Der Präsident. − Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eine besondere Ehre und Freude, im Rahmen des Europäischen Jahres des interkulturellen Dialogs heute im Europäischen Parlament Seine Eminenz Sheikh Ahmad Badr Al-Din Hassoun, den Großmufti von Syrien, herzlich willkommen zu heißen.
(Beifall)
Wie ich letzte Woche in Ljubljana bei der Eröffnungszeremonie dieses Europäischen Jahres des interkulturellen Dialogs nachdrücklich betont habe, ist für das Europäische Parlament dieses Europäische Jahr des Dialogs der Kulturen von großer Bedeutung.
Ich bin tief überzeugt — und viele mit mir —, dass ein friedliches Zusammenleben von Kulturen und Religionen sowohl in der Europäischen Union als auch mit den Völkern in allen Regionen der Welt, insbesondere jenseits des Mittelmeers, im Nahen Osten, zugleich möglich und notwendig ist! Denn das Ergebnis eines solchen Vorhabens wird unsere gemeinsame Zukunft nachhaltig prägen. Wir müssen gemeinsam eine geistige und kulturelle Brücke über das Mittelmeer bauen, die auf gegenseitiger Bereicherung und gemeinsamen Werten beruht.
Diese Brücke bauen wir durch einen ständigen, ehrlichen und offenen Dialog, in dem wir einander zuhören, unsere Meinungen offen austauschen und ein gegenseitiges Verständnis entwickeln.
Der Kern des interkulturellen Dialogs ist die Toleranz. Toleranz bedeutet nicht Beliebigkeit. Toleranz bedeutet eigene Standpunkte zu vertreten und die Überzeugung des anderen zu hören und zu respektieren.
Dort, wo es nicht möglich ist, den anderen Standpunkt zu akzeptieren, ist es gleichwohl notwendig, den Auffassungen mit Respekt zu begegnen und sich friedlich auszutauschen und, wo immer es geht, gemeinsames Handeln zu ermöglichen und dadurch Spannungen zu entschärfen.
Wir müssen unsere Gemeinsamkeiten, ja die Substanz der universellen demokratischen Werte betonen. Dazu gehören vor allem die Würde des Menschen und die Verteidigung der unveräußerlichen Menschenrechte.
Das Europäische Parlament wird im Laufe des Jahres 2008 und darüber hinaus mehrmals die Gelegenheit ergreifen, solche Gespräche zu führen. Der heutige Besuch des Großmuftis von Syrien bildet die erste Gelegenheit dazu. Ahmad Badr Al-Din Hassoun, der frühere Mufti von Aleppo, gilt als herausragender Verfechter des interreligiösen Dialogs in einem Lande, wo die religiösen Gemeinschaften in ihrer Vielfalt bis heutzutage friedlich zusammenleben und -wirken.
Ein deutliches Zeichen dafür ist auch die Tatsache, dass der Großmufti bei seinem heutigen Besuch von hochrangigen religiösen Führern begleitet wird — das war sein ausdrücklicher Wunsch —, und hier möchte ich insbesondere den Vorsitzenden der chaldäischen Bischöfe, Bischof Antoine Audo, sehr herzlich begrüßen!
Eminenz! Ich freue mich sehr Sie jetzt bitten zu dürfen, vor dem Europäischen Parlament das Wort zu ergreifen!
(Beifall)
Ahmad Badr Al-Din Hassoun, Großmufti von Syrien. −
(Der Redner spricht Arabisch. Es folgt eine Niederschrift der englischen Dolmetschfassung.)
Ich grüße Sie im Namen unseres Schöpfers, der die Menschheit aus ein und derselben Erde geschaffen hat und durch dessen Seele wir zum Leben erweckt wurden. Die Quelle der Energie, die uns erleuchtet, stammt vom den einzigen Gott, dem Schöpfer; wir sind seine Geschöpfe und folglich grüße ich Sie als Brüder auf diesem Planeten, meine Brüder im Geiste, meine Mitmenschen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, verehrte Abgeordnete! Ich bin zu Ihnen gekommen aus einem Land, das nicht ich gewählt habe, sondern der Himmel hat entschieden, dass ich sein Bürger sein möge. Dieses Land, das wir das „gesegnete Land“ nennen, das Land Al-Sham, das den Libanon, Palästina, Syrien, Jordanien und Israel umfasst, dieses Land, das alle Kulturen des Himmels vereint: Der Prophet Abraham hat unser Land durchschritten, der Prophet Moses führte dort ein glückliches Leben, und Jesus (möge Gott ihn segnen) wurde in unserem Land geboren, und von unserem Land stieg er in den Himmel auf. Mohammed, der Prophet, kam aus Mekka in unser Land, wo er ebenfalls in den Himmel gehoben wurde. Deshalb möchte ich, dass Sie die Bedeutung dieses Landes verstehen, das eine Quelle des Lichts und der Erleuchtung war, ohne die wir keine Christen oder Anhänger von Abraham und Moses wären, und wir wären keine Muslime und hätten nicht die Aufgabe, die göttliche Botschaft in die Welt zu tragen.
Deshalb danke ich Ihnen von ganzem Herzen, und ich danke dem Präsidenten des Parlaments, der mir gestattet hat, diese kulturelle Aussprache im Jahr des interkulturellen Dialogs zu eröffnen.
Ich sage Kulturen, aber eigentlich gibt es keine verschiedenen Kulturen, sondern es gibt nur eine einzige Kultur.
Die Kulturen haben die Kultur der Menschheit beeinflusst und bereichert, und die Kultur ist unsere eigene Schöpfung: wir haben die Kultur erschaffen. Dieses Parlament wurde nicht durch einen Christen oder einen Juden oder einen Muslim erbaut, sondern durch einen Menschen. Dieser Bau ist ein Symbol der Kultur.
Wir alle sind Teil einer einzigen Kultur, der Menschheitskultur. Deshalb glauben wir in unserer Region nicht an einen Konflikt der Kulturen. Das Universum kennt nur eine einzige Kultur. Doch verschiedene Kulturen können existieren oder koexistieren.
(Beifall)
Schauen wir uns also an, wo ein Kampf der Kulturen stattfindet. Konflikte gibt es dort, wo es Ignoranz, Terrorismus und Rückständigkeit gibt. Doch ein kultivierter Mensch hält unabhängig von seiner Religion meine Hand, damit wir die Menschheitskultur gemeinsam aufbauen können. Als der Mensch auf dem Mond landete, bestanden die damalige sowjetische Agentur und die NASA nicht nur aus Amerikanern oder Russen, ihnen gehörten auch Europäer, Italiener, Deutsche, Franzosen, Belgier und Araber an. Gemeinsam errichteten sie die Zivilisation, die es dem Menschen ermöglichte, in den Weltraum zu fliegen.
Schauen wir uns noch einmal die Terminologie bzw. den Begriff „Konflikt“ der Kulturen oder Zivilisationen an. Das ist gefährlich, denn Zivilisationen können nicht getrennt errichtet werden. Die Menschen, die die Pyramiden gebaut haben, sind unsere Urgroßväter, und diejenigen, die die Pyramiden in Chile gebaut haben, zählen auch zu unseren Urgroßvätern, folglich gibt es, wie ich bereits sagte, nur eine Zivilisation.
Ein zweiter Punkt. Hat die Zivilisation eine Religion? Oder ist es eine menschliche Kultur, in der die Religion ihre moralischen Werte propagiert? Es gibt keine islamische Zivilisation oder christliche Zivilisation oder jüdische Zivilisation. Die Religion verleiht der Zivilisation ihre moralischen Werte. Gott schuf die Religion, aber wir schaffen die Kulturen. Das ist unser Werk, doch die Religion ist das Werk Gottes. Deshalb dürfen wir die Zivilisation nicht beschränken, denn sie ist das Ergebnis unseres Wirkens, während die Religion, wie ich bereits sagte, das Werk Gottes ist.
Wer erschafft die Zivilisation? Die Menschheit – Sie und ich. Wer sind wir, Sie und ich? Sind Sie anders als ich? Nein. Sie sind nicht die andere Partei. Das Tier ist die andere Partei, Sie aber sind mein Bruder oder meine Schwester, ganz gleich, welche Sprache Sie sprechen oder welche Religion Sie ausüben, denn meine Mutter ist Ihre Mutter, mein Vater ist Ihr Vater, und das Land ist unsere Mutter, und Abraham ist unser Vater. Lassen Sie uns deshalb eine neue Generation erschaffen und dazu erziehen, in den Tieren die „Anderen“ zu sehen. Doch der Mensch ist unabhängig von seiner Religion oder Herkunft mein Bruder oder meine Schwester, und sein Blut ist mein Blut. Sein Geist ist auch der meine, und seine Ideen sind die meinen, seine Freiheit ist meine Freiheit, und seine Kultur unterscheidet sich von meiner Kultur. Lassen Sie uns also die Zivilisation gemeinsam aufbauen. Wir glauben in unserer Region nicht an die Multiplizität der Religionen: multiple Religionen gibt es nicht.
Abraham, Moses, Jesus und Mohammed hatten eine einzige Religion – die Anbetung Gottes und die Würde der Menschheit. Recht und Gesetz ändern sich von Zeit zu Zeit und von Periode zur Periode. Es kann viele Gesetze geben, aber nicht viele Religionen. Deshalb sind Ihr Gott und unser Gott ein und derselbe Gott, und wir alle beten denselben Schöpfer an. Deshalb kann es keine religiösen Konflikte geben. Das veranlasst mich zu der Feststellung, dass es keinen heiligen Krieg gibt. Ich glaube nicht an heilige Kriege, weil ein Krieg niemals heilig sein kann: Frieden ist heilig!
(Beifall)
Lassen Sie uns deshalb unsere Kinder in Schulen, Kirchen und an religiösen Orten sowie in Moscheen lehren, dass nicht die Kaaba oder die Al-Aqsa-Moschee oder die Dreifaltigkeitskirche heilig ist, sondern der Mensch – die Menschheit ist das größte Heiligtum des Universums, und ihre Bedeutung übersteigt die aller anderen Heiligtümer.
(Beifall)
Warum sage ich Ihnen das, meine Damen und Herren? Weil die Kaaba von Abraham geschaffen wurde, einem Menschen, und die Mauer in Mekka wurde von einem Juden erbaut, und die Dreifaltigkeitskirche von einem Christen – doch wer erschuf den Menschen? Das ist das Werk des Schöpfers, und wer das Werk des Schöpfers zerstört, der sollte unsere Achtung verlieren.
Wer ein israelisches oder irakisches Kind tötet, muss sich vor Gott verantworten, denn diese Kinder sind ein Werk Gottes auf diesem Planeten, und wir haben dieses Werk zerstört. Können wir diesen Menschen ihr Leben zurückgeben? Wenn die Kaaba zerstört würde, dann könnten unsere Kinder sie wieder aufbauen, und wenn die Al-Aqsa-Moschee zerstört würde, dann könnten wir sie wieder aufbauen. Wenn die Dreifaltigkeitskirche zerstört würde, dann würde die nächste Generation sie wieder aufbauen, aber ich frage Sie, wenn ein Mensch getötet wird, wer kann ihm sein Leben zurückgeben?
Deshalb grüße und lobe ich Europa, das mich eingeladen hat, hierher zu kommen. Und so wende ich mich zunächst an Sie und rufe Sie auf, dafür Sorge zu tragen, dass der Dialog zwischen den Kulturen offen ist und nie abbricht, damit wir Staaten auf einer zivilrechtlichen Grundlage aufbauen können – keiner religiösen oder ethnischen Grundlage, denn die Religion ist die Beziehung zwischen Ihnen und Gott – doch wir müssen friedlich in dieser Welt zusammenleben. Ich zwinge Ihnen nicht meine Religion auf, und Sie zwingen mir nicht Ihre Religion auf. Das ist eine Sache zwischen uns und dem Schöpfer.
Lassen Sie uns eine neue Generation erziehen, die daran glaubt, dass die Zivilisation der Menschheit ein gemeinsames Werk ist und dass Menschheit und Freiheit die höchsten Güter sind – selbstverständlich nach Gott. Wenn wir Frieden für die Welt anstreben, dann sollten wir im Land des Friedens beginnen: in Palästina und Israel. Deshalb sollte unsere Botschaft an alle Menschen in Anlehnung an das, was der Papst schon vor Jahren sagte, lauten: Lasst uns keine Mauer bauen, sondern die Brücken des Friedens, denn Palästina ist das Land des Friedens. Wenn man bedenkt, wie teuer der Bau dieser Mauer ist, dann könnte man mit diesen Mitteln christlichen, jüdischen und muslimischen Kindern den Besuch einer gemeinsamen Schule und ein Zusammenleben als Brüder und Schwestern in einer Schule des Friedens ermöglichen.
(Beifall)
Ja, wir haben Ihnen im vergangenen Jahr in Syrien unsere Hand geboten. Präsident Bashar al-Asad hat der Welt seine Hand geboten und erklärt: „Ich will wahren Frieden.“ Ich werde heute keine Waffe tragen, aber ich werde stets die Worte des Friedens bei mir tragen und der Welt zurufen: Ab morgen keine Kriege mehr! Der Sieger des Krieges wird der Verlierer sein, auch wenn er zeitweilig siegreich ist, denn er hat getötet. Doch die wahren Sieger werden jene sein, die zum Bruder anderer Menschen werden. Nicht das Land ist geheiligt, sondern der Mensch. Lassen Sie uns also eine heilige Welt aufbauen, in der der Mensch der Heilige wird.
Deshalb bitte ich Sie, den Medien keinen Glauben zu schenken, denn die Medien sagen oftmals nicht die Wahrheit. Viele von Ihnen haben mich in Syrien besucht und sind in meine Moschee gekommen, und ich bin mit ihnen in die Kirchen gegangen, und sie haben gesehen, wie wir als eine einzige Familie leben. Wir glauben nicht an das einfache Zusammenleben, sondern an ein Leben in der Familie. Ganz gleich, ob wir Muslime, Juden oder Christen sind, wir glauben an das eine Haus – das Haus des Lebens.
Wie Sie bin ich Parlamentsabgeordneter. In dem Moment, als ich vor zehn Jahren in Syrien das Parlament betrat, fühlte ich, dass ich nicht meine politische Partei oder meine Fraktion vertrat, denn ich war unabhängig; sondern ich vertrat jede Person, die mich gebeten hatte, sie zu vertreten, und ich vertrat jede Person, die mich nicht gebeten hatte, sie zu vertreten, weil sie mein Bruder oder meine Schwester ist. Damit war ich ein Vertreter aller Bürger meines Landes. Vertreten Sie Ihre Länder oder politischen Parteien, oder vertreten Sie die Menschen? Bitte vertreten Sie uns und Ihre Menschen, denn die Menschheit ist im Universum einmalig.
Ja, Sie müssen uns in Fragen des Friedens, der Wahrhaftigkeit und des Glaubens vertreten. Die islamische Welt ist heute Zeuge von Kriegen in vielen ihrer Länder. Diese Welt muss Frieden schaffen, sie hat immer Frieden gewollt, und wenn es bestimmte Krisen gibt, dann sind sie ein Ergebnis der Ungerechtigkeit. Das Christentum hat den Auftrag, den Frieden zu sichern. Worin sollte andernfalls die Mission von Propheten wie Moses bestehen, der zum Frieden aufrief? Niemand wollte töten, und jeder, der einen Menschen töten will, würde sich im Widerspruch zu seinem Glauben und seiner Religion befinden. Man darf die Religion nicht zum Töten benutzen; die Religion steht für Frieden und Leben.
Ja, das ist meine Botschaft aus meinem Land, aus einem Land, das vom Himmel gesegnet ist und in dem alle Propheten lebten und wirkten.
Die Frau genießt in unserem Land hohes Ansehen, sie ist würdevoll, ganz gleich, ob sie Jüdin, Christin oder Muslimin ist, auch wenn sie vielleicht vom Mann ungerecht behandelt wurde. Frauen nehmen auf allen Ebenen unseres Landes am Leben teil, und die führenden Vertreter meines Landes, einschließlich des Präsidenten, rufen zur Einbeziehung der Frauen in alle Bereiche der Gesellschaft auf.
Diese Stadt ist ein Begriff für den Frieden. Ich habe ihren Aufbau verfolgt und erklärt, dass Europa das Wunder des 20. Jahrhunderts ist. Dieses Wunder, das Zeuge des Ersten und des Zweiten Weltkrieges war und schließlich, ohne einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen, die Berliner Mauer niederriss. Ganz Europa und alle seine Menschen sind in einem Parlament vereint. Könnten Sie uns beim Aufbau eines solchen Parlaments – eines menschlichen, geistigen und alles umfassenden Parlaments helfen? Bitte helfen Sie uns, denn Syrien und die gesamte islamische Welt – Muslime wie Christen – erwarten Sie.
In Anbetracht der Tatsache, dass Damaskus in diesem Jahr arabische Kulturhauptstadt ist und Sie dieses Jahr zum Jahr des interkulturellen Dialogs ausgerufen haben, würde ich Sie abschließend bitten, einem Treffen der Kulturen in Damaskus, der arabischen Kulturhauptstadt, zuzustimmen. Unsere Botschaft sollte sein, dass es nur eine Welt gibt und dass wir dem Libanon unsere Hand reichen, denn der Libanon hat ein Volk, und wir sollten alle zur Schaffung eines Libanon, eines wahren Palästinas, eines wahren Israels, eines wahren Iraks, eines Landes des Friedens für jeden Menschen, beitragen.
(Anhaltender Beifall)
Der Präsident. − Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr Beifall zeigt, dass ich in Ihrer aller Namen Sheikh Ahmad Badr Al-Din Hassoun, dem Großmufti von Syrien, herzlich für seine Botschaft gegen die Gewalt, gegen den Krieg, gegen den Terrorismus danken darf. Er stellt die Würde des Menschen in den Mittelpunkt, und das ist die Grundlage der Zusammenarbeit zwischen den Kulturen, es ist die Toleranz, die bedeutet, wir haben unseren eigenen Standpunkt, wir müssen den Standpunkt des anderen nicht akzeptieren, aber wir respektieren ihn und leben so unter Anerkennung der Würde des Menschen friedlich auf dieser Erde zusammen. Herzlichen Dank, Ahmad Badr Al-Din Hassoun, für Ihre Rede hier vor dem Europäischen Parlament!