Der Präsident. Herr Ciampi, meine Damen und Herren! Es ist für uns eine Ehre und ein Privileg, heute in diesem Hohen Haus den Präsidenten der Italienischen Republik, Carlo Azeglio Ciampi, zu empfangen.
Wir alle kennen ihn und erinnern uns an ihn als einen hervorragenden Gouverneur der Bank von Italien und den Ministerpräsidenten, der schwierigen Zeiten innerhalb des italienischen politischen Systems trotzen musste, den geschickten und hartnäckigen Finanzminister in den Regierungen Prodi und D'Alema und heute den von allen Italienern geliebten Präsidenten der Republik.
Ich glaube, wir sollten uns in dieser besonders schwierigen Zeit für Europa daran erinnern, dass Präsident Ciampi der Minister war, der entscheidend zum Beitritt Italiens zum Euro beitrug, und es ist gut, sich dessen zu einem Zeitpunkt zu entsinnen, da einige Leute inzwischen den Euro als eine unbequeme Zwangsjacke und nicht als grundlegendes Instrument für den Wohlstand und die wirtschaftliche Stabilität ansehen.
Ich hatte erstmals im Oktober des vergangenen Jahres in Rom bei der Unterzeichnung des Verfassungsvertrags Gelegenheit, Präsident Ciampi persönlich zu begegnen. Ihre Persönlichkeit und Ihre Ansichten über den europäischen Aufbau haben mich damals tief beeindruckt. Ich kannte bereits den Politiker, aber in Rom hatte ich Gelegenheit, den Menschen kennen zu lernen, der immer klar und leidenschaftlich für ein Europa eintrat, das Garant für Frieden und Demokratie sowie für wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist.
Meine Damen und Herren! Dies ist ein Mann, der sich immer daran erinnerte, wie Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs aussah, und der Zeuge der Verwirklichung des Traums jener Menschen wurde, die die Fundamente für das heutige Europa legten: ein Europa, das in den Augen vieler, vor allem der jungen Generationen, den Eindruck vermittelt, dass es nicht notwendig ist, Willenskräfte zu mobilisieren, um seinen Fortbestand und seine Weiterentwicklung zu sichern. Wir Abgeordnete des Europäischen Parlaments wissen, dass dem nicht so ist, dass Europa nicht von allein errichtet wird, dass der Frieden nicht sicher ist, dass der Frieden niemals sicher ist und dass er natürlich ohne den Erfolg des europäischen Aufbauwerks nicht gesichert worden wäre.
Das Europa, das wir haben, ist keine Episode in der Geschichte. Es ist weder durch einen Zufall entstanden noch hat es in den Sternen gestanden, und es sind große Anstrengungen zu seiner Verwirklichung erforderlich. Wir brauchen Europa, aber um es Realität werden zu lassen, sind die Anstrengungen vieler, die Ihrigen, Herr Präsident, und die von uns allen notwendig. Es ist das Ergebnis einer allmählichen Entwicklung, bei der wir beim Vorwärtsschreiten gelernt haben, was Engagement, Enthusiasmus und manchmal Enttäuschungen einschließt.
Präsident Ciampi kommt zu einem Zeitpunkt in das Europäische Parlament, an dem wir eine gewisse Ernüchterung erleben. Er wird uns helfen zu verstehen warum, da er sehr wohl weiß, dass Europa ein Traum war, der auf Frieden und Zusammenarbeit fußte. Dieser Traum ist heute Wirklichkeit, und gerade aus diesem Grunde inspiriert es nicht mehr zum Träumen. Es hat seine Fähigkeit eingebüßt, die Menschen zum Träumen zu bringen. Wir müssen allen gemeinsame, neue Elemente, neue Ideale finden, andere als die von vor ein paar Jahrzehnten, um sicherzustellen, dass Europa wieder Enthusiasmus inspiriert, die Menschen träumen lässt, sie wünschen lässt, dass die Notwendigkeit Realität wird. Ich glaube, dass die Anwesenheit von Herrn Ciampi bei dieser Debatte über die Zukunft Europas, die er heute hier symbolisch einläutet, sehr dienlich ist. So, glaube ich, sollten wir seine Präsenz im Europäischen Parlament interpretieren, weil wir vielleicht alle gemeinsam ein neues, junges Europa im Stil von Giuseppe Mazzini schaffen und in diesem Jahr an seinem 200. Geburtstag an seine Idee erinnern müssen, dass die Demokratie und die Freiheit die Menschen vereinen, unabhängig davon, wo sie leben.
Herr Präsident, wir sind überzeugt, dass Ihr Besuch, Ihr Beispiel und Ihre Worte an dem schwierigen Scheideweg, an dem sich Europa heute befindet, sehr hilfreich für uns sein werden, um weitere Fortschritte beim Aufbau eines Europas machen zu können, das nicht nur in der Lage ist, Frieden und Zusammenarbeit zu gewährleisten, sondern auch Wohlstand und Sicherheit, und das fähig ist, im Rest der Welt das zu tun, was hier getan wurde: eine Gesellschaft zu schaffen, die auf der Achtung der Vielfalt, auf der Integration der Unterschiede und dem Aufbau einer gemeinsamen Identität basiert.
Herr Ciampi, es ist eine Ehre für das Europäische Parlament, Sie willkommen zu heißen, und ich erteile Ihnen das Wort.
(Beifall)
Carlo Azeglio Ciampi,Präsident der Italienischen Republik. – (IT) Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich danke Ihnen für den warmherzigen Empfang, den Sie mir bereitet haben, und insbesondere danke ich Ihnen, Herr Präsident, für die herzlichen Worte, mit denen Sie mich vorgestellt haben.
Ich empfinde es als große Ehre, im höchsten Forum der europäischen Demokratie zu sprechen und der Stimme der Italienischen Republik im Zentrum des verfassungsmäßigen Systems der Union Gehör zu verschaffen. Ich verwende absichtlich das Adjektiv „verfassungsmäßig“, weil die Rechtsordnung, die wir gemeinsam seit 50 Jahren Vertrag um Vertrag aufgebaut haben, verfassungsmäßig ist.
Die Europäische Union ist nicht nur eine wirtschaftliche Freihandelszone, und kann es auch nicht sein.
(Beifall)
Sie ist vor allem seit ihren Anfängen ein politisches Gebilde, ein Rechtsraum, eine verfassungsmäßige Realität, die unseren geliebten nationalen Verfassungen nicht entgegen steht, sondern die sie verbindet und ergänzt. Sie ist ein politisches Gebilde, das die Identität unserer Nationalstaaten nicht negiert, sondern sie angesichts der großen Herausforderungen eines immer weiter gesteckten Rahmens verstärkt. Sie ist ein Rechtsraum, auf den jeder andere Erdenbewohner mit der Zuversicht blicken kann, dass hier die Werte des Menschen besser geachtet werden als anderswo. Die anspruchsvolle Definition der Union im Verfassungsvertrag als ein „Raum..., in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“ ist berechtigt.
Von dieser Position aus müssen wir alle zusammen weiter voranschreiten, sowohl die 11 Mitgliedstaaten, die, wie Italien, den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, als auch die Staaten, die dies noch tun müssen, und die zwei Länder, die ihn abgelehnt haben. Wir sind unwiderruflich durch einen einheitlichen institutionellen Rahmen verbunden. Er ist bereits stark genug, um es uns zu ermöglichen, viele Dinge für unsere Bürger gemeinsam zu tun, um die Zustimmung der Bevölkerung, die dem Vertrag in einigen Ländern verweigert wurde, zurückzugewinnen und unsere Institutionen, die uns durch eine erfolgreiche Vergangenheit überliefert wurden, zu festigen.
Gerade weil wir bereits ein politisches und verfassungsmäßiges Gebilde sind, können wir realistisch einschätzen, welche Bedeutung die Ablehnung hat, die in zwei Ländern erfolgt ist, die seit den Anfängen mit der europäischen Entwicklung verbunden sind. Noch vor wenigen Monaten, anlässlich der feierlichen Unterzeichnung des Verfassungsvertrags durch die 25 Regierungen der Union in Rom, stieß das Einheitsprojekt auf allgemeine Zustimmung. Binnen weniger Monate machte sich die Besorgnis breit, die Bürger wären von den für ihre Zukunft wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen, und die Sorgen wegen des ausbleibenden Wirtschaftswachstums nahmen zu. Aber ist es wirklich gerechtfertigt, den Ausgang der Referenden als Abkehr von der Einheit Europas auszulegen? Ist es gerechtfertigt, der Versuchung nachzugeben, sogar das Projekt der Gründerväter in Frage zu stellen?
Wenn wir genauer hinsehen, erscheint uns der Römische Vertrag vom Oktober 2004 eher als Blitzableiter einer allgemeinen Unzufriedenheit, die sich nicht so sehr auf das institutionelle Gefüge als vielmehr auf die Regierungspolitik der Union bezieht. Wir stellen sogar etwas Absurdes fest. Die inständige Forderung nach einer politischen Wiederbelebung der Union, die dringender als die ebenfalls notwendigen institutionellen Reformen ist, zeugt von dem Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft, auf die sich eine Verfassung wirklich gründet. Deshalb müssen wir nun an die Politik für die Zukunft der Union denken, ohne jedoch das von dem engagierten Konvent entworfene Verfassungsprojekt aufzugeben.
Was verlangt die Zukunft dringend von unserem Europa? Sie verlangt vor allem, um es mit den Worten von Ortega y Gasset zu sagen, dass das Rückgrat der Union aus Maßnahmen für den politischen Zusammenhalt, den physischen Zusammenhalt und den sozialen Zusammenhalt bestehen muss.
Das Grundprinzip der Subsidiarität muss als ein Prinzip des politischen Zusammenhalts ausgelegt werden, das von unten her, beginnend bei den Tausend und Abertausend Gemeinden unserer Union, die Mitwirkung an den Entscheidungen der Gemeinschaft ermöglicht. Die Existenz der Europäischen Union muss von diesen Ebenen ausgehen.
Europa braucht außerdem physischen Zusammenhalt, Verkehrs- und Kommunikationsstrukturen, die bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf die Umwelt und die Landschaft die Europäer näher zusammenbringen.
Europa, das den Wohlfahrtsstaat erfunden hat, braucht schließlich sozialen Zusammenhalt. Wir können nicht zulassen, dass zwischen den Ländern und somit unter der Bevölkerung, die durch unsere internationale Rechtspersönlichkeit einheitlich vertreten wird, nach wie vor beträchtliche Unterschiede im Lebensstandard bestehen. Deshalb ist es für Europa erforderlich, dass das historische Ziel der Annäherung und des Zusammenhalts durch geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen erreicht wird.
Ich habe stets, zunächst als Banker und später als Politiker, die Auffassung vertreten, dass der Grundsatz des freien Marktes in der Wirtschaftskultur der Union die Fähigkeit bedeutet, auf dem Markt in der Sprache des Marktes zu sprechen, was jedoch nicht heißen darf, all seinen Launen nachzugeben.
(Beifall)
Es ist die mangelnde politische Entschlossenheit der einzelstaatlichen Regierungen, die eine wirksame Koordinierung ihrer Haushaltspolitik verhindert. Dadurch wird es der Union erschwert, mittels eines gemeinsamen Fonds, der auch durch internationale Kreditaufnahmen Europas gespeist wird, große im europäischen Interesse liegende Infrastrukturvorhaben und wichtige gemeinsame Forschungs- und Innovationsinitiativen zu finanzieren sowie einen Bestand gemeinsamen öffentlichen Vermögens zu schaffen. Die Lissabon-Strategie ist das erste Glied einer Kette, die zur Steuerbarkeit der europäischen Wirtschaft führen muss. Von den einzelstaatlichen Regierungen muss eine klare Botschaft kommen, die durch die Bereitstellung öffentlicher Ressourcen glaubhaft wird. Die viel bemühte Flexibilität muss von den Unternehmen genutzt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, die Produktionsbasis auszubauen und den Absatz in Europa und weltweit zu steigern.
Europa muss sich wieder stärker für die großen Gemeinschaftsprojekte engagieren. In diesem Bereich waren wir vielfach erfolgreich, auch in den letzten Jahren, beispielsweise im Rahmen des CERN und der Europäischen Raumfahrtagentur, mit den Projekten ITER und Galileo, die einen erheblichen Beitrag zur Stärkung der technologischen Kapazitäten Europas geleistet haben, und mit dem Projekt Erasmus, das über einer Million Jugendlichen neue europäische Horizonte eröffnet hat. Auch Airbus ist ein Beispiel dafür, was wir gemeinsam erreichen können, wenn wir uns nur zusammentun.
Voller Zuversicht können wir auch auf das Initiativpotenzial der Eurozone blicken, in der gegenwärtig Jean-Claude Juncker den Vorsitz führt, dem ich, auch im Namen unserer langen Freundschaft und Zusammenarbeit, meine besten Wünsche übermittle. Der Euro ist der fortschrittlichste Ausdruck des Einheitswillens der europäischen Völker und eine Triebkraft der politischen Integration. Es ist ein ermutigendes Vertrauenssignal, dass sechs der zehn neuen Mitgliedstaaten bereits dem Europäischen Wechselkursmechanismus SME 2 beigetreten sind und damit die ersten Schritte für einen Beitritt zur Eurozone vollzogen haben. Die greifbaren Vorteile, die sich aus der Teilnahme an der gemeinsamen Währung ergeben, sind für alle ersichtlich: Schutz vor Wechselkursschwankungen, niedrige Zinssätze und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den Ländern der Eurozone, die eine tragfähige Politik verfolgt haben.
(Mario Borghezio unterbricht den Redner lautstark, und es werden Transparente entfaltet.)
Der Präsident. Ich bitte die Saaldiener, umgehend dieses Symbol zu entfernen. Begleiten Sie den Abgeordneten zur Tür, verweisen Sie ihn aus dem Saal! Verweisen Sie ihn unverzüglich aus dem Saal! Ich habe gesagt, verweisen Sie ihn aus dem Saal!
(Beifall)
Würden die Saaldiener bitte jegliche Symbole oder Elemente entfernen, die die Ordnung im Plenarsaal stören könnten.
(Zwischenrufe)
Bitte, stellen Sie sicher, dass niemand im Plenarsaal verbleibt, der die normale Ordnung stören könnte. Wenn es jemanden gibt, weisen Sie ihn aus dem Saal.
(Die betroffenen Abgeordneten werden aus dem Saal gewiesen.)
Es tut mir Leid, Herr Präsident. Fahren Sie fort.
(Beifall)
Carlo Azeglio Ciampi,Präsident der Italienischen Republik. – (IT) Sowohl die Festigung des Euro auf den Weltmärkten als auch die von der Europäischen Zentralbank verfolgte Politik der Preisstabilität müssen wir als außerordentliche Erfolge verbuchen, doch dürfen wir uns nicht länger mit der bestehenden Situation zufrieden geben. Die bestätigte und berechtigte Unerschütterlichkeit des Stabilitätspakts an sich ist noch keine Wachstumsgarantie, wenn wir weiter untätig bleiben. Die positiven Effekte des Euro werden weiterhin nur mühsam sichtbar werden, wenn kein koordiniertes Management der einzelstaatlichen Haushalte sowie des wirtschaftspolitischen Kurses der Mitgliedstaaten erfolgt. Nur auf dieser Grundlage wird die Union das ihr durch die gemeinsame Währung verliehene Potenzial voll ausspielen können, sich als globaler Wirtschaftsakteur zu behaupten und einen Wirtschafts- und Währungsblock zu festigen, der die Interessen der Bürger und die Abläufe seiner ausgewogenen Entwicklung zu fördern vermag.
Jetzt erwarten wir voller Zuversicht auch eine Einigung über die Finanzielle Vorausschau der Union. Zwar ist eine offene und freimütige politische Auseinandersetzung über die Schwerpunkte für die Tätigkeiten der Union begrüßenswert, doch muss so schnell wie möglich ein Haushaltsplan der Gemeinschaft angenommen werden, der nicht nur für ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Forderungen der Staaten steht, sondern auch auf kohärenten und solidarischen Zielen basiert. Ich wünsche dem britischen Premierminister und amtierenden Ratspräsidenten der Europäischen Union, Tony Blair, wirklich viel Erfolg für die Arbeit, die zu vollbringen er sich vor diesem Parlament verpflichtet hat.
Die Lebenskraft des europäischen Modells wird auch von der Fähigkeit abhängen, neue Kräfte in unseren Ländern zu mobilisieren. Nur wenn wir einen Dialog und ein konstruktives Zusammenleben zwischen den Unionsbürgern und gebietsansässigen Drittstaatsangehörigen entwickeln, wird es uns gelingen, die besten Aspekte unserer Zivilisation zu festigen.
Schließlich erfordert die Zukunft unseres Europa sicherheits- und friedenspolitische Maßnahmen. Die internationale Vision von unserer Europäischen Union, die auf der Vorrangigkeit des Rechts und auf dem Vertrauen in das multilaterale System beruht, weckt weltweit Erwartungen und Hoffnungen. Doch nur, wenn Europa geeint ist, wird es Einfluss auf die internationalen Gleichgewichte nehmen können. Wenn jeder für sich allein handelt, würden wir zum Spielball von Geschehnissen, die stärker sind als wir, Geschehnisse, die den Frieden und die Sicherheit Europas gefährden.
Gemäß diesem Ansatz hat sich das Europäische Parlament seit langem mit dem Problem der einheitlichen Vertretung Europas in der UNO befasst. In der im Juni angenommenen Entschließung wird ebenso wie in der vorangegangenen Entschließung vom Januar 2004 bekräftigt, dass ein gemeinsamer Sitz der Europäischen Union im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Ziel der Europäischen Union bleiben muss.
(Beifall)
Diese klare Vorstellung gereicht dem Europäischen Parlament zur Ehre. Das Wissen um unsere gemeinsamen Wurzeln und die gemeinsame Erinnerung an die Höhen und Tiefen unserer Geschichte bestätigen das Vorhandensein eines höheren europäischen Interesses, das die nationalen Interessen harmonisiert, sie vor Exzessen, wie sie uns in der Vergangenheit gepeinigt haben, schützt und sie im Rahmen einer gemeinsame Vision unserer Beziehungen mit der Welt fördert.
Das erweiterte Europa hat nunmehr die Grenzen seiner kulturellen und historischen Identität berührt. Obgleich die Grenzen Europas geografisch gesehen nicht genau bestimmt werden können, ist der gemeinsame Raum der von der Europäischen Union vermittelten Grundsätze, Werte und Regeln heute genau bestimmbar.
Die Erweiterung der Union stellte eine historische Verpflichtung gegenüber den Völkern dar, die im EU-Beitritt die Garantie für ihre wiedergewonnenen Freiheiten sahen, die Krönung einer quasi ein halbes Jahrhundert lang gehegten Erwartung. Von den neuen Mitgliedstaaten, die ein Recht darauf haben, in einer effizienten Union zu leben, die sich ihnen gegenüber ebenfalls solidarisch zeigt, erwarten wir einen konstruktiven und begeisterten Beitrag, wie er von ihnen ja auch bereits geleistet wurde. Die erweiterte Union wird geeint voranschreiten. Doch gerade weil sie größer geworden ist, wird sie mehr denn je bahnbrechende Initiativen brauchen, die den Weg zur Vollendung der Einheit Europas weisen.
Meine Damen und Herren! Das Europäische Parlament hat die Pflicht, die Europäische Union wieder zu einem allgemeinen Gefühl der Menschen zu machen. Es ist an Ihnen, die Forderungen der Bürger nach noch mehr Demokratie, Transparenz und Regierungsfähigkeit zu erfüllen. Seit das Europäische Parlament am 14. Februar 1984 den Entwurf einer europäischen Verfassung von Altiero Spinelli vorlegte, hat dieses Plenum ständig seine stärkere Einbeziehung in die Revision der Verträge gefordert. Jetzt obliegt dem europäischen Organ mit dem höchsten Repräsentationsgrad die historische Verantwortung, den Verfassungsbestand nicht zu zerpflücken und dafür Sorge zu tragen, dass während der Denkpause über die Verfassung diese dabei nicht auf der Strecke bleibt.
(Beifall)
Auch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 16. und 17. Juni wird zu einer Debatte aufgefordert, durch die das Interesse geweckt werden soll, und an die EU-Organe appelliert, ihren Beitrag dazu zu leisten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete! Vor nunmehr vielen Jahren konnte ich als Hochschulstudent in Italien und in Deutschland erleben, mit welcher Unbesonnenheit die europäischen Staaten mit dem Zweiten Weltkrieg die Vernichtung einer ganzen Generation einleiteten.
(Beifall)
Deshalb sehe ich voller Sorge auf jede Verlangsamung, jede Krise des europäischen Integrationsprozesses. Ich hoffe jedoch, dass Sie meinen Ausführungen ein klares Vertrauen in die Zukunft entnommen haben. Mitte des vergangenen Jahrhunderts haben große und kluge Männer ein Gebäude errichtet, das nicht zerstört werden kann, doch müssen wir wachsam sein wie Leuchtturmwärter, um die Jugendlichen vor neuen Gefahren zu warnen.
Meine Amtszeit als Präsident der Italienischen Republik geht in nicht allzu ferner Zukunft zu Ende. Vor sechs Jahren, nach dem Amtseid, schloss ich meine Rede vor dem italienischen Parlament mit einer Erklärung, in der ich meine Verpflichtung gegenüber Italien und der Europäischen Union bekundete und bekräftigte, und der ich meines Wissens in diesen geschichts- und veränderungsträchtigen Jahren treu geblieben bin. Diese Verpflichtung möchte ich jetzt gern vor Ihnen erneuern. Hoch lebe Europa, hoch lebe die Europäische Union!
(Beifall)
Der Präsident. Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige kurze Dankesworte an Herrn Ciampi. Ich möchte dies nicht vergessen, wie es mir bei anderen Gelegenheiten in der Emotion des Augenblicks widerfahren ist. Nachdem ich Ihnen zugehört habe, Herr Ciampi, glaube ich, dass ich im Namen der großen Mehrheit der Abgeordneten dieses Parlaments sagen kann, dass diese Institution Ihre Worte im Gedächtnis bewahren wird. Sie haben bewiesen, dass Sie zum jungen Europa gehören. Jawohl, zum jungen Europa.
(Beifall)
Denn wie Picasso sagte, „braucht man sehr lange, um jung zu werden“. Und Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, zu einer Zeit jung zu werden, da die Jugend gerade am meisten gebraucht wird.
Ich bedauere den Zwischenfall, der in keiner Weise die Billigung der Mehrheit dieses Hohen Hauses findet, ganz im Gegenteil, und ich wünsche innigst, dass uns die von Ihnen hier geäußerten Gedanken in der Debatte helfen werden, die wir fortsetzen müssen. Sie haben es sehr deutlich ausgesprochen. Gestatten Sie mir, Ihnen nochmals Dank zu sagen.
Europa ist eine Erfolgsgeschichte, aber es könnte an seinen Erfolgen zugrunde gehen. Um das zu verhindern, dürfen wir nicht erlauben, dass die wertvollsten und sensibelsten Elemente unseres Zusammenlebens trivialisiert werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Realität des Alltags den Wert dessen vergessen lässt, was wir erreicht haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass etwas Wunderbares als etwas Alltägliches behandelt wird.
Deshalb, Herr Ciampi, danken wir Ihnen nochmals für Ihre Anwesenheit bei uns und hoffen, dass Ihre Worte außerhalb dieses Plenarsaals gehört werden.
(Beifall)
VORSITZ: Dagmar ROTH-BEHRENDT Vizepräsidentin
Bruno Gollnisch (NI). – (FR) Frau Präsidentin, ich gründe meinen Hinweis auf Artikel 166, 75 und 83 der Geschäftsordnung sowie auf Artikel 48 des EU-Vertrags, da uns die Artikel 75 und 83 der Geschäftsordnung auf den Wortlaut in den Verträgen verweisen. Ich werde mich ganz kurz fassen.
Nach Artikel 48 EU-Vertrag treten die Änderungen zu diesem Vertrag nach der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten gemäß deren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Da in Artikel 48 von allen Mitgliedstaaten die Rede ist, liegt auf der Hand, dass die Ablehnung des Verfassungsvertrages durch zwei dieser Staaten – Frankreich und die Niederlande – und durch viele andere auch, wenn deren Bevölkerungen befragt worden wären, den Verfassungsvertrag und folglich auch den Beitrag von Präsident Ciampi – ich bedauere, das so sagen zu müssen, bei allem Respekt für seine Person und sein Amt – null und nichtig gemacht hat.