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Ausführliche Sitzungsberichte
Dienstag, 24. Oktober 2006 - Straßburg Ausgabe im ABl.

4. Gedenken an den Ungarnaufstand 1956
Protokoll
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  Der Präsident. Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt, und zwar stehend, eine Erklärung über die „Ungarische Revolution“ vom Oktober 1956 abgeben.

Vor einem halben Jahrhundert erhob sich das ungarische Volk gegen die kommunistische Diktatur und gegen die Besatzung durch eine ausländische Macht.

Am 23. Oktober 1956 gingen die ungarischen Studenten auf die Straßen von Budapest, um gegen die kommunistische Regierung zu protestieren, und sehr schnell schlossen sich ihnen Bürger aller Berufe und Sektoren der Gesellschaft an.

Lassen Sie mich sagen, dass dies meine erste Kindheitserinnerung an die Politik ist. In jener Zeit waren die Nachrichten in meinem Land voll vom Widerstand des ungarischen Volkes. Ich weiß noch, dass uns unser Lehrer in der Schule auf einer Landkarte erläuterte, wo die Ereignisse stattfanden, ich erinnere mich an die Stimmen im Radio und die Fotos in den Zeitungen von ausgebrannten T-34-Panzern im Zentrum von Budapest. So habe ich zum ersten Mal den Begriff des Freiheitskampfes erlebt.

Zwei Wochen hindurch gab es Hoffnung; dann schwiegen die Rundfunksender und es trat eine völlige Stille ein, und hinter dieser Stille wurden tausende ermordet und hunderte wurden des Landes verwiesen. Eine Weile hatten die Aufständischen in Budapest gehofft, dass ihnen der freie Westen zu Hilfe kommen würde. Er tat es nicht. Über eine bestimmte Zeit wurden sie in dem Glauben gelassen, er würde es tun.

Wir sahen als machtlose Zuschauer zu, wie tausende Ungarn, Männer, Frauen und Kinder, aus ihrem Land flohen und im Westen Zuflucht suchten. Es war eine unbeschreibliche Tragödie für das ungarische Volk, aber es war auch der erste Riss im Panzer des Sowjetsystems – ein Riss, der wachsen und später zum Fall der Berliner Mauer führen würde – und es war ohne Zweifel ein großartiger Moment in der Geschichte jenes Landes.

Damals, Ende Juni, fand in Polen die Erhebung von Posen statt, mit den Arbeitern des Cegielski-Werkes, die „Brot und Freiheit“ forderten, es war ein weiterer wichtiger Meilenstein jenes Aufruhrs. Diese Ereignisse standen zweifellos miteinander in Verbindung. Tatsächlich erklärte der ungarische Präsident, Laszlo Sólyom, bei der diesjährigen Feier zum Gedenken an die Ereignisse 1956 in Posen, dass „Posen und Ungarn sich gemeinsam gegen die sowjetische Besatzung erhoben hatten. Am 24. Oktober 1956 gingen die Ungarn mit Plakaten auf die Straße, auf denen ,Posen-Warschau-Budapest‘ zu lesen war“.

Dies war eine Inspiration für die späteren Ereignisse, wenngleich es lange dauerte, bis sie eintraten. Es dauerte lange bis zum Frühling in Prag 1968. Es dauerte lange bis zu den Streiks in Polen 1970, die zehn Jahre später zur Anerkennung von Solidarnosc führten, die den Anschub für den Fall der Mauer gab.

Die Geschichte wiederholte sich 1989. Ungarn und Polen legten den Grundstein für die Wiedervereinigung des Kontinents, und dies ist, wie ich meine, ein guter Zeitpunkt, um aus der Rede von Albert Camus im Jahre 1957 aus Anlass des ersten Jahrestags der ungarischen Revolution zu zitieren.

Camus sagte: „Besiegt und in Fesseln geschlagen, hat Ungarn mehr für Freiheit und Recht geleistet als irgend eine andere Nation während der letzten zwanzig Jahre […]. In der Vereinsamung, in die Europa heute geraten ist, gibt es nur eines, den Ungarn die Treue zu halten: nie und nirgends in der Welt die Werte zu verraten, für die die ungarischen Kämpfer gefallen sind, und auch nie und nirgends, wäre es auch nur indirekt, das gelten zu lassen, was sie gemordet hat. Sich solcher Opfer würdig zu erweisen, fällt nicht leicht. Aber wir müssen es versuchen, müssen in einem endlich vereinigten Europa unsere Anstrengungen vervielfältigen, müssen unsere Streitereien vergessen und unsere Irrtümer beseitigen.“

Ein wiedervereinigtes Europa ist heute bereit, neue Fortschritte zu erringen und den europäischen Geist noch stärker zu verbreiten, um damit zur Schaffung einer Welt beizutragen, in der unsere Aktionen von den Grundsätzen von Freiheit, Solidarität und Fortschritt getragen werden.

Dies sind wir jenen schuldig, die für ihren Glauben an ein freies Europa ihr Leben gegeben haben.

(Beifall)

 
  
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  Hans-Gert Poettering, im Namen der PPE-DE-Fraktion. – Herr Präsident, Herr Kommissar, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gedenken heute des Aufstands der Bevölkerung Ungarns vor 50 Jahren, als die Menschen sich verzweifelt gegen eine totalitäre Diktatur erhoben. Wir gedenken heute der Ereignisse im Herbst 1956, weil sie es für uns alle getan haben. Sie haben der Idee der Freiheit, des Rechts und der Demokratie Ehre erwiesen. Sie haben die Würde des Menschen verteidigt und gestärkt. Sie haben noch dort Würde gezeigt, wo sie von Panzern überrollt wurden. Sie sind für uns alle geflohen, haben für uns alle gelitten und damit für uns alle über Jahre und Jahrzehnte die Erinnerung wachgehalten.

Die Helden der ungarischen Revolution sind unsere gemeinsamen Helden. Es sind Helden Europas. Ihrer gedenken wir heute, weil wir ihrem Vermächtnis verpflichtet sind. Ihr Werk ehren wir, weil wir in dem Versprechen miteinander — besonders hier im Europäischen Parlament — verbunden sind, dass es nie wieder eine solche Herausforderung an die Freiheit und Menschenwürde in Europa geben darf. Ihr Leben steht wie ein Relief vor uns, das die Größe demonstriert, zu der wir Menschen befähigt sind, wenn wir gezwungen werden, die Werte und die Würde Europas zu verteidigen. Wir verneigen uns vor ihnen.

Was mit der ersten Großdemonstration in Budapest am 23. Oktober 1956 begann und mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen am 4. November 1956 endete, war eine Revolution der Freiheit. Zu Recht sprachen schon die Beteiligten des ungarischen Volksaufstandes von der Revolution, von forradalom. Zu Unrecht wurden sie damals von den kommunistischen Machthabern einer Konterrevolution bezichtigt, der ellenforradalom. Der Unterschied ist nicht nur der eines kleinen Wortteils in der ungarischen Sprache. Der Unterschied ist riesengroß. Es ist der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit.

Die Menschen in Ungarn handelten für unsere Werte in Europa, denn die Freiheit, für die die Helden des ungarischen Volksaufstandes 1956 stritten und starben, ist Teil der europäischen Identität. Unsere Ziele sind die Ziele der Menschen damals in Ungarn. Nichts könnte die Strahlkraft besser verdeutlichen als die Tatsache, dass wir heute des ungarischen Volksaufstandes 1956 gedenken und frei gewählte Vertreter Ungarns hier im Europäischen Parlament haben. Für mich bleibt das das Wunder meiner Generation. Ungarns Freiheit ist Europas Freiheit geworden, und Europas Freiheit bleibt Garant für Ungarns Freiheit.

Lassen Sie mich gerade wegen der Ereignisse heute in Budapest und in Ungarn den ungarischen Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen meine große Anerkennung bezeugen, dass sie es ermöglicht haben, dass wir uns auf einen gemeinsamen Text, eine gemeinsame Entschließung verständigt haben. Das zeigt uns, dass wir über den tagespolitischen Streit hinaus gemeinsame Grundsätze haben, die uns verbinden.

Meine Bitte ist, dass bei den Auseinandersetzungen in Budapest keine Seite unverhältnismäßig vorgeht, dass man auf Demonstrationen nicht unverhältnismäßig antwortet, denn wir sind durch gemeinsame Werte, die Werte der Freiheit, verbunden. Das verbindet uns mit dem Jahr 1956, und das verbindet uns auch in diesem Jahr 2006. Lassen Sie uns bei allem Streit immer diese Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt stellen.

(Beifall)

 
  
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  Martin Schulz, im Namen der PSE-Fraktion. – Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Jahrestag, an den wir heute erinnern – den Jahrestag des Aufstands der Ungarn gegen die sowjetischen Unterdrücker in ihrem Land –, und dem Jahrestag, den wir im Frühjahr des kommenden Jahres begehen werden, nämlich dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge.

In zeitlicher Nähe fanden diese Ereignisse statt, und beiden wohnt der gleiche Geist inne. Die Römischen Verträge waren geprägt vom Geist der Freiheit und des Zusammenhalts der Völker in Freiheit. Genau das war auch der Geist des Aufstands in Ungarn. Die Ungarn wollten heraus aus einem Zwangssystem, sie wollten ihre eigene Souveränität, ihre Souveränität als freies Volk. Die mussten sie erkämpfen und erstreiten gegen eine Macht, die ihnen dieses Recht nehmen wollte.

Fünfzig Jahre danach denken wir an diese Männer und Frauen, die sich dieses Recht herausnahmen, das wir als Europäische Union heute jedem Volk garantieren, nämlich in Freiheit und Selbstbestimmung in der demokratischen Völkergemeinschaft leben zu können. Die Männer und Frauen, die sich dieses Recht gegen ihre Unterdrücker erkämpfen mussten, sind wahre Helden der europäischen Geschichte. Denn sie hatten keine Waffen, sie konnten sich nicht gegen eine Armee wehren, sie haben sich mit ihren bloßen Händen und mit aufgerissener Brust – wir kennen diese Bilder – gegen die Panzer gestellt.

Der Mut dieser Männer und Frauen ist bewundernswert. Ich finde, dieser Mut und diese Haltung, die wir ja – mein Vorredner und Sie, Herr Präsident, haben es erwähnt – nicht nur in Ungarn gefunden haben, sondern auch in Polen und zwölf Jahre später auch in der Tschechoslowakei, dieser Mut ist auch ein Stück des Erbes Europas. Denn er zeigt, dass auf diesem Kontinent Frauen und Männer immer auch bereit waren, ihr Leben für die Freiheit einzusetzen. Der Mut dieser Männer und Frauen gehört zum Besten, was Ungarn Europa zu geben hat; er gehört auch zum Besten, was wir Europäer zu bewahren haben.

Ich glaube, dass der spätere Fall der Mauer, die Möglichkeit, diese Mauer niederzureißen, den Eisernen Vorhang zu überwinden, in dem Mut dieser Tage angelegt war. Denn eines ist völlig klar: So bitter jede Unterdrückung ist, so schmerzlich jede Diktatur ist, keine ist auf Dauer. Keine Unterdrückung wird auf Dauer den Freiheitswillen eines Volkes, den Freiheitswillen der Menschen niederhalten können. Noch jede Diktatur in der Geschichte der Menschheit ist irgendwann gescheitert. So wie die kommunistische, die stalinistische Diktatur gescheitert ist, werden auch andere Diktaturen auf dieser Welt scheitern. Das heißt, der Mut der Männer und Frauen in Ungarn vor fünfzig Jahren ist der Mut von Männern und Frauen in anderen Teilen dieser Welt, die sich heute gegen die Unterdrückung dort stellen. Dieser Kampf ist also ein kontinuierlicher, er geht weiter.

Wenn wir am fünfzigsten Jahrestag daran erinnern, dann erinnern wir auch daran, dass es den Ungarn gelungen ist, nachdem sie ihre Demokratie und ihre Freiheit in ihrem Lande geschaffen hatten, aus dem Akt, der sie in den Ostblock zwang, einen Akt der Freiheit zu machen und in freier Selbstbestimmung in die Europäische Union einzutreten. Gerade das ist ein völlig anderes Konzept: in freier Selbstbestimmung sich einer internationalen Gemeinschaft freiwillig anzuschließen, statt unter Zwang einer Zwangsgemeinschaft unterworfen zu werden. Das genau ist der riesige Fortschritt, den wir in diesen fünfzig Jahren in Europa gemacht haben.

Dieser Aufstand fand statt, als ich ein ganz kleines Baby war, zehn Monate alt. Ich war 1956 ein Kind. Dass ich mein Leben in Freiheit leben konnte, ist ein enormes Privileg, das ich den Ungarinnen und Ungarn meiner Generation voraushabe. Ich bin dafür dankbar. Aber ich freue mich umso mehr, dass wir in dieser Zeit meines Lebens als Europäer, die wir in Westeuropa in Freiheit geboren sind, mit denen, die in Unterdrückung geboren wurden, heute in unserer Union gemeinsam leben können. Etwas Schöneres hätte es als Geschenk für meine Generation hier und in Ungarn nicht geben können!

(Beifall)

 
  
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  Bronisław Geremek, im Namen der ALDE-Fraktion. (FR) Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Freunde! Die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa erweist der ungarischen Revolution von 1956 die Ehre, würdigt den Mut und die Entschlossenheit des ungarischen Volkes im Kampf um die Freiheit, gedenkt der Opfer der Repression und der Leiden eines ganzen Volkes.

1956 ist ein Schlüsseldatum in der neueren Geschichte Europas. Im Juni 1956 wurde, wie Sie, Herr Präsident, in Erinnerung gerufen haben, der Aufstand der polnischen Arbeiter in Poznan blutig niedergeschlagen. Die Liberalisierung des Regimes, zu der es in Polen im Oktober 1956 kam, war nur von kurzer Dauer. Jenes Jahr war durch die Ereignisse in Ungarn gekennzeichnet. Die ungarische Revolution war eine Volksrevolution, eine nationale und antikommunistische Revolution. Die Sowjetarmee hat sie mitleidslos niedergewalzt. Die Straßen von Budapest waren Schauplatz einer blutigen Repression, und in Ungarn hielten Terror und Unterdrückung für lange Zeit Einzug.

Wir begehen heute diesen Jahrestag, ohne die Begleichung offener Rechnungen aus der Vergangenheit anzustreben. Um aber diese Ereignisse in die Annalen der europäischen Freiheit einzuschreiben und um sich als Gemeinschaft fühlen zu können, braucht die Europäische Union das gemeinsame Gedächtnis. Der Heldenmut der Männer und Frauen von 1956 darf nicht der Vergessenheit anheim fallen. Wir müssen das Gedächtnis an Imre Nagy bewahren, jenen Kommunisten, der zum Protagonisten der antikommunistischen Revolution wurde und heimlich und feige ermordet wurde. Wir müssen das Gedächtnis an István Bibó bewahren, jenen bewundernswerten Vordenker und Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie, der ins Gefängnis geworfen und bis zum Ende seiner Tage zum Schweigen verdammt wurde.

Es darf nicht vergessen werden, dass Europa dem Drama von 1956 zwar empört, aber doch schweigend und ohnmächtig zugesehen hat. Das ist eine Lehre für das Europa von heute und von morgen. Es muss stark, geeint, solidarisch sein. Es muss seine Daseinsberechtigung in der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschen- und Völkerrechte finden. Und Ungarn sollten wir heute wünschen, dass das ungarische Volk und seine Führer aus dem Mut von 1956 die Kraft schöpfen, um die notwendige Weisheit aufzubringen, das Gemeinwohl und das gemeinsame Interesse über die politischen Kontroversen zu stellen.

(Beifall)

 
  
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  Daniel Cohn-Bendit, im Namen der Verts/ALE-Fraktion. – Herr Präsident! Es gibt in der Geschichte mehrere rote Fäden. Einen dieser roten Fäden greifen wir heute auf. Er nahm seinen Anfang am 17. Juni 1953 in Deutschland, lief dann 1956 über Polen und Ungarn und 1968 über die Tschechoslowakei, bis der Kommunismus endlich niedergeschlagen wurde.

Der Ungarn-Aufstand war ein Aufstand für Demokratie, es war ein nationaler, aber auch ein politischer Aufstand. Ich erinnere an den Petöfi-Kreis – die ungarischen Intellektuellen, die damals in Budapest und dann in ganz Ungarn zusammen mit den Arbeitern die Arbeiterräte gründeten. Es bestand die Hoffnung zu versuchen, Demokratie neu zu erfinden. Das ist 1956 in Ungarn geschehen!

Wenn wir heute, fünfzig Jahre danach, dieses Aufstandes gedenken, können wir gleich ein weiteres Gedenken anschließen, nämlich jenes der 100 Jahre seit der Geburt von Hannah Arendt. Denn sie war eine der Intellektuellen, die die Kraft gehabt haben, zwei Totalitarismen in einem Atemzug zu nennen, den kommunistischen und den faschistischen. Dies ist genau das, was uns die Geschichte lehrt: Die Demokratie haben wir nie für immer gepachtet. Wir werden sie nur erhalten, wenn wir tagtäglich für Demokratie kämpfen. Das zeigt uns das Polen von heute, das zeigt uns das Ungarn von heute, und das zeigt uns auch die gefährliche Entwicklung bei uns in Frankreich, wo es faschistische, rechtsradikale Kräfte gibt. Wir müssen immer für Demokratie einstehen und kämpfen!

Die Menschen in Ungarn und in Polen vor fünfzig Jahren sowie in der Tschechoslowakei von 1968, aber auch die Menschen bei uns, die gegen Faschismus gekämpft haben, haben uns gezeigt, dass man manchmal sein Leben für Demokratie und Freiheit einsetzen muss. Wir sollten diese Lehre beherzigen und keine Angst haben zu sagen, Totalitarismen – ob faschistische oder kommunistische – sind und bleiben Totalitarismen!

(Beifall)

 
  
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  Francis Wurtz, im Namen der GUE/NGL-Fraktion. (FR) Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, einen weitgehend einhelligen Standpunkt meiner Fraktion zum Ausdruck zu bringen, wenn ich sage, dass auch ich der Auffassung bin, dass der Aufstand von 1956 in Ungarn zuerst und vor allem ein Volksaufstand für Freiheit und Unabhängigkeit war. Ich bin auch der Auffassung, dass die blutige Niederschlagung dieses Aufstands durch die Sowjetarmee rückhaltlos zu verurteilen ist. Schließlich teile ich die Einschätzung, dass diese ungarische Tragödie ein symbolträchtiges Ereignis war, denn sie erhellt das Wesen der existenziellen Krise eines Modells, das, da es unfähig war, sich grundlegend zu reformieren, 33 Jahre später verschwinden sollte.

Was wir hingegen nicht akzeptieren können, ist eine einseitige Lesart der neueren Geschichte, die die kommunistische Idee verteufelt. Um bei dem Beispiel Ungarns zu bleiben, möchte ich daran erinnern, dass hochrangige Kommunisten eine herausragende Rolle in der Bewegung zur Bekämpfung des dortigen Regimes gespielt haben. Es ist bekannt, welche Rolle Imre Nagy einnahm, der reformkommunistische Premierminister, der sein Engagement an der Seite der Aufständischen mit dem Leben bezahlt hat. Weniger bekannt ist, dass der berühmte Petöfi-Kreis, dessen Tätigkeit zu den auslösenden Faktoren der Bewegung gehörte, auf Initiative junger Kommunisten ins Leben gerufen wurde. Weiterhin könnte ich den Namen des großen kommunistischen Philosophen György Lukacs nennen, der sich ebenfalls in diesem Kampf um Reformen engagierte. Faktisch erhob sich während einer ganzen Periode eine kommunistisch inspirierte Protestwelle, deren Kritiken leider erstickt wurden. Die Geschichte wurde nicht im Voraus geschrieben, und das gilt auch heute noch.

Deshalb sollten wir, wo immer dies notwendig ist, die Verbrechen des Stalinismus verurteilen, ohne jedoch den Geist des kalten Krieges wiederzubeleben, der niemals und nirgendwo fruchtbar für die Freiheit und die Unabhängigkeit war. Das vereinigte Europa hat mehr zu gewinnen, wenn es sich entschlossen der Zukunft zuwendet.

(Beifall von links)

 
  
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  Cristiana Muscardini, im Namen der UEN-Fraktion. – (IT) Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Über 2 500 Panzer gegen ein wehrloses Volk, 75 000 Soldaten der Roten Armee, Tausende von Opfern, mehr als 2 000 Menschen erschossen von der durch die Sowjets eingesetzten Kádár-Regierung, 12 000 Gefangene in die Gulags verschleppt, 200 000 Flüchtlinge: Das sind einige der erschreckenden Zahlen, die eine nationale Tragödie zusammenfassen, aber auch den Anfang vom Ende einer Partei und einer Macht, die nach den schmählichen und verhängnisvollen Abkommen von Jalta die Hälfte unseres Kontinents beherrschte.

Die ersten Anzeichen gab es 1953 in Berlin, gefolgt von dem Ruf nach Freiheit in Poznań, Polen, 1956. Stalin war seit drei Jahren tot, doch seine politischen Erben griffen trotzt Chruschtschows Bericht auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Februar 1956, der die unzähligen Verbrechen des georgischen Diktators entlarvte, auf repressive und verbrecherische Methoden zurück, da sie fürchteten, dass ihnen die Macht in Ungarn aus den Händen gleiten könnte.

Der Aufstand endete in einer schrecklichen Tragödie. Die Reformregierung von Imre Nagy wurde gestürzt und er selbst hingerichtet. Erst mit dem Untergang des Sowjetkommunismus war es schließlich möglich, die Opfer der damaligen Zeit zu rehabilitieren. Von den ungarischen Kommunisten und vom Kominform als „Pöbel“ bezeichnet, waren und bleiben sie doch in Wahrheit ein Sinnbild für die Menschenwürde, die von einer der gefühllosesten und brutalsten Diktaturen der Geschichte unterdrückt wurde. Diese unermessliche Tragödie muss uns heute an die Negativität einer Ideologie und einer politischen Praxis erinnern, die Millionen von Opfern in den Gebieten der Welt hinterließen, in denen das Regime errichtet wurde.

Einige von denen, die damals den Einsatz von Panzern und die Hinrichtungen rechtfertigten, üben heute Selbstkritik und sprechen wie immer von Fehlern. Sie sprechen allerdings nicht davon, dass sie die Ideen, die damals wie heute unweigerlich zu Diktatur und Unterdrückung führen, ablehnen würden. Doch nur die völlig offene Ablehnung und Verurteilung dieser Ideen kann uns eine freiheitliche Zukunft garantieren. Indem wir der Tragödie des ungarischen Herbstes gedenken, wissen wir die Union einmal mehr als Bollwerk gegen jede Erniedrigung der Würde des Menschen und der Völker zu schätzen.

Wir rufen außerdem in Erinnerung, dass es immer noch Regime gibt, die das Leben ihrer Bürger in einem eisernen Griff halten und eine Bedrohung für die freien Völker darstellen: die vielen Diktaturen in der Welt, von Nordkorea über Iran bis hin zu Kuba. Doch wir erinnern auch an die Gefahren der neuen Formen des Fundamentalismus. Möge sich der Westen nie wieder für das Schweigen entscheiden, und möge Europa ein Garant für Freiheit und Gerechtigkeit sein.

 
  
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  Johannes Blokland, im Namen der IND/DEM-Fraktion. – (NL) Herr Präsident! Im Europäischen Parlament gedenken wir heute eines tragischen politischen Ereignisses, das sich vor 50 Jahren in Ungarn abspielte. Der Aufstand, der damals ausbrach und einige Tage später von sowjetischen Truppen brutal niedergeschlagen wurde, hat vielen in Westeuropa die Augen für die Gefahren der kommunistischen Ideologie unter dem Diktat von Moskau geöffnet. Die historische Bedeutung von Budapest 1956 geht weit über die lokale oder nationale Ebene hinaus.

Als 13-jähriger Schuljunge begriff ich nur, dass das geliebte Heimatland meiner Mutter einen heldenhaften Kampf um die leidenschaftlich ersehnte Freiheit führte. Die Bilder von Ministerpräsident Imre Nagy und General Pál Maléter sowie der Kampf gegen die russischen Panzer haben sich mir ins Gedächtnis eingegraben. Verzweifelt hofften wir – wider besseren Wissens – auf Unterstützung aus dem Westen. Wie fühlten wir mit den Opfern und den Flüchtlingen. Schon damals lehrten mich meine Eltern, dass Ungarn kein osteuropäisches, sondern ein mitteleuropäisches Land mit starken religiösen und kulturellen Banden zu Westeuropa ist.

Heute, 50 Jahre später, ist der Sowjetblock zusammengebrochen und gehören acht und bald schon zehn ehemalige Satellitenstaaten der Europäischen Union an. Was haben wir aus dieser wiedergewonnenen Freiheit gemacht? Der Nationalsozialismus wurde 1945 besiegt, der Kommunismus 45 Jahre später. Ist an deren Stelle etwas Positives getreten? Sind wir imstande, auf den Trümmern dieser Ideologien eine Gesellschaft der Toleranz, Verantwortlichkeit und Nächstenliebe aufzubauen? Geduld und Beharrlichkeit sind dazu vonnöten.

Da sich der Wiederaufbau in den Niederlanden nach fünf Jahren Besatzung über fünfzehn Jahre erstreckte, wird es möglicherweise einige Generationen dauern, bis alle Wunden einer 50-jährigen Unterdrückung geheilt sind. Möge das ungarische Volk den Mut und die Kraft aufbringen, um gemeinsam die Vergangenheit zu überwinden und geeint an einer Zukunft in Frieden und Freiheit zu arbeiten.

 
  
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  Luca Romagnoli (NI). – (IT) Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Feierlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestages des antikommunistischen Aufstands lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Krise, die die sozialistische Regierung von Ferenc Gyurcsány gegenwärtig durchlebt. Die neue ungarische Elite hat die Revolution von 1956 und die kommunistischen Symbole wiederaufleben lassen, um den Liberalismus zu rechtfertigen.

Diese Strategie soll der gegenwärtigen Regierung angesichts ihrer Verbindung zur kommunistischen Intelligenz Legitimität verleihen und die Bevölkerung besänftigen, die die sozialen Auswirkungen des Liberalismus nun ernsthaft zu spüren beginnt. Denn Kommunismus läuft auf ein angeblich soziales Alibi für die Ausbeutung des Menschen hinaus, was heute noch durch China bewiesen wird.

Ungarn hat seinen Platz in der Europäischen Union, weil es durch seine Erfahrung aus dem Widerstand gegen den Totalitarismus ein neues politisches Verständnis und, wie 1956, seine allbekannte Fähigkeit, Hoffnung zu säen, mit einbringt.

Heute, bei den Protesten der extremen Rechten gegen Premierminister Ferenc Gyurcsány, der zugegeben hat, die wirtschaftliche Lage falsch dargestellt zu haben, um die Wahlen vom April zu gewinnen, demonstrierten 100 000 Menschen in Budapest anlässlich des 50. Jahrestags. Die Demonstranten gerieten Stunden lang auf den Straßen mit Polizisten aneinander, was zu Verhaftungen und Verletzungen führte. Die Anhänger der führenden rechten Oppositionspartei erheben für sich den Anspruch, die wahren Erben von 1956 zu sein.

Meiner Meinung nach geht es nicht darum, die Geschichte umzuschreiben, die jeder kennt bzw. die von den europäischen Sozialisten und Kommunisten nicht anerkannt wird. Man macht es sich zu einfach, wenn man an die Gefühle appelliert, indem man an die Körper der Männer, Frauen und Kinder erinnert, die unter den Schlägen der Sowjetunion im Namen des Kommunismus gefallen sind. Die italienischen Kommunisten, Ungarn und die kommunistischen Parteiführer stellten sich auf die Seite der UdSSR gegen die ungarischen Aufständischen. Der Generalsekretär der IKP, Palmiro Togliatti, und sein Nachfolger Luigi Longo bekundeten wiederholt, auch noch Jahre später, ihre Solidarität und zeigten sich zufrieden, dass die internationalistische Gerechtigkeit wiederhergestellt worden ist.

Der gegenwärtige Präsident der Italienischen Republik, Giorgio Napolitano, meldete sich in der Tageszeitung „L'Unità“ zu Wort und verurteilte die Revolutionäre als Banditen und gemeine Provokateure. 50 Jahre später, in seiner Autobiografie, nimmt er diese Erklärung nicht zurück, sondern erklärt lediglich, was jeder weiß, nämlich dass die Italienische Kommunistische Partei und der europäische Sozialismus im Ganzen damals untrennbar mit dem Schicksal des von der UdSSR geführten sozialistischen Lagers verbunden waren.

Wir sollten nicht so sehr die Großmachtbestrebungen der UdSSR verdammen, sondern strengstens all jene verurteilen, die sich damals begeistert entschlossen, den Einmarsch im Namen des kommunistischen und sozialistischen Internationalismus zu unterstützen.

 
  
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  Der Präsident. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt geschlossen.

Schriftliche Erklärungen (Artikel 142)

 
  
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  Athanasios Pafilis (GUE/NGL).(EL) Die Aussprache im Europäischen Parlament und die zum 50. Jahrestag des Ungarnaufstands eingereichten Entschließungsanträge stellen einen weiteren organisierten Versuch dar, die Geschichte umzuschreiben und den Antikommunismus anzuheizen.

Die Feiern von Vertretern des Kapitalismus und die Anwesenheit des Nato-Generalsekretärs, des Kommissionspräsidenten und anderer führender Repräsentanten des Imperialismus bei der Veranstaltung in Budapest sind der beste Beweis für die Ziele des Ungarnaufstands, der Sturz des sozialistischen Systems und die Wiederherstellung des Kapitalismus.

Darüber hinaus liefert die Veröffentlichung offizieller Dokumente, die die aktive Beteiligung von Imperialisten und die organisierte Unterstützung der revolutionären Kräfte beweisen, die beste Antwort an diejenigen, die den Charakter der Geschehnisse verfälschen, indem sie sie als Volksaufstand bezeichnen.

Die Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) und europäischer Demokraten, die Sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament, die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa und die Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz rufen wie üblich und einander nachäffend nach Demokratie und Freiheit und versuchen damit, die kapitalistische Barbarei zu rechtfertigen und sie als einzig gangbaren Weg für die Völker darzustellen. Zugleich verbergen sie ihre Angst vor dem Sozialismus, was eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist.

Mit ihrem Standpunkt nehmen die linken Kräfte eine enorme politische Verantwortung auf sich. Obwohl sie um die untergrabende und aggressive Rolle des Imperialismus in den ehemaligen sozialistischen Ländern und ihre mörderische Rolle bei allen Volksbewegungen wissen, übernehmen sie unter dem Namen der „Objektivität“ die imperialistische Propaganda. Zu den Ereignissen stellen sie sich nicht klassenbewusst und verschaffen so dem Imperialismus ein Alibi.

 
  
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  Alessandro Battilocchio (NI). – (IT) Ich spreche mit großem Stolz im Namen der Neuen Sozialistischen Partei Italiens, einer kleinen Gruppe kompromissloser italienischer Sozialisten, die stets ihrem Weg treu geblieben sind und die Angebote derjenigen abgelehnt haben, die uns sowohl von rechts als auch von links zum Aufgeben aufgefordert haben.

Dieser rote Faden der Unabhängigkeit, der bis in unsere Tage reicht, hatte 1956 einen kritischen Moment: Damals verurteilte die Sozialistische Partei Italiens unter Pietro Nenni auf das Schärfste den Gewaltangriff der Kommunisten, die die Hoffnungen des ungarischen Volkes im Blut ertränkten und die Aufständischen niedermetzelten. Das war der Nationalaufstand eines stolzen Volkes, das nicht nur gegen das körperliche und seelische Leid ankämpfte, das ihm der Kommunismus zufügte, sondern auch gegen die politische und kulturelle Eintönigkeit, die die Traditionen, die Identität und den Patriotismus des ungarischen Volkes erstickt hatte. Wie die Tragödien der nachfolgenden Jahre beweisen, war es immer ein krasser Widerspruch, in einem Atemzug von Kommunismus und Freiheit zu sprechen: Die Mitglieder der Neuen Sozialistischen Partei Italiens werden nie müde werden, diese Wahrheit, die zu lange Zeit in Italien von der Kommunistischen Partei geleugnet wurde, zu wiederholen.

Deshalb ehren wir die 5 000 ungarischen Märtyrer, die sich der Ungerechtigkeit nicht beugten und bis zum Tode kämpften, um ihr Recht auf eine bessere Zukunft, auf eine Perspektive der Freiheit, der Demokratie und des Friedens geltend zu machen.

 
  
  

VORSITZ: DAGMAR ROTH-BEHRENDT
Vizepräsidentin

 
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