die vor uns lebten, aufgebaut wurde, und erweisen wir uns als würdige Erben.
(Die Mitglieder des Parlaments erheben sich und spenden dem Redner Beifall.)
José Manuel Barroso,Präsident der Kommission. Herr Präsident, Herr amtierender Ratspräsident, meine Damen und Herren Abgeordneten, liebe Freunde! Es ist für mich eine große Ehre, anlässlich dieser Feierstunde im Parlament, der Vertretung der europäischen Bürger, für die Kommission sprechen zu dürfen. Wir richten heute unseren Blick gleichermaßen zurück in die Vergangenheit und nach vorn in die Zukunft. Wir sind hier zusammengekommen, um uns zu erinnern, Dank zu sagen und aufzubauen.
Lassen Sie uns zunächst in die Vergangenheit blicken. Der weltweit größte Konflikt rief bei allen Überlebenden gemischte Gefühle hervor; bei vielen löste das Ende Erleichterung aus, bei anderen ganz gewiss ein Gefühl der Leere und häufig Angst vor der Zukunft, Angst, dass die Nachkriegszeit nicht besser sein könnte als das Vergangene, sondern sogar noch schlimmer.
Deshalb erinnern wir daran. Wir erinnern an das Ausmaß der Zerstörung, die vor allem in Europa wütete. Kaum ein Land hat das unbeschadet überstanden. Das, was einige als den „europäischen Bürgerkrieg“ bezeichnet haben, war ein Zeugnis der Unmenschlichkeit, deren ein Mensch gegenüber einem anderen fähig sein kann. Wir Europäer sind vielfach zu Recht stolz auf die großartigen Errungenschaften unserer Zivilisation und unserer Kultur, auf die großen Erfolge des europäischen Geistes, müssen jedoch voller Demut bekennen, dass im 20. Jahrhunderts in Europa einige der schrecklichsten Gräueltaten verübt wurden, die von der Menschheit je begangen worden sind.
Wir sollten uns aber auch an die großartigen Geschichten des Sieges über Not und Elend erinnern, an die Lebenswege so vieler Europäer, die auf der Suche nach einem besseren Leben Berge und Meere überwunden haben, um ihr Ziel einer glücklichen und friedlichen Existenz zu erreichen. Für manche war dieses Ziel allein durch ihre Heimkehr aus dem Krieg erreicht. Wir denken an diejenigen, denen dies nicht möglich war, an die, für die das Licht der Freiheit schon wieder erlosch, kaum dass sie es erblickt hatten, an die, für die ein Alptraum zu Ende ging und der nächste begann.
Lassen Sie uns auch daran denken, dass aus den Ruinen Europas von 1945 etwas Außergewöhnliches entstand. Ich möchte einen der Visionäre jener Zeit zitieren, der 1946 in Zürich Folgendes sagte: „Was ich jetzt sage, wird Sie erstaunen. Der erste Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur auf diese Weise kann Frankreich die moralische und kulturelle Führung Europas wieder erlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne [...] ein geistig großes Deutschland“. Churchill hatte Recht. Heute vergessen wir leicht, welchen Mut es erforderte, diese Worte in der damaligen Zeit auszusprechen. Churchills Worte lösten Erstaunen aus.
Noch erstaunlicher waren die Dokumente, mit denen diese Worte in die Tat umgesetzt wurden. Denken wir an die große Entschlossenheit von Robert Schuman, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und vielen anderen und an das, was sie erreicht haben, weil sie sich für den Wiederaufbau statt für die Vergeltung entschieden haben. Auch die Vision transatlantischer Politiker, die halfen, die Lasten des Wiederaufbaus mitzutragen statt sich abzuwenden, sollten wir uns in Erinnerung rufen und würdigen.
Doch lassen Sie uns innehalten, bevor wir zu sentimental werden, denn was die Gründerväter begannen war zwar außergewöhnlich, aber unvollständig. Wie die Kommission in ihrer Erklärung vom 9. Mai sagte, sollte der Frieden für Millionen von Menschen erst mit dem Fall der Berliner Mauer und nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Wirklichkeit werden. Nach 1945 verloren sie ihre Freiheit und ihre Chance auf einen Neuanfang, kaum dass sie sie erlangt hatten. In einigen Fällen verloren sie die politische Kontrolle ihrer Länder, in anderen ihre Unabhängigkeit. Für viele Menschen in Europa brachte das Ende des Krieges Frieden und Freiheit, für manche jedoch nur Frieden und erst viel später die Freiheit.
Wir sollten nicht vergessen, was Europa war. Vor sechzig Jahren erlebten wir hier auf diesem Kontinent den Holocaust. Vor rund 30 Jahren herrschten in mehreren südeuropäischen Ländern, auch in meinem Heimatland, noch Diktaturen. Bis vor etwa 15 Jahren gab es für die Hälfte Europas keine Freiheit und keine Demokratie. Wenn wir sehen, wo Europa heute steht und wo es noch vor wenigen Jahren stand, fällt es mir deshalb schwer, den Pessimismus über die Zukunft Europas nachzuvollziehen.
(Beifall)
Doch auch das war glücklicherweise noch nicht das Ende der Geschichte. Was die europäischen Staats- und Regierungschefs in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut haben, war ein Lichtblick und ein Magnet: ein Lichtblick in den dunklen Jahren für diejenigen, die keine Aussicht auf den Frieden, den Wohlstand und die Stabilität hatten, an denen sich andere in Europa erfreuen konnten, und ein Magnet, von dem eine außerordentlich starke Anziehungskraft für die Völker und Länder ausging, die nach Freiheit strebten und die Europäische Gemeinschaft, wie sie damals noch hieß, als Katalysator für den Wandel in ihren Ländern ansahen.
Für meine Generation war Europa immer ein Synonym für Demokratie. Als ich 18 Jahre alt war, waren ich und andere entschlossen, mein Heimatland von einem unterdrückenden, autoritären und rückständigen Regime zu befreien. Aus diesem Grund hegen ich und viele Menschen aus meiner Generation große Bewunderung für die außerordentlichen Anstrengungen, die die Bürger in der Tschechischen Republik, in Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien sowie in Rumänien und Bulgarien im Kampf für die Demokratie unternommen haben und für ihre Art, Europa und Demokratie als etwas Untrennbares zu betrachten. Deshalb ist es eine große Freude für die Europäische Union und ihre Institutionen, diese neuen Mitglieder und Völker ebenso wie Malta und Zypern voller Stolz in ihre Gemeinschaft aufzunehmen.
Es lohnt sich also, dass wir uns diesen Wandel in Erinnerung rufen und würdigen. Warum? Weil es manchmal den Anschein hat, als hätten wir das alles schon vergessen. Heute betrachten wir die festen Fundamente unseres neuen Europa der Freiheit und der gemeinsamen Werte nur allzu oft als Selbstverständlichkeit.
Dahermuss gesagt werden, die Europäische Union kann nicht Opfer ihres eigenen Erfolges werden. Die Integration einer solchen Vielfalt von Mitgliedern, die durch ein gemeinsames Projekt geeint werden, ist eine wirklich großartige Leistung. Es ist für uns alle eine außergewöhnliche Herausforderung. Ich bin überzeugt, dass die Verwirklichung dieses gewaltigen Vorhabens, das bald 27 Länder und 500 Millionen Menschen umfassen wird, trotz aller Widrigkeiten, die unvermeidlich von Zeit zu Zeit auftreten, weiter gehen wird.
Diese Verwirklichung geht indes zuweilen so friedlich vonstatten, dass die Gefahr besteht, das zu vergessen, was vorher geschah. Die Berichte von mörderischen Konflikten, die Europa verwüsteten, scheinen nunmehr auf die Geschichtsbücher beschränkt zu sein. Doch noch vor zehn Jahren waren sie in den Schlagzeilen der Zeitungen zu finden, als es Massaker in bestimmten Balkanländern gab.
Auf unserem Kontinent können wir sagen: Nie wieder Krieg! Das ist leicht gesagt, doch die Geschichte Europas zeigt, dass wir etwas tun müssen für den Frieden und ihn nicht als selbstverständlich ansehen dürfen. Dies ist sicherlich keine beruhigende Perspektive, denn es gibt heute in Europa Probleme und Ängste. In Berlin steht an dem großen Gebäude, in dem sich einst das befand, was die Deutsche Demokratische Republik als ihr Parlament bezeichnete, das Wort Zweifel geschrieben. Insbesondere unter den jungen Menschen gibt es Zweifel und Ängste. Ihre Ängste sind ernsthafter Natur: die Angst, ob man einen Arbeitsplatz findet oder nicht, die Angst vor einer von mehr Wettbewerb beherrschten Welt, die zuweilen als Herausforderung angesehen wird. Doch vorherrschend ist die Angst, ob man einen Arbeitsplatz findet oder nicht, und nicht die Angst, ob man sein eigenes Land findet oder nicht.
Es geht jetzt darum, einen wirksamen Weg zu finden, um die mit der Integration der Märkte verbundenen realen oder empfundenen Schwierigkeiten zu überwinden. Es handelt sich nicht um bewaffnete Konflikte zwischen Konkurrenten, die zu Gegnern oder Feinden werden. Daher müssen wir bei der Bewältigung dieser Ängste dem Beispiel der Generationen vor uns folgen, die gleiche Erfindungskraft und den gleichen Mut an den Tag legen. Wir sollten uns daran erinnern, dass die ehrgeizige Partnerschaft, die wir in Europa geschlossen haben, der Ausgangspunkt für friedliche Revolutionen war, die Millionen Europäern Freiheit und Demokratie gebracht haben!
Das Beispiel Europas – des Europas der Sechs, der Zehn, der Zwölf, der Fünfzehn und nun der Fünfundzwanzig – war die wirkliche treibende Kraft für die Demokratisierung in Südeuropa, in Lateinamerika und dann in Mittel- und Osteuropa. Erinnern wir uns, dass die Freiheit die Triebkraft ist, die Wachstum, Beschäftigung, Investitionen fördert und die mehr Europäern die Möglichkeit eines besseren Lebens eröffnet.
Die Vitalität der Demokratie und die Modernität unserer Gesellschaften zeugen von unserer Fähigkeit, unseren Kontinent neu zu gestalten. Vom Binnenmarkt bis zu den Außengrenzen, von der Förderung des inneren Zusammenhalts bis zur Verteidigung der nachhaltigen Entwicklung, von der Dimension der Solidarität bis zu der der Gerechtigkeit in allen Teilen der Welt – denn wir wollen kein auf sich selbst beschränktes Europa -, arbeitet die Europäische Union ständig an der Gestaltung Europas. Dies tut sie in konkreten Etappen, die das Alltagsleben ihrer Bürger verbessern. Durch die Ratifizierung der Verfassung werden diese Errungenschaften gefestigt und die Grundlagen für noch bedeutendere Fortschritte in der Zukunft gelegt.
Heute gedenken wir diesen furchtbaren Krieges und seiner Folgen. In unserer auf die Zukunft gerichteten Arbeit sollten wir uns inspirieren lassen von dem vorausschauenden Ehrgeiz und der Entschlossenheit der führenden Politiker und der Bürger, die uns vorausgegangen sind auf dem Weg von der Versöhnung zur Zusammenarbeit, von der Zusammenarbeit zur Union!
(Beifall)
Hans-Gert Poettering, im Namen der PPE-DE-Fraktion. – Herr Präsident, Herr Präsident des Europäischen Rates, Herr Präsident der Kommission, liebe Kolleginnen und Kollegen! 1945 – vor sechzig Jahren – ist Europa ein Feld von Ruinen. Ein barbarischer Krieg hat über 55 Millionen Menschenleben gefordert. Millionen und Abermillionen Menschen sind entwurzelt, Millionen auf der Flucht oder vertrieben, Eltern ohne Söhne, Frauen ohne Männer, Kinder ohne Väter. Mein Vater wurde als einfacher Soldat Ende März 1945 vermisst. Wie wir erst sehr viel später erfuhren, ist er gefallen; ich habe ihn nie gesehen.
1945 sind viele von Europas Städten verwüstet. Europas Wirtschaft liegt in Trümmern. Weltweit verbreitet der Name „Europa“ Furcht und Schrecken. Über die Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kann es keinen Zweifel geben: Das nationalsozialistische Unrechtsregime in Deutschland steigerte seinen Rassenwahn und Machtanspruch zu einem Inferno der Aggression gegen alle anderen Völker Europas. Der Holocaust an den Juden Europas wurde sein schlimmstes Verbrechen. Der nationalsozialistische Totalitarismus führte ganz Europa ins Verderben. Am Ende wurde das deutsche Volk selbst zu einem seiner Opfer. Sieger gab es 1945 gleichwohl nur wenige.
Eher gab es glückliche und unglückliche Überlebende, die einen im Westen, die anderen in der Mitte und im Osten Europas. Im Westen des Kontinents entstand, mit Weitsicht geleitet von amerikanischer Unterstützung, neues Leben in Freiheit, in Respekt vor der Menschenwürde, mit Demokratie und rechtlich gesicherter Marktwirtschaft. Winston Churchill – daran wurde ja bereits erinnert – zeichnete die Vision der Vereinigten Staaten von Europa, und ich füge hinzu, dass ohne Großbritannien Europa niemals vollständig wäre. Nach 1945 entstand Europa von seinem atlantischen Westrand her neu. Erschöpft, aber im Glück des freien Neubeginns rückten die Völker des europäischen Westens zusammen. Es bleibt auf immer das Verdienst Robert Schumans, auch den Deutschen die Hand zu diesem Neubeginn gereicht zu haben. Ohne Frankreichs Größe wäre Europa wieder nur eine leere Idee geblieben. Inmitten des jetzigen Neubeginns einer Europäischen Union mit einer gemeinsamen Verfassung füge ich hinzu: Auch in Zukunft braucht Europa die konstruktive Mitwirkung Frankreichs mehr denn je.
(Beifall)
Von der Hoffnung auf einen Neubeginn waren 1945 auch die Völker der Mitte, des Ostens und Südostens Europas erfüllt. Als Menschen des gleichen, des uns allen gemeinsamen europäischen Kulturraumes hofften sie auf eine neue Lebenschance in Freiheit und Frieden. Sie mussten bitter erfahren, dass Frieden ohne Freiheit nur eine halbe Befreiung vom Joch des totalitären Unrechts war. Der sowjetische Machtanspruch brach ihre Hoffnungen nieder. 1945 war der nationalsozialistische Totalitarismus besiegt. Aber der stalinistische Totalitarismus führte Europa in die Spaltung hinein und überzog die Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas mit seinen Unrechtsregimen. Die Hoffnung aber blieb auch unter den unglücklichen Überlebenden des Zweiten Weltkrieges: die Hoffnung auf ein gemeinsames, geistig-moralisch und politisch erneuertes Europa mit der Perspektive des Wohlstands für alle seine Bürger. Diese Hoffnung haben sie schließlich in einer friedlichen Revolution verwirklicht – und „Solidarność“ ist dafür der Ausdruck. Aber es dauerte Jahrzehnte, bis die Mauer gebrochen wurde.
(Beifall)
Wenn wir heute – und ich gehöre diesem Parlament seit seiner ersten Direktwahl 1979 an – gemeinsam diese Debatte führen, in Würde und mit dem notwendigen Ernst, ist es für mich eine Stunde des Glücks, dass Europa heute geeint ist und wir gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen auch aus acht Völkern der Mitte Europas unter uns haben.
(Beifall)
1989 endete die doppelte Last des Totalitarismus in Europa. 1989 lehrte uns, welche Kraft Europas Werte für uns alle haben und wie sehr wir immer auf das Vorbild der Mutigen angewiesen sind, um in unserer Freiheit zu bestehen. Nach 1989 konnte Europa wieder beginnen, mit beiden Lungen zu atmen, wie es der unvergessliche, große Papst Johannes Paul II. formuliert hat.
(Beifall)
Die Völker des europäischen Westens haben dazu eine wertvolle, unverzichtbare und bleibende Vorarbeit geleistet. Der Aufbau der Europäischen Union mit gemeinsamen Werten, deren Kern die Menschenwürde ist, der übernationale Zusammenschluss zu einer rechtsverbindlichen Gemeinschaft der Freiheit waren die folgerichtige Antwort auf die Chance des Kriegsendes. Die europäische Einigung ist ein Projekt des Friedens und der Freiheit.
Der nun gemeinsame Weg des wiedervereinten Europa ist die Chance und Aufgabe aller Europäer. Jetzt bauen wir gemeinsam ein Europa, das seine Werte für alle seine Bürger verteidigt. Auf Krieg und Totalitarismus kann Europa nur noch eine Antwort geben: den Weg der gemeinsamen Europäischen Union der Völker und der Staaten beständig, aus innerer Überzeugung und in der Annahme der Vielfalt, die Europas Stärke und Schönheit ausmacht, weiterzugehen. Die derzeitige Debatte über die Europäische Verfassung ist eine große Chance, sich dieser Grundlagen neu zu vergewissern, weil erstmalig in der europäischen Geschichte unsere Werte, unsere Ideale in einer Verfassung niedergeschrieben sind.
Europa ist nicht einfach eine Konstruktion der Politik. Europa ist ein geistiger Lebensraum. Deshalb musste die Antwort auf den furchtbaren Krieg – an dessen Ende wir uns heute in Dankbarkeit erinnern – eine sittliche Antwort sein: Nie wieder Unfreiheit, die zu Krieg führt, nie wieder Krieg, der zu Unfreiheit führt! Das ist die Summe des Antriebs, um ein neues Europa zu bauen: ein Europa der Absage an Totalitarismus, der Absage an nationalistische Überheblichkeit, der Absage an egalitäre Menschenfeindlichkeit, ein Europa der Absage an das hegemoniale Streben einzelner seiner Staaten, ein Europa des Bekenntnisses zur unverwechselbaren Würde jedes einzelnen Menschen, zum Interessenausgleich zwischen sozialen Gruppen und Völkern, ein Europa des Respekts und der Vielfalt, ja der Stärke durch diese Vielfalt, ein Europa der Demokratie und des Rechts.
Die innere Versöhnung zwischen den Völkern und Staaten Europas ist weit vorangekommen. Wir wollen und wir müssen dieses Werk der inneren Versöhnung vollenden, auch mit dem Volk in Russland und den Menschen in der Russischen Föderation. In der neuen Phase unserer Geschichte wird Europa aber auch mehr denn je den Ausgleich in der Welt und mit der Welt um uns herum suchen müssen. Europas Kriege wurden zu Weltkriegen. Europas Einigung muss zu einem Gewinn für die Welt werden. Wir können dankbar dafür sein, dass Kolleginnen und Kollegen – ich danke hier insbesondere dem Kollegen Elmar Brok – eine Entschließung verfasst haben, die morgen unsere Werte zum Ausdruck bringt.
Wir denken in dieser Stunde an alle Opfer des Zweiten Weltkrieges, an alles Leid und an die Zerstörung. Wir denken daran, wie sehr Frieden und Freiheit zusammengehören und wie wir unsere Arbeit in den Dienst der Menschen stellen müssen, auch in den Dienst des Dialogs der Kulturen.
Wo uns dieser Dialog mit der Welt gelingt, dort werden wir die Werte verteidigen, die uns in die Zukunft tragen. So kann uns dieser Tag des Erinnerns einen neuen Auftrag geben, an einem Auftrag mitzuwirken, eine bessere, eine friedlichere und freiere Welt zu schaffen.
(Starker Beifall)
Martin Schulz, im Namen der PSE-Fraktion. – Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir an den 8. Mai 1945 denken, dann denken wir im Gedenken an diesen Tag an zwei Phasen. Wir denken an die Phase vor diesem 8. Mai und an die Zeit danach. Für keinen deutschen Abgeordneten in diesem Hause ist es möglich, an dieses Datum zu denken, ohne dabei daran zu denken, dass er Deutscher bzw. Deutsche ist. Ich vertrete in meiner Fraktion auch die deutschen Abgeordneten, die aus dem Land kommen und heute das Land hier vertreten, das diesen Krieg gewollt hat, ihn vorbereitet hat, ihn geführt hat und ihn mit Erbarmungslosigkeit organisiert hat.
Aber ich vertrete auch Abgeordnete, die aus dem Land kommen, das das erste Opfer dieser deutschen Armee wurde: aus Polen. Und ich vertrete Abgeordnete aus den Ländern, die die Alliierten anführten, deren gesamte Macht notwendig war, um Hitler niederzuringen: aus Großbritannien, aus Frankreich. Neben mir sitzt Poul Nyrup Rasmussen, der langjährige Ministerpräsident Dänemarks, eines Landes, das von Hitler-Deutschland bei Nacht und Nebel überfallen wurde, und in dem mein Vater Besatzungssoldat war.
Ich vertrete auch Abgeordnete aus Ländern, die lange nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Diktatur leiden mussten. In meiner Fraktion sitzt ein Anwalt, der die Opfer des Franco-Regimes verteidigt hat. In meiner Fraktion sitzt ein Opfer dieses Franco-Regimes, das in den Kellern der Geheimpolizei gefoltert wurde. In meiner Fraktion sitzen Kollegen aus Portugal und Griechenland, die wie Sie, Herr Kommissionspräsident, als junge Männer und Frauen gejubelt haben, als die Diktatoren aus ihrem Land getrieben wurden. In meiner Fraktion sitzt Józef Pinior, mein Freund, der nach mir für unsere Fraktion sprechen wird, der als Gewerkschaftler und Sozialdemokrat in den Foltergefängnissen der Kommunisten gesessen hat.
Ich habe das Privileg, für all diese Menschen sprechen zu dürfen. Dass ich dieses Privileg habe, verdanken wir der Europäischen Union. Das verdanken wir diesem Einigungswerk, das die Männer und Frauen, die am 8. Mai 1945 Verantwortung übernehmen mussten, geschaffen haben. Der Ratspräsident hat darauf hingewiesen: An diesem 8. Mai 1945 mussten Konsequenzen gezogen werden. Und die richtigen Konsequenzen sind gezogen worden. Die Geschichte der Europäischen Union, die Geschichte Europas nach dem 8. Mai 1945 ist eine Erfolgsgeschichte. Sie ist eine Geschichte, die aus den Trümmern heraus den festen Willen entwickelte: nie wieder! Dieses „Nie wieder“ war nicht dahingesagt. Es wurde in Formen gefasst, in Formen, in denen wir heute arbeiten, von denen wir heute profitieren, die dazu führen, dass ich in meiner Fraktion auch Abgeordnete vertreten darf, die jüdischen Glaubens sind; dass es in meiner Fraktion Abgeordnete gibt, die Moslems sind; dass es in meiner Fraktion Kolleginnen und Kollegen gibt, die gelitten haben, und solche, die gelernt haben von denen, die gelitten haben; und dass wir zu Gemeinsamkeiten kommen, indem wir eines sagen: Die Lehre des 8. Mai muss sein. Wenn dieses „Nie wieder“ Bestand haben soll, dann muss es jeden Tag neu erkämpft werden. Der Kampf um diese Demokratie, um dieses Europa ist ein täglicher.
Erinnern wir uns heute an die Ursachen, an die Zeit vorher. Die Zeit vorher ist geprägt von einer Erkenntnis. Es ist ein singuläres Ereignis in der Menschheitsgeschichte, dass ein Staat sein Staatsziel dahingehend definierte, dass er andere Völker, andere Rassen ausrotten wollte. Niemals vorher und nachher hat es einen Staat gegeben, der seine eigene Existenz damit begründete, dass er sagte: Uns gibt es als Staat, damit die Juden, damit die Slawen, damit die Roma und Sinti, damit die behinderten Menschen ausgelöscht werden. Das ist ein singuläres Ereignis in der Menschheitsgeschichte. Das ist die Besonderheit des Dritten Reiches. Die Nazis wollten, dass von den Juden Europas nichts bleiben sollte.
Ich war vor wenigen Wochen in der Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem. Ich bin hinabgestiegen in die Gänge und Flure des Souterrains, in denen die Schicksale der Millionen Opfer dargestellt werden. Der Direktor von Jad Vaschem, der mich dort herumgeführt hat, hat mir gesagt: „Jeden Tag steige ich in diese Hölle hinab und sehe sie. Es ist eine Hölle, die Bilder, alleine sie.“ Und dann steige ich die Treppe hinauf und gehe über einen Gang in diesem neuen Museum und dann öffnet sich eine breite Glasfront, und im Sonnenlicht liegt die Stadt Jerusalem. „Jeden Tag,“ sagt mir der Direktor von Jad Vaschem, „wenn ich aus der Hölle komme und dieses Bild sehe, weiß ich, sie haben es nicht geschafft. Wir leben. Wir haben es geschafft, nicht die Nazis.“
Jedes Gedenken, jeder Tag der Erinnerung, jeder Name, den wir zitieren, ist ein Sieg über diese Verbrecher, denn sie wollten, dass nichts bleibt. Aber wenn wir uns erinnern, dann bleibt das jüdische Volk, dann bleiben die Roma und Sinti, dann bleiben die aus politischen Gründen Ermordeten, dann bleiben die behinderten Menschen. Sie bleiben in unserer Erinnerung und damit leben sie.
(Beifall)
So viele Opfer und so viele Namen. Anne Frank war ein kleines jüdisches Mädchen, dessen einziges Verbrechen es war, ein kleines jüdisches Mädchen in Amsterdam zu sein. Denken wir an solch einem Tag an Anne Frank. Sophie Scholl war eine junge deutsche Studentin, deren einziges Verbrechen es war, ein aufrechter Mensch zu sein, und die mit 18 Jahren enthauptet wurde, weil sie Flugblätter gegen das Nazi-Regime verteilt hat. Ich denke auch an Krzysztof Baczynski, einen jungen polnischen Dichter, der in Warschau von einem deutschen Scharfschützen erschossen wurde. Drei Namen unter 55 Millionen Opfern! Drei Namen, aber drei Namen, die stellvertretend genannt werden für alle anderen Opfer. Ich wiederhole: Drei Namen, an die wir uns erinnern, und die stellvertretend für alle stehen, an die wir uns erinnern sollten.
Wir fragen in den letzten Wochen oft nach dem Sinn dieser Europäischen Union und wir werden gefragt: Was ist der Sinn dieser Europäischen Union? Das, was wir in unseren Reden heute beschreiben, das ist der Sinn dieser Union. Dass dieses Einigungswerk, dass dieses Überwinden der Teilung, dass dieses Ächten des Rassismus, dass dieses Ausgrenzen aus der Gemeinschaft der Demokraten von all jenen, die Antisemiten sind, die Rassisten sind, die Nazis sind, bis heute geblieben sind, das Stigmatisieren dieser Verbrecher, das Benennen ihrer Taten, das Erinnern daran ist die Grundlage, die moralische und geistige Grundlage für unsere Europäische Union. Unsere Väter und Vorväter haben das aufgebaut.
Zwischenzeitlich hat Europa ein Erbe. Das ist keine neue Union mehr. Sie ist jetzt 60 Jahre alt. Sie ist im Prinzip am 8. Mai 1945 entstanden. Wir haben ein Erbe zu verwalten, heute schon, um es weiterzugeben. Wenn wir dieses Erbe pflegen, auf der Grundlage der Verpflichtung, uns zu erinnern, dass das Dritte Reich der moralische Tiefpunkt der Menschheit war und die richtigen Konsequenzen gezogen worden sind, indem diese Union geschaffen wurde, dann schaffen wir als europäische Politikerinnen und Politiker es, dass die jungen Männer und Frauen auf den Tribünen in diesem Parlament eine hellere Zukunft haben, als es die Vergangenheit ihrer Väter und Großväter war.
(Anhaltender Beifall)
Graham Watson, im Namen der ALDE-Fraktion. – (EN) Herr Präsident! Der britische Dichter John Donne sagte einmal: „Niemand ist eine Insel, nur für sich allein; jeder ist ein Teil des Kontinents, ein Teil des Ganzen. Wenn die Erdscholle vom Meer weggespült wird, ist Europa darum ärmer.“
Das war 1624 und doch führten Völker und Staaten auf unserem Kontinent noch mehr als dreihundert Jahre lang Krieg gegeneinander. Der Nationalismus und der Hass sind das dunkle Erbe Europas. Spätestens der „Krieg, der alle Kriege beenden sollte“ dürfte uns die Sinnlosigkeit und das Trauma organisierter Kriege vor Augen geführt haben. Unser Erwachen aus diesem Alptraum führte zur Entstehung des Völkerbunds und dennoch fuhren wir fort, die Früchte des wissenschaftlichen Fortschritts in das Feuerwasser der Massenvernichtungswaffen zu verwandeln. Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete, hatten über 40 Millionen Menschen ihr Leben verloren.
Wenn man zynisch wäre, könnte man sagen, dass die Europäer im 20. Jahrhundert lange gebraucht haben, bis sie ihre Lektion begriffen haben. Zwei blutige Kriege und ein völlig zerstörter Kontinent waren notwendig, um uns klarzumachen, dass ein vereintes Europa mehr wert ist als die Summe seiner Teile.
Doch selbst damals war es nicht allen von uns möglich, unseren Wunsch nach Frieden und Freiheit zu verwirklichen. Während der Mai 1945 für die meisten Europäer die Befreiung ihrer Länder von der Nazi-Tyrannei und den Beginn eines neuen Weges zu Freiheit und Wiederaufbau bedeutete, erlebten diejenigen auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs, wie ein tyrannisches System fast übergangslos durch ein anderes ersetzt wurde. Noch zwei Generationen wurde die Freiheit vorenthalten, die wir heute haben. Als Student an der Karl-Marx-Universität in Leipzig habe ich das 1976 aus nächster Nähe miterlebt.
Unser Bild, das wir von der Vergangenheit haben, unterscheidet sich zwangsläufig. Doch in dieser Debatte muss es um die Zukunft und nicht um die Vergangenheit gehen. Freuen wir uns über die friedliche Vereinigung Europas, daran, dass wir gemeinsam im selben Parlament sitzen können und dass wir eine Reihe von gemeinsamen supranationalen staatlichen Institutionen haben, die über Fragen von gemeinsamem Interesse entscheiden.
Es war die starke gegenseitige Abhängigkeit, aus der die Europäische Union entstanden ist und die letztlich den Zusammenbruch des Ostblocks bewirkt hat. Wir begannen mit Kohle und Stahl, den Bausteinen, aus denen Europa nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde, wir schufen den gemeinsamen Markt und damit die Grundlage eines Wohlstands, der für meine Eltern unvorstellbar gewesen wäre, und wir führten die einheitliche Währung ein, die zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts für 300 Millionen Europäer Wirklichkeit wurde.
Wenn wir heute auf 60 Jahre Frieden zurückblicken, sehen wir, dass Europa viel erreicht hat, weil es Schritt für Schritt die Solidarität unter unseren Völkern gestärkt hat. Es besteht kein Zweifel, dass die Europäische Union zu einem Erfolg geworden ist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind Teil unserer gemeinsamen Rechts- und Sozialstruktur geworden. Doch es gibt keine Garantie, dass dies immer so bleiben wird, und mit dem Verfassungsvertrag stehen wir nun an einem Scheideweg. Können wir weitermachen und diese einmalige Ära des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands festigen oder werden wir zusehen müssen, wie all dies einer neuen Rivalität zwischen den Mitgliedstaaten und einem Spiel mit dem Feuer weichen muss?
Vergangene Woche hat uns ein Kolumnist der „Financial Times“ daran erinnert, wie leicht die Fassade der Zivilisation einstürzen kann, wie schwach die Stimme des menschlichen Gewissens ist, wenn wir verleitet werden, uns von der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung unserer Mitmenschen abzuwenden. Dies ist die Herausforderung, vor der unsere Mitgliedstaaten stehen, wenn sie aufgerufen sind, die Verfassung zu ratifizieren.
Die Grundlage eines friedlichen und prosperierenden Europa war schon immer die feste Überzeugung, dass die Stärke in der Annäherung und in der Aufgabenteilung liegt. Die anfängliche Zusammenarbeit im Bereich des Handels wurde auf die Sozialpolitik, die Beschäftigung, Einwanderungsfragen, die Justiz, die Polizeiarbeit und die Außenpolitik ausgeweitet. Durch die Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa ist das Joch von Yalta von unseren Schultern genommen worden, aber nun stehen wir vor neuen Herausforderungen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Herausforderung, eine wachsende Weltbevölkerung, in der immer mehr Menschen durch Kriege, Hunger oder die schiere Verzweiflung in die Migration getrieben werden, mit Nahrung, Kleidung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen. Die Herausforderung, etwas gegen das Ozonloch, das Abschmelzen der Polkappen, ansteigende Meeresspiegel und den Klimawandel zu unternehmen. Oder gegen die Bedrohung durch die internationale organisierte Kriminalität, in der es heute schon kriminelle Banden gibt, die mächtiger sind als so manche nationale Regierung, die durch den Handel mit Drogen und Handfeuerwaffen, aber auch den Menschenhandel viel Leid über viele Menschen bringt und die Hand in Hand mit den Terroristen arbeitet. Keine dieser Herausforderungen kann von unseren Ländern bewältigt werden, wenn sie nicht gemeinsam handeln. Wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir unseren Bürgern die Sicherheit, den Wohlstand und die Chancen bieten wollen, die sie vom Staat erwarten. Wir müssen auch mit den Vereinigten Staaten und Kanada zusammenarbeiten, deren Bürgern wir so viel verdanken und deren Werte wir im Wesentlichen teilen, nicht nur, um ihnen die gemeinsamen Herausforderungen bewusst zu machen, sondern auch, um ihre Befürchtungen gegenüber einem neuen und mächtigeren Europa zu zerstreuen.
Europa hat das Potenzial, ein Leuchtturm der Hoffnung, ein Modell für Toleranz, Vielfalt und Stabilität in einer Welt zu sein, in der diese Eigenschaften auch heute noch selten anzutreffen sind. Wir können einen Katalog von Rechten verteidigen oder zusehen, wie unsere Rechte ausgehöhlt werden. Wir können die europäische Verfassung ratifizieren und auf die Demokratie und eine rechenschaftspflichtige Regierung setzen oder weiterhin zu viel Macht in den Händen jener lassen, die nicht vom Volk gewählt sind. Wir können den Besitzlosen die Hand der Freundschaft reichen oder uns in einen illusorischen Hafen des Wohlstands zurückziehen. Wir können Rumänien, Bulgarien, die Türkei und die westlichen Balkanländer willkommen heißen und Pluralismus und Vielfalt als wesentliche Merkmale Europas akzeptieren oder uns weiterhin mit Feindseligkeit und Argwohn begegnen. Annäherung ist nicht nur ein Ideal, sondern eine wirtschaftliche und politische Notwendigkeit. Es ist an der Zeit, dass wir unsere nationalen Eigeninteressen zugunsten einer stärkeren Annäherung aufgeben. Die Zusammenarbeit ist der Weg, den wir einschlagen müssen, denn sie ermöglicht es uns, die globalen Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen.
In der Ära der globalen Governance muss Europa eine zentrale Rolle einnehmen. Europa ist eine stabilisierende Kraft und ein Maßstab für andere Länder und Völker. Handel und Zusammenarbeit können auch anderen die Früchte bringen, die wir dadurch erlangt haben, und aus diesem Grund befürwortet meine Fraktion den Ausbau der Beziehungen zu Russland und zur Volksrepublik China. Die Geschichte sollte uns allerdings lehren, dass wir autoritäre Regime nicht unterstützen dürfen. Liberale und Demokraten betrachten mit Sorge die Richtung, die der Rat in einigen Politikbereichen eingeschlagen hat: Der Versuch, die Amerikaner beim Ausverkauf von Menschenrechtsstandards zu unterbieten, wäre eine Verletzung der Würde, die sich die Völker Europas so hart erkämpft haben.
Niemand ist eine Insel, und dasselbe gilt auch für einzelne Länder. Die Bewahrung einer zerbrechlichen Welt und die Verantwortung für ihre Bewohner ist unsere gemeinsame Aufgabe. Machen wir Europa zu einem Beispiel für die Würdigung der Vielfalt und nehmen wir die Herausforderung an.
(Beifall)
Daniel Marc Cohn-Bendit, im Namen der Verts/ALE-Fraktion. – (FR) Herr Präsident, ich bin einen Monat vor 1945 geboren. Meine Eltern verließen Deutschland vor 72 Jahren, im Jahr 1933. Mein Vater war Anwalt und verteidigte die Organisation „Rote Hilfe“ und sollte verhaftet werden. Ich wurde genau neun Monate nach der Landung der Alliierten in der Normandie geboren. Ich bin ein Kind der Befreiung, einer militärischen Invasion, die Europa befreite und meinen Eltern ermöglichte, ein Kind zu zeugen, ein „Kind der Freiheit“.
Daher ist unser Gedächtnis, mein Gedächtnis, voll von Schreckensbildern. Auschwitz, der Gipfel des Schreckens, der anus mundi, in dem sich das Schrecklichste zeigte, wozu der Mensch fähig ist. Kolima, der anus mundi, der zeigte, was die barbarischste politische Ideologie anrichten kann. Oradour-sur-Glane, das zeigte, was eine militärische Besetzung hervorbringen kann. Katyn, das zeigte, dass Befreiung und Zerstörung gleichzeitig erfolgen können. Die gesamte polnische Elite wurde von der Roten Armee massakriert, um zu verhindern, dass das polnische Volk sich eint und einen unabhängigen Staat gründet. Wir haben dann weitere unvergleichbare Massaker begangen, die allerdings vergleichbar tödlich und grausam waren. Es hat die Massaker der Kolonialkriege gegeben, es hat auf den Tag genau vor zehn Jahren Srebrenica gegeben.
Aufgrund dieser Massaker haben Männer und Frauen, die nicht meiner Partei angehören, doch deren Größe ich anerkenne, weil sie es vermochten, dieses Europa aufzubauen, sei es De Gaulle oder Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl, François Mitterand, etwas Außergewöhnliches vollbracht. Und wir, die wir nach 1945 geboren wurden, sind die Kinder Europas, aber auch die Kinder des Antitotalitarismus. Dieses Europa ist geschaffen worden, um das Wiedererstehen des Totalitarismus, ob des linken oder des rechten, für immer auszuschließen. Um ein Lied zu zitieren, das einigen bekannt ist: Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun, kein Kommunismus und auch kein Neoliberalismus. Es gibt keine Ideologie zur Befreiung der Menschen. Es gibt nur ein kleines anfälliges Etwas, über das viele spotten und das ganz einfach „Demokratie“ heißt.
Liebe Freunde und Freundinnen, meine Damen und Herren! Es ist immer leicht bzw. schwer, als Deutscher über das Thema „60 nach dem Jahre Krieg“ zu sprechen. Aber Deutschland hat Beides gekannt: den Nationalsozialismus – diese Barbarei – und den kommunistischen Totalitarismus. So ist Deutschland auch Symbol für Europa, und wenn wir heute als Generation eine Verpflichtung haben, dann ist es die Verpflichtung zur Wahrheit. Es geht mir nicht darum, hier zu beschreiben, was die politischen Aufgaben Europas sind. Das können wir tagtäglich machen. Es geht mir nur darum, diese antitotalitäre Verpflichtung ernst zu nehmen. Wenn wir sie wirklich wahrnehmen, dann dürfen und können wir nicht im Namen irgendeines politischen Realismus von den Menschenrechten und der Achtung der Menschen absehen.
(Beifall)
Wir müssen mit Russland reden, aber wir müssen über Tschetschenien reden. Wir müssen über die Verbrechen reden. Wir müssen mit China reden, aber wir müssen über die Unterdrückung der Menschen in China reden. Wir dürfen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: Dann heben wir eben das Embargo auf. Dann gibt es eben ein paar Waffen. Dann werden eben ein paar Transrapid verkauft. Das dürfen wir nicht im Namen der europäischen Geschichte!
(Beifall)
Weil wir zu dieser Wahrheit verpflichtet sind und weil wir an Europa glauben, müssen wir alle im Namen dessen, was Europa war und was es nie wieder werden darf, das Europa der Zukunft gestalten und organisieren.
Ich bin in diesen Tagen stolz als einer von denjenigen, die die europäische Geschichte so im Kopf haben, für eine Verfassung zu kämpfen, die das Erbe des antitotalitären Europa verkörpert. Ich bin überzeugt, dass wir gewinnen werden. Diese Verfassung wird in Europa Realität werden. Daran glaube ich, und das ist eine Verpflichtung, die wir unseren Kindern gegenüber haben als Erbe dessen, was uns von unseren Eltern in den Schoß gelegt wurde.
(Beifall)
Francis Wurtz, im Namen der GUE/NGL-Fraktion. – (FR) Herr Präsident, die wunderbare Rede von Herrn Juncker und bestimmte Passagen der folgenden Redebeiträge kontrastieren stark mit dem so enttäuschenden und Besorgnis erregenden Inhalt des Entschließungsentwurfs, der uns im Namen der meisten Fraktionen zum 60. Jahrestag der Nazikapitulation vorgelegt wurde. Ich bin überzeugt, dass in den meisten der in unserem Parlament vertretenen politischen Familien Männer und Frauen Unbehagen angesichts dieses Textes verspüren, der nicht weit von einer Revision der Geschichte entfernt ist.
Wenn eine Institution wie die unsere an jenes Gründungsereignis Europas und der heutigen Welt, des Sieges aller Alliierten – der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion, der Antihitlerkoalition - erinnert, dann zählt jedes Wort. Man kann wetten, dass viele erwarten, in einer solchen Erklärung Sätze zu finden wie „Der 8. Mai 1945 ist ein Tag der Befreiung für Europa“. Warum nicht, denn das ist die Wahrheit; es ist ein Tag, zu dem die Sowjetarmee entscheidend beigetragen hat.
Ohne die stalinistische Unterdrückung verschweigen zu wollen, hätten viele Europäer angesichts der verschiedenen Manifestationen von Nostalgikern des III. Reiches sicherlich auch gewünscht, von uns zu hören, dass eine Entschuldigung der Naziverbrechen durch einen Verweis auf die stalinistischen Verbrechen intellektuell und moralisch inakzeptabel ist, oder auch dass in dem Krieg der Erinnerungen, der gegenwärtig zwischen den baltischen Republiken und Russland herrscht, die Schuld Nazideutschlands an der Tragödie der baltischen Staaten nicht ausgeblendet werden darf.
Ich möchte hinzufügen, meine Damen und Herren, dass alle Formulierungen, die ich soeben anführte, aus einem Artikel stammen, der vorgestern in der französischen Tageszeitung Le Figaro unter dem Namen Michael Mertes, einem ehemaligen Berater von Altbundeskanzler Helmut Kohl, erschienen ist. Es handelt sich um Ihre politische Familie, werte Kollegen von der EVP! Gott sei Dank, so schlussfolgerte der Verfasser, haben wir diesen Krieg verloren, wobei er einen Satz anfügte, über den nachzudenken ich Ihnen empfehle: Die Art, in der wir die Vergangenheit betrachten, sagt mehr über unsere gegenwärtigen Einstellungen als über die Vergangenheit selbst aus.
Wie sollen die Bürger zu einem Zeitpunkt, da die Europäische Union sie zu einem Verfassungsentwurf konsultiert, eine Auffassung des erweiterten Europas interpretieren, die beginnt, den Grundpfeiler der am 8. Mai 1945 entstandenen Sicht auf Europa und die Welt in Frage zu stellen, nämlich dass der Nazismus keine Diktatur oder Tyrannei unter anderen war, sondern vielmehr ein vollständiger Bruch mit der gesamten Zivilisation?
Wir unserseits sind bereit zu einer Debatte ohne Tabus über die Verbrechen des Stalinismus wie den unseligen Hitler-Stalin-Pakt oder die Geschichte der baltischen Länder. Doch nichts, absolut nichts rechtfertigt eine Banalisierung des Nazismus, dessen erklärtes Ziel – wie man wohl nicht zu wiederholen braucht – es war, die Untermenschen auszurotten und durch den totalen Krieg den Lebensraum der höheren Rasse zu erweitern. Daher hätten wir vom Europäischen Parlament einen Text zum 8. Mai mit einer ganz anderen Sichtweise erwarten können. Und sicherlich wäre es auch nicht überflüssig gewesen, zu diesem Anlass die anonymen Kämpfer zu würdigen, die, nur weil sie als Männer und Frauen aufrecht leben und handeln wollten, sich der Widerstandsbewegung anschlossen und so ihr Leben riskierten, das viele im Kampf für unsere Freiheit geopfert haben. Ebenfalls wäre ein Wort, ein einziges Wort, zu dem Schrecken von Hiroshima und Nagasaki und den Zehntausenden Opfern in einem besiegten Land nicht überflüssig gewesen.
Das Europäische Parlament hat diesmal wirklich verfehlt, sich auf der Höhe der Geschichte zu erweisen. Daher lehnt es meine Fraktion einmütig ab, diese Entschließung zu unterstützen, die weit von der Vorstellung entfernt ist, die wir uns von einem Europa der Fünfundzwanzig, der Siebenundzwanzig oder Dreißig machen.
Ich überlasse das Schlusswort einem führenden europäischen Politiker, der vor zwanzig Jahren die richtigen Worte fand, um über den 8. Mai 1945 zu sprechen, und zwar in einem Land, in dem es am schwersten war, sie offen auszusprechen. Ich meine den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, den ich mir gestatte, zu zitieren.
„Wir haben die Kraft, der Wahrheit – so gut wir es können – ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. [...]
[Es] wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
(Beifall)
Maciej Marian Giertych, im Namen der IND/DEM-Fraktion. –(PL) Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Zweite Weltkrieg begann im September 1939, als mein Heimatland Polen von Deutschland und der Sowjetunion überfallen und besetzt wurde. Diese Teilung Polens war das Ergebnis des Molotow-Ribbentrop-Pakts, der eine Woche zuvor in Moskau unterzeichnet worden war. Polen wurde nicht von den Kampftrupps der Nazis oder der Kommunistischen Partei erobert, sondern von den regulären Streitkräften seiner Nachbarn – d. h. von der deutschen Wehrmacht, Luftwaffe und Kriegsmarine sowie von der Roten Armee. Es sei hinzugefügt, dass zu jener Zeit die Nationalsozialistische Partei mit Hitler als Reichskanzler an der Spitze in Deutschland an der Macht war, und zwar aufgrund einer demokratischen Entscheidung der deutschen Wähler. Stalin und die Kommunistische Partei, die durch die Revolution an die Macht gekommen waren, regierten in Russland.
Wir begehen gerade den 60. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945, die das Ende des Unrechts symbolisiert, das Nazideutschland den besetzten Ländern zugefügt hat. Das Unrecht, das mit der Invasion der Sowjetunion in Polen im Jahr 1939 begann, war damit aber noch nicht zu Ende. Zwar gewannen wir den Krieg gegen Deutschland, doch verloren wir den Krieg gegen Russland. Uns wurden eine fremde Macht, ein fremdes Wirtschaftssystem und eine fremde Ideologie aufgezwungen.
Wir haben im Zweiten Weltkrieg an allen Fronten gekämpft, und zwar vom ersten bis zum letzten Schuss. Seit 1941 gehörte auch die Sowjetunion zu unseren Verbündeten im Krieg gegen Deutschland. Wir erkennen den Beitrag Russlands zum Sieg über Hitlerdeutschland und den damit verbundenen großen Verlust an Menschenleben an, den das Land erlitten hat. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Russland Polen gegenüber wie ein Eroberer aufgetreten ist. Mehr noch – unsere westlichen Verbündeten im Krieg gegen Deutschland waren auch die Verbündeten der Sowjetunion, und sie gaben in Jalta ihre Zustimmung zu unserer Versklavung. Wir mussten uns Schritt für Schritt selbst befreien, indem wir zunächst die Kollektivierung der Landwirtschaft rückgängig machten, dann die Kirche von den Fesseln befreiten, dann die Anerkennung kleiner Privatunternehmen erreichten und schließlich das Recht auf Gründung von Gewerkschaften wie auch die Redefreiheit und die politische Freiheit errangen.
Die einzige Hilfe, die wir dabei von der übrigen Welt erhielten, bestand in dem Wettrüsten, aus dem die USA vor allem durch den Erfolg von Reagans „Sternenkrieg“-Programm, das die Sowjetunion schwächte, letztendlich als Sieger hervorgingen. Die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa und die Existenz der NATO haben es ermöglicht, dass in den letzten 60 Jahren Frieden in Westeuropa herrschte. Nun kommen auch die Länder Mittel- und Osteuropas, die entweder Mitglied der NATO sind oder sich der Partnerschaft für den Frieden angeschlossen haben, in den Genuss dieser Vorteile. Uns alle eint der Wunsch nach Frieden und Freiheit und nach einer Zukunft, die unseren Vorstellungen entspricht.
Meine Generation, die den Zweiten Weltkrieg direkt erlebt hat, wird bald nicht mehr sein, und wir müssen sicherstellen, dass die künftigen Generationen die Wahrheit über diesen Krieg erfahren. Wir Polen empfinden es als sehr schmerzlich, dass so viele westliche Medien noch immer verletzende Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager“ oder gar „polnische Gaskammern und Krematorien“ verwenden, wie der britische „Guardian“ sich erdreistete. Einige dieser Todesfabriken befanden sich zwar auf polnischem Territorium, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass es deutsche und nicht polnische Einrichtungen waren. Nicht alle Deutschen sind für diese Dinge verantwortlich, und wir erkennen es an, dass das deutsche Volk sich von seinem schmachvollen Erbe der Nazizeit distanziert hat, aber wir wollen sicherstellen, dass Polen nicht von künftigen Generationen mit den Nazi-Verbrechen in Verbindung gebracht wird, da Polen nicht dafür verantwortlich war.
Auch das russische Volk ist nicht für die Verbrechen verantwortlich, die während der Stalin-Zeit begangen wurden, d. h. für die Deportationen, die Gulags, den Völkermord in Katyn und die Unterjochung Mittel- und Osteuropas. Verantwortlich für diese Verbrechen waren die kommunistischen Führer des Sowjetstaates, und die Russen selbst wurden ebenfalls versklavt. Wir wollen uns mit dem russischen Volk und dem russischen Staat aussöhnen, erwarten aber von ihnen, dass sie sich unmissverständlich von ihrem kommunistischen Erbe distanzieren. Die derzeitigen Staatsoberhäupter Deutschlands und Russlands, der Länder also, die den Zweiten Weltkrieg begannen, haben jedoch in ihrem gemeinsamen Interview für die deutsche „Bild-Zeitung“ versucht, ihre gegenseitigen Beziehungen und ihre eigenen Verluste in den Mittelpunkt zu stellen und damit von anderen Fragen abzulenken.
Heute wollen wir gutnachbarliche Beziehungen sowohl zu Deutschland als auch zu Russland aufbauen. Bereits im Jahr 1961 haben die polnischen Bischöfe den deutschen Bischöfen ein berühmtes Schreiben gesandt, in dem es unter anderem hieß: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Das ist auch unsere Einstellung in unseren heutigen Beziehungen zu Russland, doch Vergebung und Aussöhnung bedeuten nicht, dass wir vergessen sollten. Deshalb wollen wir, dass Völkermord, die Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes, Aggression und Krieg sich nie wiederholen.
Wojciech Roszkowski, im Namen der UEN-Fraktion. –(PL) Herr Präsident! Die einzelnen Völker haben den Zweiten Weltkrieg sehr unterschiedlich erlebt, und deshalb ist unsere heutige Debatte vielleicht die wichtigste Debatte über die europäische Identität, die wir seit Jahren geführt haben. Wenn aus uns wirklich eine europäische geistige Gemeinschaft werden soll, müssen wir uns alle um ein umfassendes Verständnis der geschichtlichen Erfahrungen der Völker Europas bemühen. Wir müssen deshalb ganz offen über bestimmte Dinge sprechen.
Die Entschließung zum 60. Jahrestag des Kriegsendes ist das Ergebnis eines schwer erkämpften Kompromisses und insgesamt eine präzise Darstellung der Folgen des Krieges. Was jedoch fehlt, ist ein Verweis auf den Zusammenhang zwischen dem Beginn und dem Ende des Krieges oder auf die derzeit in Russland propagierten Ansichten zu diesem Krieg. München und die Teilung der Tschechoslowakei waren die ersten Aggressionsakte Hitlers, doch lässt sich nicht leugnen, dass der Molotow-Ribbentrop-Pakt die eigentliche Aufforderung zum Krieg war. Im September 1939 war es Polen, das der Kooperation zwischen dem Dritten Reich und der UdSSR zum Opfer fiel, dann folgten die Überfälle Deutschlands auf Norwegen, Dänemark, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Jugoslawien und Griechenland sowie die sowjetische Invasion in Finnland, Litauen, Lettland und Estland. Stalin schloss sich den Alliierten in ihrem Kampf gegen Deutschland nicht aus freien Stücken an. Vielmehr verweigerte er Frankreich und Großbritannien die Zusammenarbeit. Erst nachdem Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, sicherte er sich die Unterstützung der Briten und der Amerikaner, indem er einer neuen Koalition beitrat, die das Dritte Reich schließlich besiegte.
Obwohl die Rote Armee die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte, gab es keinerlei Veränderungen im Sowjetsystem. Der Archipel Gulag wurde immer weiter ausgebaut, und die Zahl der Menschenleben, die er forderte, ist der der Sowjetbürger vergleichbar, die im Krieg gefallen sind. Die Kooperation der Großen Drei gründete sich folglich auf die reine Illusion gemeinsamer Werte und konnte deshalb nach Kriegsende nicht aufrechterhalten werden. Kurz vor seinem Tod räumte Roosevelt ein, dass Amerika mit Stalin keine Geschäfte machen konnte, weil er jede seiner Zusagen brach. Dieses Eingeständnis kam jedoch zu spät. Europa war geteilt, und Osteuropa hatte man dem stalinistischen Totalitarismus in die Arme getrieben. Zu den betroffenen Ländern gehörte auch Polen, das Hitler als erstes Widerstand leistete, auch zu der Zeit, als Stalin dessen Verbündeter war. Die polnischen Streitkräfte stellten ein Viertel der alliierten Truppen, und das Land hatte relativ gesehen die größten Verluste an Menschenleben während des Kriegs zu beklagen.
Bedauerlicherweise will Russland heute die zweideutige Rolle der UdSSR nicht anerkennen. Präsident Putin greift auf die Stalinsche Interpretation des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen zurück und bezeichnet den Molotow-Ribbentrop-Pakt als einen normalen internationalen Vertrag. Russland hat offiziell dementiert, dass Stalin Polen im Jahr 1939 angriff, dass in Katyn ein Völkermord verübt wurde und dass die UdSSR die baltischen Staaten besetzten. Es behauptet sogar, die Jalta-Konferenz hätte Polen die Demokratie gebracht.
Wie Viktor Jerofejew, ein bekannter russischer Schriftsteller, kürzlich schrieb, mache das aufgeklärte Russland keinen Unterschied zwischen dem Totalitarismus Stalins und dem Hitlerregime. Wenn Russland wirklich so aufgeklärt ist, dann haben wir allen Grund zu hoffen, dass es zu einer Aussöhnung mit Europa kommen wird. Jedes Anzeichen einer Rehabilitierung Stalins sollte uns allen jedoch als Warnung dienen.
Warum ist das gerade jetzt so wichtig? Wie Präsident Putin sagte, könnte die Aussöhnung zwischen Russland und Deutschland für Europa beispielgebend sein. Es ist nur leider so, dass jede Aussöhnung auf der Grundlage einer stalinistischen Geschichtsinterpretation die Alarmglocken läuten lässt, und in Warschau, Vilnius, Riga und Tallinn läuten sie besonders laut.
Das polnische Volk und die anderen Völker Mitteleuropas glauben, dass Frieden und Aussöhnung in Europa nicht erreicht werden können, wenn die zwischen Deutschland und Russland liegenden Nationen auf diese Weise ausgeschlossen werden. Das Hohe Haus muss verstehen, dass die Menschen in Polen und in Mitteleuropa sich sehr unwohl fühlen, wenn die Supermächte Westeuropas und Russland sich über unseren Köpfen die Hand schütteln.
VORSITZ: Mario Mauro Vizepräsident
Philip Claeys (NI).–(NL) Herr Präsident! Dass man in diesen Tagen des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren gedenkt, ist überaus wichtig. Ferner ist es richtig, aus diesem Anlass erneut hervorzuheben, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind und aktiv verteidigt werden müssen. Die Gräuel des Nationalsozialismus sind ein dunkles Kapitel in der Geschichte Europas, und meine Vorredner haben zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Feststellung wenig oder nichts hinzuzufügen ist.
Bedauerlicherweise wird allerdings der historischen Tatsache, dass vor 60 Jahren auch offiziell grünes Licht dafür gegeben wurde, die osteuropäischen Völker der sowjetischen Besatzungsmacht, den diktatorischen kommunistischen Regimen auszuliefern, die den Nazis an Schrecken und Verbrechen gewiss nicht nachstanden, von Westeuropa nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Rote Armee stand bereits 1944 vor Warschau und wartete lediglich, bis die Nazis den Aufstand niedergeschlagen hatten. Vor sechzig Jahren wurde überall im Westen ein Josef Stalin gepriesen und geehrt, ein Tyrann, der zu jener Zeit bereits Millionen von Menschenleben auf dem Gewissen hatte und dem, mit stillschweigender Duldung des befreiten Westens, noch viele weitere Millionen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands durch Ermordung zum Opfer fallen sollten.
In der Tat ist es höchste Zeit, dass nach Deutschland auch Russland mit der eigenen Vergangenheit ins Reine kommt. Nach offizieller Lesart sind Länder wie Estland, Lettland und Litauen durch die Rote Armee befreit worden. Vaira Vike-Freiberga, Lettlands Präsidentin, wies darauf hin, dass das Jahr 1945 den baltischen Staaten keine Befreiung brachte, sondern für sie eher das Gegenteil bedeutete. Ich zitiere: „Es bedeutete Sklaverei, es bedeutete Besetzung, es bedeutete Unterwerfung, und es bedeutete stalinistischen Terror“.
Die vor wenigen Tagen in Moskau versammelten europäischen Staats- und Regierungschefs machten sich kaum die Mühe, diese Tatsachen anzusprechen, und was für die Westeuropäer vor 60 Jahren Befreiung bedeutete, war für Osteuropa der Beginn eines neuen Martyriums, mit dem Unterschied, dass die neuen Diktaturen auf die aktive Unterstützung und Sympathie so vieler westeuropäischer Politiker, Medien, Intellektueller und zahlreicher Anderer – von denen übrigens einige offenbar auf den Lohnlisten der sowjetischen Geheimdienste standen – zählen konnten. Vielleicht ist es heute, 60 Jahre danach, angezeigt, sich einmal mit diesem Thema auseinander zu setzen. Möglicherweise wird Europa die Vergangenheitsbewältigung erst dann vollkommen gelingen, wenn eine Art Nürnberger Prozess gegen den Kommunismus geführt wird, nicht um alte Wunden aufzureißen, sondern um - mit Blick auf die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder - die Fakten nie zu vergessen.
Ich bin schockiert, wenn ein Mitglied der Europäischen Kommission auf seiner Website auch Fotos zeigt, auf denen er seine Bewunderung für jemanden wie Fidel Castro manifestiert. Ich bin schockiert, wenn Intellektuelle und verantwortliche Politiker das Aufkeimen des islamischen Extremismus weiterhin leugnen bzw. bagatellisieren. Jean-François Revel hat bereits von la tentation totalitaire – der totalitären Versuchung – gesprochen. Wenn aus den Schrecken des Zweiten Weltkriegs eine Lehre zu ziehen ist, dann die, dass der Totalitarismus, wo auch immer er in Erscheinung treten mag, nicht noch eine Chance erhalten darf.
Szájer, József (PPE-DE). – (HU)„Die Schlacht, der Alten ruhelose Klinge, wird stiller, seit Erinnerung sie auffing. Ordnen wir doch nun endlich unsre Dinge. So unser Auftrag. Er ist nicht gering.“ Der vor einhundert Jahren geborene große ungarische Dichter Attila József erinnert uns daran, dass wir, die europäischen Nationen, die wir viele Kriege gegeneinander geführt haben, viele gemeinsame Dinge ordnen müssen.
In seinem an Vytautas Landsbergis und mich gerichteten Schreiben hat Herr Frattini kürzlich geschrieben, dass Ihre Geschichte auch unsere Geschichte ist. Wenn wir jetzt das Ende des Weltkrieges in Europa feiern, dann dürfen wir nicht vergessen, dass das Kriegsende für jede der europäischen Nationen etwas anderes mit sich brachte. Im Fall der glücklicheren Nationen hieß das vor 60 Jahren das Ende eines langen Leidensweges und unermesslicher Zerstörung. Wir neigen unser Haupt vor all jenen, die ein Opfer für den Frieden gebracht haben. Die andere Hälfte Europas erwartete jedoch eine andere schlimme Diktatur, die nicht weniger Leid und Zerstörung mit sich brachte. Auf Nacht folgte Nacht ohne Tageslicht, auf Besatzung neue Besatzung ohne Unabhängigkeit, auf unmenschliche Diktatur unmenschliche Diktatur ohne Freiheit.
Unter uns befindet sich – sie sitzt hinter mir – die slowakische Abgeordnete Zita Pleštinská, deren ungarischer Vater, István Kányai, erst von Nazis und Faschisten gleichermaßen gejagt wurde und später dann neun Jahre in der Hölle sowjetischer Konzentrationslager erdulden musste. Wer einen unschuldigen Gefangenen aus dem einen Gefängnis befreit und in ein anderes sperrt, ist ein Gefängniswärter und kein Befreier. Und der Gefangene wird ihn nicht als jemanden sehen, der ihm die Freiheit gewährt hat, sondern als jemanden, der sie ihm genommen hat. Für viele europäische Nationen kam die so heiß ersehnte Freiheit 50 Jahre nach dem 8. Mai 1945. Und der letzte Schritt wurde am 1. Mail 2004 getan und bedeutete das Ende der Weltordnung von Jalta. Eigentlich endete der Zweite Weltkrieg am 1. Mail 2004. Daher wäre es angebrachter, das Ende des Krieges hier zu feiern, in der Hauptstadt des wiedervereinigten Europas, und nicht in Moskau.
Die Völker Europas blickten auf zwei Seiten derselben Mauer: Der Stacheldraht trennte uns länger als ein halbes Jahrhundert. Wir ertrugen das Unerträgliche, das System, das von der sowjetischen Roten Armee errichtet wurde, die nach der Befreiung blieb, den Völkermord, die Säuberungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Klasse und der ethnischen Herkunft, das Morden, das Foltern, die Deportation und Entrechtung unschuldiger Menschen, Verbrechen, begangen im Namen der fortschrittlichen sozialistischen Idee. Das System, das den mitteleuropäischen Nationen vom sowjetischen Kommunismus aufgezwungen wurde, war eine direkte Folge des Plans, über den Stalin am 19. August 1939 vor dem Politbüro sprach, als er den Molotow-Ribbentrop Pakt erläuterte. Ich zitiere: „Die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass in Friedenszeiten die kommunistische Bewegung keine Chance hat, mit der bolschewistischen Partei die Macht zu erobern. Eine Diktatur dieser Partei ist nur vorstellbar im Resultat eines großen Krieges.“
Viele Male erhoben sich unsere Nationen gegen eine solche Diktatur der bolschewistischen Parteien: 1956 in Berlin, im Oktober 1956 in Ungarn und Poznań, 1968 in der Tschechoslowakei und 1980 in Polen. Der Westen begrüßte unsere Revolutionen, sympathisierte mit uns und nahm es dann doch hin, als die Sowjetunion diese Bekundungen des Wunsches nach Freiheit unterdrückte und blutig niederschlug. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Geschichte ist auch Ihre Geschichte. Dennoch vermissen wir als die Nationen, die vor einem Jahrzehnt von der sowjetischen Besatzung befreit wurden, Anteilnahme, wenn es um unsere jüngste Geschichte geht. Nach dem Krieg hat sich Westeuropa stolz aufgerichtet und in Frieden zu gedeihen begonnen. Obwohl es nicht unser Verschulden war, blieben wir von diesem Prozess ausgeschlossen. Dadurch entstand die jetzige Situation, das heißt es gibt auf der glücklicheren Seite Europas und selbst hier im Parlament Menschen, die für sich Kapital daraus schlagen wollen und daher in ihrer eigenen Bevölkerung Ängste vor billigen Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedstaaten schüren, vor Menschen, deren Land wegen des ihm aufgezwungenen, untauglichen sozialistischen Wirtschaftssystems in eine wirtschaftliche Krise geriet.
Viele in Westeuropa verstehen auch nicht, warum der rote Stern mit den fünf Zacken, genauso wie das Hakenkreuz, zum Symbol für Hass und Unterdrückung geworden ist. Unsere Geschichte ist auch Ihre Geschichte. Vor 60 Jahren wurde die Macht der Nazis von den europäischen Nationen gemeinsam gebrochen. Die diskreditierte politische Klasse verschwand. Es gibt keine Plätze, die nach Hitler benannt sind, und keine Standbilder, die zum Gedenken an die Nazi-Mörder errichtet wurden. Ein halbes Jahrhundert später brachen auch die Sowjetunion und das kommunistische Regime zusammen. Ähnlich erlitt auch der jugoslawische Kommunismus, der ohne sowjetische Besatzung seinen eigenen Weg ging, eine schändliche Niederlage. Bei den Nachfolgern des gefallenen kommunistischen Regimes handelt es sich um wortgewandte Geschäftsleute, die Respekt fordern, sozusagen um verantwortungsbewusste Politiker. In Russland sind die Stalin-Statuen wieder aufgestellt worden, und die sowjetische Besatzung wird heute wieder als Befreiung bezeichnet. Offenbar wollten sie immer weniger über die Grausamkeiten der kommunistischen Diktatur hören.
Liebes Parlament, wir dürfen nicht mit zweierlei Maß messen. Auschwitz, das Massaker im Wald von Katyn, die Besetzung der baltischen Staaten durch die Nazis und zweimal durch die Sowjets, die ungerechten Diktaturen, die zur Aufteilung Europas in Interessensphären führten, die mithilfe von Gewalt und Pakten gezogenen Grenzen, die Deportierung ganzer Völker, das Ermorden, Foltern und Verstümmeln von Menschen, die jeder Rechtsgrundlage entbehrenden Bevölkerungsaustausche, die Mauern, die Nationen trennten, die Menschen- und Minderheitenrechte, die mit Füßen getreten wurden – bei all dem handelt es sich um schwerwiegendes Unrecht, unabhängig davon, wer es begangen hat.
Sechzig Jahre nach dem militärischen Kriegsende ist es an der Zeit, sich diesen Problemen zu stellen. Dem gewaltigen Opfer der sowjetischen Armee gebühren Achtung und Ehrerbietung. Die Besatzungsarmee verdient jedoch unseren Respekt nicht; sie zwang einem Teil der europäischen Nationen ihre auf Unterdrückung beruhende Diktatur auf. Solange wir außerstande sind, eine Gräueltat als Gräueltat zu bezeichnen, Mord als Mord zu verurteilen, solange wir eine Sünde gegen die andere aufrechnen, wird der Krieg in unseren Köpfen weiter wüten, und die Wunden werden nicht heilen. Jesus sagt, dass uns die Wahrheit frei macht. Die Wiedervereinigung Europas eröffnet die Chance auf einen Neuanfang. Wir, die ehemaligen Gewinner und Verlierer, Unterdrücker und Unterdrückten können ein gemeinsames demokratisches Europa mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und auf glücklichere Generationen aufbauen, das auf der Tugend der Menschenwürde beruht, die in der christlichen Tradition verwurzelt ist. Hören wir auf Attila József, hören wir auf den Dichter und bringen Ordnung in unsere gemeinsamen Dinge!
Józef Pinior (PSE).–(PL) Meine Damen und Herren! Heute gedenkt das Hohe Haus des 60. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, des schrecklichsten Krieges in der Geschichte. Er forderte Millionen Menschenleben und führte zur Vernichtung der Juden, und er ließ Europa in Barbarei, wirtschaftliche Verwüstung und moralischen Verfall versinken. Wir sollten uns in Erinnerung an diese Zeit verneigen und der Opfer dieses Krieges gedenken.
Meine Damen und Herren, auch wenn es in unserer kollektiven Erinnerung bestimmte entscheidende Momente gibt, die es uns ermöglichen, gemeinsam eine politische Gemeinschaft aufzubauen, erinnert sich doch jedes Volk in Europa auf ganz eigene Weise an das 20. Jahrhundert. Das liegt an den unterschiedlichen geschichtlichen und politischen Ereignissen, die unsere Staaten und unsere Völker erlebt haben. Was uns jedoch eint, ist das Gedenken an die Opfer des Krieges und den Kampf für Frieden und Demokratie. Die Erinnerung daran bildet die Grundlage für unsere gemeinsame europäische Identität. Heute gedenken wir der Opfer des Naziterrors in den vom Dritten Reich okkupierten Ländern. Wir ehren auch die Opfer des Holocaust, also des Völkermords, der im Zweiten Weltkrieg in Europa an den Juden begangen wurde, ein Verbrechen, das in der Geschichte der Menschheit keine Parallelen kennt. Wir gedenken des Sieges der alliierten Staaten über das Dritte Reich, insbesondere aber der Rolle, die die Vereinigten Staaten von Amerika bei der Befreiung Europas gespielt haben. Wir ehren das Andenken aller Soldaten, die ihr Leben gaben, um die Welt von der Naziherrschaft zu befreien, und auch der 14 Millionen Soldaten, die in der Roten Armee gekämpft haben. Wir gedenken der Verluste, die alle Seiten im Zweiten Weltkrieg erlitten haben, wie auch der Menschen, die Stalin während des Krieges zum Opfer gefallen sind. Für Letztere steht das Massaker an etwa 22 000 Polen und Kriegsgefangenen in Katyn sowie in anderen Lagern und Gefängnissen der Sowjetunion im Frühjahr 1940 als Symbol. Wir erweisen all jenen Ehrerbietung, die für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gekämpft haben, insbesondere aber den Angehörigen der Widerstandsbewegung, die in den einzelnen Ländern heldenhaft gegen Faschismus und Okkupation gekämpft haben. Die Ideale dieser Bewegung und die Bereitschaft ihrer Mitglieder, sich in einem ungleichen Kampf zu opfern, sind heute für uns das wahre Vermächtnis, etwas, worauf wir stolz sein können, und ein gutes Beispiel für die junge Generation in Europa.
Heute möchte ich an die Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto und an die Angehörigen der Jüdischen Kampforganisation erinnern, die am 19. April 1943 zu den Waffen griffen, um das jüdische Ghetto zu verteidigen, das die Besatzungsmächte in Warschau eingerichtet hatten. Auch wenn ihr Kampf, den sie mitten im Krieg und im Herzen eines von den Nazis beherrschten Europas führten, militärisch gesehen keine Aussicht auf Erfolg hatte, besaß er doch eine tiefere Bedeutung. Heute ist ihr Heldenmut für uns das machtvollste Zeugnis menschlichen Geistes, das es je gegeben hat, und eines der moralischen Fundamente des Europas, das wir aufgebaut haben. Wir kämpfen – wie es im Aufruf der Jüdischen Kampforganisation hieß – für eure und unsere Freiheit, für eure und unsere menschliche, soziale und nationale Ehre und Würde.
Meine Damen und Herren, wie wir uns erinnern, brachte das Ende des Krieges nicht allen Völkern Europas wirkliche Befreiung, Unabhängigkeit und Demokratie. Für Mittel- und Osteuropa und die baltischen Staaten bedeutete das Kriegsende neue Formen der Unterdrückung sowie das Fehlen von Souveränität und Demokratie. Es bedeutete auch die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte unter dem totalitären Status quo, der diesem Teil Europas von der Sowjetunion aufgezwungen wurde, den Verlust der Unabhängigkeit für Estland, Litauen und Lettland und ihre Eingliederung in die Sowjetunion. Im 20. Jahrhundert stellten sich die Sozialisten, die Sozialdemokraten und die Demokratische Linke gegen jegliche Form der Diktatur und gegen alle nicht demokratische Regimes. Wir sind eine politische Bewegung, die stets auf Seiten der Demokratie und der Menschenrechte stand, ob in den baltischen Staaten, in Mittel- und Osteuropa oder in den südeuropäischen Ländern – Portugal, Spanien und Griechenland –, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg Diktatoren an die Macht kamen.
Meine Damen und Herren, ich spreche heute im Europäischen Parlament in Straßburg auf einem Boden, der die Narben von Kriegen und des Niedergangs Europas trägt. Unsere Vorfahren standen sich auf diesem Boden als Soldaten feindlich gegenüber. Wir versammeln uns heute als Bürger und Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die ein Europa repräsentieren, das sich im Vereinigungsprozess befindet. Seit den 1950er Jahren waren die europäische Integration und die Errichtung einer Europäischen Gemeinschaft unsere Antwort auf den Krieg. Die Konflikte zwischen den Völkern Europas wurden im Zuge des Aufbaus der europäischen Institutionen überwunden, und das ist auch heute noch so. Unsere heutige Europäische Union ist das Ergebnis dreier großer demokratischer Prozesse, nämlich der Niederlage des Faschismus im Krieg, des Sturzes der Diktaturen in Südeuropa Ende der 1970er Jahre und des Sieges der Demokratie in Mittel- und Osteuropa sowie in den baltischen Staaten.
In Europa wird eine internationale Ordnung auf der Grundlage von Frieden und Zusammenarbeit geschaffen, und es entsteht eine Gemeinschaft, die sich auf den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte gründet.
Die Völker, die die Europäische Union mit ihren nunmehr 25 Mitgliedstaaten bilden, haben die unterschiedlichsten geschichtlichen Erfahrungen gemacht. Mit der Ratifizierung der Verfassung für Europa können wir ein geeintes Europa errichten, das sich Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität auf der ganzen Welt zum Ziel gesetzt hat. Dieses Europa kann – um es mit den Worten in der Präambel zum Verfassungsvertrag zu sagen – zu einem Raum für die Hoffnung der Menschen werden. Wir haben gemeinsam einen langen Weg zurückgelegt, von einem Europa, in dem der Krieg wütete, einem Europa mit totalitären Regimes und menschlichem Leid bis hin zu einem demokratischen Europa, in dem freie Völker im Rahmen der EU gemeinsam die europäische Zukunft gestalten.
Jan Jerzy Kułakowski (ALDE).–(PL) Herr Präsident, meine Damen und Herren! 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hängt Europas Zukunft weitgehend von der Erfüllung zweier Grundvoraussetzungen ab. Die erste besteht darin, dass die Geschichte der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs allgemein anerkannt wird, die zweite darin, dass wir auf der Grundlage dieser Geschichte eine gemeinsame Vorstellung von der europäischen Integration entwickeln.
Die Art und Weise, wie Menschen Geschichte erinnern; kann unterschiedlich sein, je nachdem, ob das Ende des Krieges ihnen wirkliche Freiheit gebracht hat. In der Erinnerung des polnischen Volkes gibt es einige entscheidende Daten, die der tragischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs ihren Stempel aufgedrückt haben. Das ist zum einen der 1. September 1939, an dem Hitler Polen überfiel. Dieses Datum markiert den Beginn der schrecklichen Zeit der Okkupation, der Unterdrückung und der Konzentrationslager, als die Besetzer ihr Bestes taten, um die polnische Nation und das polnische Volk auszulöschen. Dies war aber auch eine Zeit, in der Staat und Bevölkerung im Untergrund heldenhaften Widerstand leisteten. Zum anderen ist das der 17. September 1939. Obwohl dieses Datum in Westeuropa bedauerlicherweise weniger Beachtung findet, ist es für uns schmerzlich und von großer Bedeutung, denn an diesem Tag wurde Polen von der Sowjetunion angegriffen. Dieser Angriff erfolgte nach dem Abschluss des Molotow-Ribbentrop-Pakts zwischen Hitler und Stalin, der eine weitere Teilung Polens ermöglichte. Weitere Daten sind das Jahr 1943, als die Verbrechen von Katyn entdeckt wurden, wo Stalin 1940 Zehntausende von polnischen Offizieren und Beamten ermorden ließ, nur weil sie dem polnischen Staat dienten, sowie die Jahre 1943 und 1944, in denen es zwei heldenhafte Aufstände gab. Der erste war der Aufstand im Warschauer Ghetto, der mit einer blutigen Niederschlagung oder vielmehr mit der Vernichtung endete, und der zweite der Warschauer Aufstand, bei dem die sowjetischen Truppen vom rechten Weichselufer aus tatenlos zusahen. Und schließlich das Jahr 1945, in dem die Jalta-Konferenz stattfand, deren Ergebnis der Eiserne Vorhang war, der Europa 44 Jahre lang teilte und mein Heimatland Polen von der europäischen Demokratie und der europäischen Integration abschnitt. Soviel dazu, wie wir die Geschichte erinnern.
Im Zusammenhang mit der Frage einer gemeinsamen Vorstellung von der europäischen Integration möchte ich einen entscheidenden Punkt hervorheben. Was uns in Erinnerung bleibt, sind die Verbrechen, die von Systemen verübt wurden, und die Opfer, die diese Systeme gefordert haben. Diese Erinnerungen sollten und dürfen die Staaten und Völker aber unter keinen Umständen spalten. Das ist die Botschaft, die hinter der polnischen gesellschaftlichen Bewegung „Solidarność“ steht, von der die Befreiung Osteuropas ausging und die in diesem Jahr ihren 25. Jahrestag begeht. Diese Bewegung war die treibende Kraft bei der Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den beiden Teilen Europas, das durch die Beschlüsse von Jalta gespalten worden war. Unter Bezugnahme auf diese Bewegung möchte ich nachdrücklich hervorheben, dass die Solidarität das Leitprinzip unserer gemeinsamen Zukunft sein muss.
Abschließend möchte ich alle Abgeordneten auffordern, für diesen Entschließungsantrag zu stimmen.
Tatjana Ždanoka (Verts/ALE). – (EN) Herr Präsident! Ich bin der Meinung, dass die Achtung der Menschenrechte die Basis für ein friedliches und wohlhabendes Europa sein muss. Aus diesem Grund kann ich nicht für den Entschließungsantrag von Herrn Brok stimmen. Dieser Antrag enthält einige Aussagen, durch die eine Rechtsgrundlage für die Verletzung von Menschenrechten geschaffen würde und die zu großen Ungerechtigkeiten in meinem Heimatland, Lettland, sowie im Nachbarland Estland führen würden.
In dem Entschließungsantrag heißt es, dass die Länder Osteuropas jahrzehntelang unter sowjetischer Besatzung standen. Im Falle Lettlands und Estlands hätte eine solche Formulierung gefährliche Folgen für die gut eine halbe Million Bürger, die sich während dieser Jahrzehnte dort ansiedelten. Ich möchte Toomas Ilves aus Estland zitieren, der kürzlich in der „Baltic Times“erläuterte, welche Folgen eine solche Aussage hätte: „Wenn dies geschieht, wird der Minderheitenschutz in den baltischen Staaten sinnlos“. Außerdem wurde vor zwei Wochen vom lettischen Parlament die weitere Prüfung der Erklärung beschlossen, in der das Europäische Parlament aufgefordert wird, eine Ausnahmeregelung hinsichtlich der Verpflichtung zur Anerkennung ausländischer Bürger und ihrer Nachkommen zu treffen, die während der Besatzung nach Lettland umgesiedelt worden waren.
Mein Vater war Marineoffizier in der sowjetischen Armee. Er hat mit anderen gegen Hitlers Armee und seine Handlanger in Lettland, Arājs, Cukurs und andere gekämpft, die für die Ermordung von 80 000 lettischen Juden, darunter auch die Großeltern meines Vaters, verantwortlich waren. Außerdem wurde mein Vater nach den von Stalin erlassenen Befehlen aus der Armee geworfen, weil er Jude war. Ich werde unter gar keinen Umständen akzeptieren, dass mein Vater ein Besatzer war, und ich werde niemals meine Zustimmung dazu geben, dass meine Mutter, eine orthodoxe Russin, die 1950 von St. Petersburg nach Riga kam, das Land verlassen muss, wie dies der Entwurf der lettischen Erklärung vorsieht. Die Gesetzgeber in Lettland werden durch die Aussage in diesem Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments ermutigt, diese Erklärung schon sehr bald zu verabschieden. Ich möchte nicht, dass die baltischen Staaten zu einem zweiten Balkan werden. Wir als Abgeordnete tragen die volle Verantwortung für das, was wir sagen.
Giusto Catania (GUE/NGL).–(IT) Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der 8. Mai 1945 ist das Datum, das für das Ende des Zweiten Weltkrieges steht, aber auch das Datum, das das Ende der faschistischen und nazistischen Diktaturen in Europa besiegelte. An jenem Tag hat sich Europa vom Gespenst der autoritären Regime befreit, und dieser Tag markiert auch den Beginn eines nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit strebenden Europas.
Europa wurde durch den Widerstand von Männern und Frauen, von Partisanen, befreit, die das institutionelle und moralische Fundament dieses Europas errichtet haben. Europa wurde durch all jene befreit, die in Stalingrad gekämpft haben, durch die amerikanischen und kanadischen alliierten Truppen und auch durch die Sowjetarmee. Dieses Datum kann als der Grundstein betrachtet werden, auf dem das neue Europa aufgebaut wurde.
Bedauerlicherweise ist diese Seite der Geschichte allzu oft Zielscheibe revisionistischer Entstellungen und Angriffe, und auch diese Aussprache wird durch unverkennbare revisionistische Impulse beeinträchtigt. Man erweist dem Andenken an die Befreiung Europas einen schlechten Dienst, wenn man den 8. Mai 1945 und die Verbrechen des Stalinismus prinzipiell miteinander vermischt. Ich möchte diesbezüglich richtig verstanden werden: hinsichtlich der politischen Überzeugungen, der persönlichen Erfahrungen und der kulturellen Entwicklungen haben ich und meine Fraktion kein Problem damit, die Gräuel des Stalinismus auf das Schärfste zu verurteilen, doch in dieser Debatte wird versucht, klammheimlich die Theorien von Nolte wiederaufleben zu lassen, die den Nazismus mit dem Kommunismus und nicht nur mit dem Stalinismus gleichsetzen.
Richtig ist, dass die Werte des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit in diesem kurzen Jahrhundert nicht nur durch den Stalinismus, sondern auch durch den Kolonialismus, den Imperialismus und den Neoliberalismus untergraben wurden: von Algerien bis Vietnam, von der Bombardierung Belgrads zu den Massakern in Sabra und Shatila, bis hin zu den Ereignissen vom 11. September 1973 in Santiago de Chile.
Wir müssen der Geschichte zu ihrem Recht verhelfen: die Erinnerung an Vergangenes ist eine wichtige Fähigkeit, die uns hilft, die Zukunft zu meistern und für dieses Europa eine Perspektive zu schaffen. Es gibt nur einen Weg, Europa zu stärken: wir müssen das Wort „Krieg“ aus unserem Vokabular verbannen. Europa muss eine aktive Rolle beim Aufbau einer friedlichen Welt spielen, von Irak über Afghanistan bis hin zu Palästina. Kurz und gut, Europa muss mutiger und einflussreicher werden, wir müssen das berühmte lateinische Sprichwort umkehren und energisch bekräftigen si vis pacem para pacem, wenn du Frieden willst, schaffe Frieden. Das muss unsere Richtschnur sein.
Nigel Farage (IND/DEM).– (EN) Herr Präsident! Ich frage mich manchmal, welche Argumente eigentlich für die Europäische Union sprechen. Wirtschaftliche Argumente können es wohl nicht sein, denn wir leben nicht in einer Welt hoher Zölle und haben jetzt eine globale Wirtschaft. Die Demokratie kann auch kein Argument sein, weil dieses Parlament das einzige demokratische Element innerhalb der Europäischen Union ist und so gut wie gar nichts bewirken kann.
Wenn es jedoch ein Argument für die Europäische Union gäbe, das mich überzeugen könnte, so wäre es das Argument, dass die Europäische Union uns Frieden bringt und garantiert. Doch all das beruht auf einer Reihe falscher Annahmen. Es waren nicht die demokratischen Nationalstaaten, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg verursacht haben. Wenn Sie in der Geschichte zurückblicken, werden Sie feststellen, dass reife Demokratien nicht gegeneinander Krieg führen.
Außerdem ist es nicht zutreffend und sogar falsch zu behaupten, dass die EU in den letzten 50 Jahren den Frieden in Europa gesichert hat. Welchen Krieg hat die EU beendet? Wollte Portugal Mitte der 70er Jahre Krieg gegen Italien führen? Welchen Krieg soll die EU also beendet haben? Wenn es einen Garanten für den Frieden in den vergangenen 50 Jahren gibt, dann ist das ohne Zweifel die NATO, die ein vorbildliches Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen den Staaten ist.
Präsident Borrell spricht unablässig über die Wiedervereinigung Europas. Ich frage mich manchmal, wovon er überhaupt redet. Die entscheidende Frage lautet: Ist die EU ein Garant für den Frieden? Kann die Föderation den Frieden garantieren? In Jugoslawien oder der UdSSR ist das nicht der Fall gewesen und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo, wie Sie wissen, einer der erbittertsten und blutigsten Bürgerkriege in der Geschichte der Menschheit geführt wurde, hat das nicht funktioniert. Wenn wir den Völkern Europas dieses Projekt weiterhin auf der Grundlage einer Lüge verkaufen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir bittere Ressentiments und einen extremen Nationalismus hervorrufen und schüren. Wir müssen den Völkern Europas die Wahrheit über unsere Ziele sagen und ihnen freie und faire Volksabstimmungen ermöglichen, sonst steuern wir auf eine Katastrophe zu.
Ģirts Valdis Kristovskis (UEN). – (LV) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kann ich aus voller Überzeugung sagen, dass die Europäische Union das beste Modell für eine Zusammenarbeit zwischen Ländern ist, das es bisher auf dem alten Kontinent gegeben hat. In Europa ist der Dialog an die Stelle von Kriegen getreten, doch bis heute konnte noch keine Aussöhnung, kein tiefes Verständnis der geschichtlichen Wahrheit und keine Verflechtung der Interessen von Staaten und Politikern erreicht werden.
Ja, anlässlich dieses Jahrestages gedenken wir gemeinsam eines der größten Siege der Menschheit, des Sieges über die Nazi-Ideologie. Wir erinnern an die Opfer des Faschismus und verneigen uns im Gedenken an jene, die im Kampf für diesen Sieg gestorben sind. Ja, es ist ein Grund zur Freude, dass die Entschließung zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs vom gesamten politischen Spektrum des Europäischen Parlaments unterstützt wird und dass zum ersten Mal die Verbrechen der Nazi-Diktatur und der kommunistischen Regime gleichzeitig erwähnt und verurteilt werden. Meine Damen und Herren, in unserer gemeinsamen Erklärung heißt es unmissverständlich, dass es ohne historische Wahrheit keine Aussöhnung geben kann, dass nur ein starkes Europa Lösungen zur Überwindung des Erbes der Vergangenheit bieten kann, das die eigentliche Ursache für die Ungerechtigkeit und die 50 Jahre andauernde gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Schwächung der eingeschlossenen Länder war. Doch bedauerlicherweise ist unsere Erklärung nicht die ganze Wahrheit. Und auch was Jean-Claude Juncker gestern in Moskau gesagt hat, kann so nicht hingenommen werden. Er sagte, dass sich künftige Generationen mit der Lösung dieser Probleme befassen müssen. Das zeigt wieder einmal, dass nur die wirklich Mächtigen die Dinge beim Namen nennen. In Riga sagte George Bush vor einigen Tagen ganz unmissverständlich: „Das Abkommen von Jalta stand in der ungerechten Tradition des Münchener und des Molotow-Ribbentrop-Abkommens. Erneut fiel bei den Verhandlungen der mächtigen Regierungen die Freiheit kleiner Nationen unter den Tisch. Dieser Versuch, die Freiheit im Namen der Stabilität zu opfern, ließ einen gespaltenen und instabilen Kontinent zurück.“ Dass seine Aussage richtig ist, zeigt der fast 50 Jahre andauernde Kalte Krieg in Europa. Jeder im Europäischen Parlament weiß, dass die NATO, das Nordatlantische Bündnis, geschaffen wurde, um die Sicherheit Europas in einem Klima der Angst vor einer Invasion des totalitären, zynischen und aggressiven Sowjetregimes zu stärken. Das zeigt, dass der Westen nach dem Zweiten Weltkrieg kein Vertrauen in einen Verbündeten wie Stalin hatte. Stalins Schreckensherrschaft war unannehmbar, auch wenn man zuvor noch gemeinsam den Sieg über die Nazi-Ideologie gefeiert hatte.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die Zukunft Europas nachdenken, sollten wir das, was ich eben gesagt habe, nicht vergessen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind nun 60 Jahre vergangen und gemeinsam mit seinen Bündnispartnern gestaltet Europa seine Zukunft. Bedauerlicherweise leugnet Russland, das offiziell das Erbe der UdSSR angetreten hat, in seinen Erklärungen noch immer seine Einflussnahme auf die osteuropäischen Länder und die Besetzung meines Heimatlandes Lettland wie auch der Länder Litauen und Estland. Diese Leugnung der geschichtlichen Wahrheit, die ganz bewusste Billigung der Verbrechen des kommunistischen Regimes, ist demütigend. Damit wird denjenigen, die durch das Regime verfolgt wurden oder ihr Leben verloren haben, jede Achtung versagt, und doch geschieht dies auch heute wieder. Russland versucht, jede Gelegenheit zur weltweiten Manipulation der öffentlichen Meinung zu nutzen. Es erinnert die Öffentlichkeit immer wieder an das Problem der Bürger in Lettland, die nicht die lettische Staatsangehörigkeit besitzen, und bauscht dieses Problem auf. Gleichzeitig verletzt es weiterhin die Menschenrechte derjenigen, die durch das totalitäre Sowjetregime verfolgt wurden oder ihr Leben verloren haben, und ihrer nächsten Familienangehörigen, indem es leugnet, was man ihnen angetan hat. Eine solche Haltung trägt nicht gerade dazu bei, die Aussöhnung zwischen Russland und den inzwischen unabhängigen osteuropäischen und baltischen Staaten zu fördern. Im Namen der zukünftigen Stabilität Europas sind eine uneingeschränkte Verurteilung der Verbrechen des Kommunismus und eine Wiedergutmachung ihrer Folgen notwendig. Ich fordere Sie auf, für diese Entschließung zu stimmen!
Jana Bobošíková (NI). – (CS) Meine Damen und Herren, die Geschichte der Nationen, die zur EU gehören, ist keineswegs immer einfach gewesen. In der Vergangenheit haben diese Nationen Krieg gegeneinander geführt, sie haben einander betrogen und Gräueltaten gegeneinander verübt. Es waren Europäer, die sich die Theorie von der Überlegenheit der arischen Rasse, die Endlösung für andere Rassen und die Gaskammern ausgedacht haben. Und die anderen europäischen Länder haben all dem anfangs tatenlos zugesehen.
Ich muss leider sagen, dass noch immer kein Schlussstrich unter diese Zeit gezogen worden ist. Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es Mitglieder dieses Hauses, die Entschließungsanträgen, in denen der Holocaust verurteilt wird, ihre Zustimmung verweigern, die beharrlich das Leiden der Opfer des Zweiten Weltkriegs mit dem Leiden derer gleichsetzen, die diesen Krieg angezettelt haben, und die die Vergangenheit verdrehen und nicht angemessen zwischen den Ursachen und den Auswirkungen dieses schrecklichsten Krieges aller Zeiten unterscheiden.
In den jüngsten Reden führender Vertreter der Mitgliedstaaten und der europäischen Institutionen anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes ist deutlich geworden, dass sie an dem Gedanken festhalten, dass unser Goldenes Zeitalter des Wohlstands und des Friedens eine direkte Folge der Geschichte der Europäischen Union ist. Im Interesse künftiger Generationen sollten wir nicht vergessen, dass dies keineswegs der Realität entspricht. Der Frieden in Europa kann ebenso gut der Präsenz amerikanischer Truppen auf europäischem Boden zugeschrieben werden, und der Wohlstand lässt sich mit dem Wirtschaftswachstum in Asien und den Vereinigten Staaten sowie der Zunahme des weltweiten Handels erklären. Was die Freiheit betrifft, so ist sie durch die Revolutionen in mehreren europäischen Ländern, unter anderem auch in meinem Heimatland, ohne jegliches Zutun von Brüssel erlangt worden.
Ich beobachte mit Sorge, dass die Demokratie und der Wohlstand, die wir geschaffen haben, nun in Gefahr sind. Die Möglichkeiten Europas, international in der ersten Liga mitzuspielen, werden durch die unverständliche und ungerechte europäische Verfassung eingeschränkt, die bestimmte Länder auf Kosten anderer begünstigt. Die Distanz zwischen Politikern und der realen Welt ist ein weiterer Faktor, der die Zukunft Europas gefährdet, da die Bürger in den einzelnen Mitgliedstaaten die Sprache der europäischen Organe und ihrer Vertreter immer weniger verstehen. Wo wird Europa enden, wenn die europäischen Bürger diejenigen nicht mehr verstehen, die die Geschicke Europas lenken? Wird Europa zur leichten Beute für den übelsten Populismus werden, weil einfach niemand mehr begreift, worum es in Europa geht?
Ich bin fest davon überzeugt, dass keine Medienkampagne es vermag, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Idee eines gemeinsamen Europa zu stärken. Dies kann nur durch die Umsetzung praktischer und leicht verständlicher Maßnahmen erreicht werden, die wirksame Lösungen für echte Probleme bieten. Die Unfähigkeit der europäischen Staats- und Regierungschefs, das Wachstum zu fördern, und die zögerliche euronationalistische Herangehensweise an Wirtschaftsthemen sind alles andere als eine angemessene Reaktion auf die harten Fakten der Weltwirtschaft.
Ich vertrete die Bürger eines Landes, das unter den Folgen des vor 15 Jahren gefallenen Eisernen Vorhangs gelitten hat. Heute sehen wir, dass es Bestrebungen gibt, neue „Vorhänge“ zum „Schutz“ vor den Vereinigten Staaten, chinesischen Textilien, billigen Arbeitskräften und dem Strom von Asylsuchenden rund um Europa herum zu ziehen. Die aktuellen Probleme Europas können nicht dadurch gelöst werden, dass wir uns von der übrigen Welt abschotten.
Das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit und die rückläufige Konjunkturentwicklung sind deutliche Anzeichen dafür, dass die Art und Weise, in der die Europäische Union derzeit geführt wird, nicht geeignet ist, um Europa wettbewerbsfähig zu machen.
Ich bin der Meinung, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Mut haben sollten, sich selbst und der Öffentlichkeit einzugestehen, dass die erneuerte Lissabon-Strategie und die ungerechte europäische Verfassung keine Zukunft haben und weder mehr Gerechtigkeit noch mehr Freiheit oder Wohlstand bringen werden. Die einzig richtige Reaktion auf die derzeitige Lage der Weltwirtschaft und der Weltpolitik besteht in der Öffnung, in der Beschränkung unserer Einmischung in Wirtschaftsbelange, in der Senkung der Steuern, damit die Nationalstaaten flexibler agieren können, und in einer zurückhaltenden Koordinierung auf EU-Ebene, die nur dann erfolgen darf, wenn dies notwendig ist.
Der Präsident. Ich teile mit, dass ich gemäß Artikel 103 Absatz 2 GO einen Entschließungsantrag erhalten habe(1).
Die Aussprache ist geschlossen.
Die Abstimmung findet am Donnerstag statt.
Schriftliche Erklärung (Artikel 142 GO)
Pedro Guerreiro (GUE/NGL). – (PT) Dieses Gedenken an den 60. Jahrestag des Sieges über den Nazifaschismus ist eine verabscheuungswürdige Übung in Revisionismus und Verfälschung der Geschichte; dazu gehört auch der inakzeptable Entschließungsantrag des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten.
Mit dieser mitnichten harmlosen infamen Verfälschung der Geschichte werden ganz konkrete Absichten verfolgt:
Leugnen des entscheidenden Beitrags der Sowjetunion und des heldenhaften Kampfes des Sowjetvolkes zur Zerschlagung der brutalen Zerstörungsmaschinerie der faschistischen Armeen und Regimes und ihres maßgeblichen Anteils an der Verhinderung einer imperialistischen Aggression in der Nachkriegszeit;
Verschweigen und Verleumden der ruhmvollen und heldenhaften Rolle der Kommunisten im antifaschistischen Kampf;
Vergessenmachen des Nazischreckens, der Millionen von Toten in den Konzentrationslagern, der Millionen Männer, Frauen und Kinder, die ermordet wurden, und der systematischen Zerstörung ganzer Länder;
Herunterspielen der Verantwortung des deutschen Großkapitals für Hitlers Aufstieg an die Macht, der Komplizenschaft der kapitalistischen Großmächte, die bis zum Schluss die Hoffnung nährten, dass die Kriegsmaschinerie der Nazis den Hauptfeind, die Sowjetunion, vernichten würde;
Versuch der Rechtfertigung – wie vor 60 Jahren – der nicht zu rechtfertigenden Aggressivität des Imperialismus und des Militarismus sowie des Angriffs auf die Souveränität der Völker.