(Es spielt das Jugendorchester unter der Leitung von Pavel Kotla.)
Der Präsident. − Das war ein wunderschöner Beitrag des Europäischen Jugendorchesters unter dem Dirigenten Pavel Kotla. Herzlichen Dank!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Feier anlässlich des 50. Jahrestages der Konstituierung der Europäischen Parlamentarischen Versammlung möchte ich Sie alle sehr herzlich begrüßen. An erster Stelle möchte ich Sie bitten, wenn Sie wollen, gemeinsam durch Klatschen alle früheren Präsidenten, die heute hier sind, zu begrüßen, nämlich Emilio Colombo, Lord Henry Plumb, Enrique Barón Crespo, Egon Klepsch, Klaus Hänsch, José Maria Gil Robles, Nicole Fontaine und Josep Borrell Fontelles. Herzlich willkommen, verehrte, liebe ehemalige Präsidenten!
(Anhaltender Beifall)
Ich begrüße sehr herzlich den Präsidenten des Europäischen Rates, Janez Janša, und auch den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Durão Barroso. Sie, Herr Barroso, sind ja oft hier bei uns im Plenarsaal, aber heute besonders herzlich willkommen.
(Beifall)
Es ist eine besondere Freude, den Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Lluís Maria de Puig, hier im Plenarsaal des Europäischen Parlaments zu begrüßen. Herzlich willkommen!
(Beifall)
Es ist eine Freude, die Präsidenten der Parlamente Belgiens, Herman van Rompuy, Italiens, Fausto Bertinotti, und des holländischen Senats, Yvonne Timmerman-Buck, zusammen mit weiteren Vertretern der Parlamente aus Bulgarien, Tschechien, Deutschland, Estland, Irland, Frankreich, Lettland, Litauen, Luxemburg, Polen, Portugal, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, dem Vereinigten Königreich und Ungarn sehr herzlich im Europäischen Parlament zu begrüßen.
(Beifall)
Ich begrüße die Präsidenten der anderen europäischen Institutionen: für den Europäischen Gerichtshof den Präsidenten der ersten Kammer des Europäischen Gerichtshofs Peter Jann, für den Europäischen Rechnungshof Herrn Präsident Viktor Caldeira, für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss Dimitris Dimitriadis, für den Ausschuss der Regionen Luc Van den Brande und als Ombudsman Nikoforos Diamandouros. Herzlich willkommen im Europäischen Parlament!
(Beifall)
Es ist eine Freude, die kommunalen und regionalen Vertreter hier zu begrüßen: die Bürgermeisterin von Straßburg, Fabienne Keller, den Präsidenten des Regionalrats Elsass, Adrien Zeller, den Präsidenten des Conseil Général du Bas-Rhin, Philippe Richert, und den Präfekten der Region Elsass und Bas-Rhin, Jean-Marc Rebière. Herzlich willkommen hier im Europäischen Parlament!
(Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Platz 146 sitzt unsere Kollegin, Astrid Lulling. Sie ist die einzige im Europäischen Parlament, die noch dem nicht direkt gewählten Europäischen Parlament angehört hat.
(Anhaltender Beifall)
Vor fast genau fünfzig Jahren, am 19. März 1958, trat hier in Straßburg – im damaligen „Maison de l'Europe“ – erstmals die Gemeinsame Parlamentarische Versammlung der drei Institutionen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Atomgemeinschaft und Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammen, bestehend „aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“, wie es in den Römischen Verträgen hieß, welche wenige Wochen zuvor in Kraft getreten waren.
Wir erinnern heute an diesen Jahrestag, weil wir in der Kontinuität dieser Parlamentarischen Versammlung – mit ihren ursprünglich 142 Abgeordneten – stehen.
Der erste Präsident der gemeinsamen Parlamentarischen Versammlung war der große Robert Schuman. In seiner Eröffnungsrede erklärte er, dass der Versammlung eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung eines europäischen Geistes zukomme, und er sagte: „für den die Versammlung der Schmelztiegel war und bleiben wird.“ Das gilt – glaube ich – auch heute. Zugleich ermahnte er seine Kolleginnen und Kollegen schon bei der Gründungssitzung, dass eine parlamentarische Arbeit mit 142 Abgeordneten – aus damals sechs Ländern – von allen Disziplin verlange, was natürlich heute, mit 785 Abgeordneten aus 27 Ländern, um so mehr gilt, wie wir alle wissen!
Schon kurz nach der Gründungsversammlung begannen unsere Vorgänger, ihre Institution informell als „Europäisches Parlament“ zu bezeichnen – eine Formulierung, die in den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften nicht vorkam. Vier Jahre später, im März 1962, fasste die Parlamentarische Versammlung dann auch den Beschluss, sich selbst als „Europäisches Parlament“ zu bezeichnen.
Obwohl die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften vorsahen, dass „die Versammlung Entwürfe für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten“ ausarbeiten und der Ministerrat „einstimmig die entsprechenden Bestimmungen erlassen und sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfehlen“ sollte, dauerte es bis 1976, dass der Ministerrat auf der Basis einer Empfehlung des Europäischen Parlaments am 20. September 1976 einen entsprechenden Rechtsakt erließ, mit dem die Durchführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen zum Europäischen Parlament beschlossen wurde.
Die Parlamentarische Versammlung hatte ursprünglich kaum eigene Rechte. Unsere Vorgänger ahnten, dass vor Ihnen ein langer Weg der europäischen Parlamentarisierung liegen würde, der von ihnen und den folgenden Generationen einen klaren Kompass, beherzte Eigeninitiative und geduldige Ausdauer verlangte. Das Europäische Parlament erstritt sich Zug um Zug immer mehr Rechte, wurde sich seiner Verantwortung und seiner Möglichkeiten immer mehr bewusst und macht – ich meine, das im Namen aller hier Anwesenden feststellen zu dürfen – heute seinem Namen alle Ehre.
(Beifall)
Wir sind die Vertretung von nahezu 500 Millionen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern. Wir spiegeln alle in der Europäischen Union verbreiteten politischen Strömungen wider. Wir sind das frei gewählte Parlament der Europäischen Union, vereint im Ringen um die besten Überzeugungen. Wir sind selbstbewusst und ein Machtfaktor in der europäischen Politik geworden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben Anlass, uns darüber von Herzen zu freuen.
Die wichtigsten Etappen dieses Weges, der 1958 begann, waren immer Wegmarken eines gemeinsamen Weges zur europäischen Einigung: 1971 erhielt die Europäische Gemeinschaft einen eigenen Haushalt; das Europäische Parlament ist seither an der Verabschiedung des Haushalts maßgeblich beteiligt. 1979 fand die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. 1986 wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte der Begriff „Europäisches Parlament“ endlich rechtskräftig. Mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages erhielt das Europäische Parlament vor fünfzehn Jahren in den ersten Bereichen der Gemeinschaftspolitik das volle Mitentscheidungsrecht – und damit die Möglichkeit, Gesetzesentwürfe wesentlich zu gestalten und gegen den Willen des Ministerrates notfalls auch zu verhindern. Das Mitentscheidungsrecht wurde mit dem Vertrag von Amsterdam weiter ausgebaut. Der Vertrag von Lissabon wird das Verfahren der Mitentscheidung faktisch zum Regelfall der europäischen Gesetzgebung erheben – und spricht daher in angemessener Weise auch vom „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“.
Heute sind wir 785 Abgeordnete aus 27 europäischen Nationen. Wir vertreten über 150 nationale politische Parteien, von denen die meisten in sieben Fraktionen zusammengeschlossen sind. Wir sind gemeinsames Legislativ- und Haushaltsorgan, gleichberechtigt mit dem Ministerrat. Wir kontrollieren die Europäische Kommission, wählen ihren Präsidenten oder ihre Präsidentin, und die Kommission bedarf, um ins Amt zu kommen, unseres Vertrauens. Wir sind Anwalt für den Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Wir sind die Bürgerkammer der Europäischen Union.
Der von uns bereits vor drei Wochen gebilligte Lissabonner Reformvertrag wird unsere Rechte weiter stärken. Wichtige Fragen, die heute die Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union beschäftigen, werden künftig nur noch dann entschieden werden können, wenn die Mehrheit des Europäischen Parlaments zustimmt. Dies gilt auch für die wichtigen Fragen der Innen- und Rechtspolitik. All dies ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit und es ist keineswegs das Ergebnis eines selbstverständlichen Prozesses gewesen. Wir haben darum gekämpft!
Ich möchte den vielen Kolleginnen und Kollegen Dank sagen, die sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten unter Führung unserer Präsidenten für die Stärkung des Parlamentarismus im Rahmen der europäischen Einigung eingesetzt und damit verdient gemacht haben. Herzlichen Dank an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gestern und heute!
(Beifall)
Jean Monnet hat einmal gesagt: „Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft ohne Institutionen.“ Und ich möchte an Paul Henri Spaak erinnern, den ersten Präsidenten der Gemeinsamen Parlamentarischen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) – der Institution, die dem Europäischen Parlament vorausgegangen ist –, der durch seinen Bericht nach der Konferenz von Messina im Juni 1955 einen wesentlichen Anteil an der Vorbereitung der Römischen Verträge hatte.
Der Weg der parlamentarischen Demokratie in der Europäischen Union ist einer Logik gefolgt, wie wir sie in ähnlicher Weise aus der Geschichte der europäischen Nationalstaaten kennen. Die institutionelle Balance, die wir heute zwischen nationaler und europäischer Ebene geschaffen haben, ist ein großer Erfolg des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Ebenen des Miteinander-Regierens in Europa. Zu dieser Balance gehört auch die gute Zusammenarbeit des Europäischen Parlaments mit den nationalen Parlamenten, die uns besonderes am Herzen liegt. Ich freue mich, dass nahezu alle nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier heute hochrangig vertreten sind.
(Beifall)
Ich bitte Sie alle – uns, die Mitglieder des Europäischen Parlaments und die nationalen Parlamente –, dass wir uns auch in Zukunft um diese gute Zusammenarbeit bemühen.
Der Reformvertrag von Lissabon und die Charta der Grundrechte werden entscheidend dazu beitragen, auf allen Ebenen Demokratie und Parlamentarismus in der Europäischen Union zu verwirklichen. Wir können stolz darauf sein, dass wir uns immer für den Reformvertrag und für die Charta der Grundrechte ohne Wenn und Aber eingesetzt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall)
Wir brauchen die kritische Öffentlichkeit, die kritische Begleitung unserer Arbeit. Aber wir haben auch Anspruch auf Fairness. Die Europäische Union mit ihrer Vielfalt ist kompliziert wie keine Gemeinschaft in der Welt. Dies bitte ich die Medien, die wir für die Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern dringend brauchen, zu berücksichtigen. Vor allem darf die Europäische Union nicht als Sündenbock für nationales Versagen missbraucht werden.
(Beifall)
Zu den größten Erfolgen unserer europäischen Vision in den letzten 50 Jahren gehört, dass Demokratie und Freiheit sich in ganz Europa durchgesetzt haben. Die Mitgliedschaft von Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Bulgarien, Rumänien und des wiedervereinten Deutschlands bleibt eine Errungenschaft, von der wir geträumt haben und die in unseren Tagen Wirklichkeit geworden ist. Heute sind wir – wie die Berliner Erklärung vom 25. März 2007 sagt – „zu unserem Glück“ vereint. Dies ist Anlass zu großer Freude.
Zu einer Bestandsaufnahme der letzten 50 Jahre gehört vor allem auch ein Ausblick in die Zukunft. Wir sollten uns selbstkritisch daran erinnern, welche Aspekte des europäischen Parlamentarismus bis heute unbefriedigend bleiben:
Im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten fehlt uns bis heute die Möglichkeit, im Rahmen des Haushaltsverfahrens über die Erhebung eigener finanzieller Ressourcen zu entscheiden.
Parlamentsherrschaft geht üblicherweise einher mit einer parlamentarischen Kontrolle des Militärwesens; die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union bleibt unvollendet ohne eine vernünftige Verbindung nationaler und europäischer Verantwortung.
Noch immer fehlt uns ein gemeinsames, einheitliches Wahlrecht. Damit fehlt uns eine wichtige Voraussetzung, um wirkungsvolle europäische Parteien zu haben, die mit gemeinsamen Listen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament antreten.
Mit Geduld, langem Atem und einem klaren Kompass hat sich das Europäische Parlament seit der ersten Sitzung der Europäischen Parlamentarischen Versammlung seinen Platz erkämpft. So wird, so soll und so muss es weitergehen. Als direkt gewählte supranationale Volksvertretung ist das Europäische Parlament – und ich merke es und Sie merken es bei den Reisen in die Welt – zum Vorbild für ähnliche Bemühungen in anderen Regionen der Erde geworden.
Als Robert Schuman am 19. März 1958 sein Amt als erster Präsident der Europäischen Parlamentarischen Versammlung antrat, war eine solche positive Entwicklung des Parlamentarismus in Europa kaum vorauszusehen. Aber Robert Schuman hatte eine Vision. Er sprach von der europäischen Idee, die reaktiviert werden müsse, von „la relance de l’idee européenne“. Was könnte heute, nach den krisenhaften Entwicklungen um den gescheiterten Verfassungsvertrag, ein besseres Leitmotiv für die Aufgabe sein, die vor uns liegt?
Am 19. März 1958 zeigte sich Robert Schuman in seiner kurzen Ansprache darüber besorgt, dass eine technokratische Sicht der Dinge die europäische Einigung verkümmern lassen könnte. Das gilt auch heute. Robert Schuman war realistisch, bescheiden und eindeutig in der Beschreibung der Möglichkeiten der Gemeinsamen Parlamentarischen Versammlung, der er bis 1960 vorstand: „Nous desirons contribuer“, so sagte er mit seiner warmen, menschenfreundlichen Stimme, „à créer un noyau de la structure européenne.“
Seine erste Ansprache als Präsident der Europäischen Parlamentarischen Versammlung beendete Robert Schuman mit einem Bekenntnis zur Einigung unseres Kontinents, zur Einigung Europas, das sich als Wertegemeinschaft der freien Völker unseres Kontinents verstehen müsse: „Ainsi seulement l’Europe réussira à mettre en valeur le patrimoine total qui est commun à tous les pays libres.“
Daran möchte ich anknüpfen. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Unsere Institutionen sind kein Selbstzweck, sie dienen unseren Werten: der Würde des Menschen, den Menschenrechten, der Demokratie, dem Recht, dem wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen; sie dienen den Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität. Europa bedeutet: Respekt voreinander, Achtung unserer Vielfalt, Achtung der Würde aller unserer Mitgliedsländer, der großen wie der kleinen. Diese Achtung lässt sich nicht verordnen, sie ist aber die notwendige Bedingung für unser gegenseitiges Verständnis und für unser gemeinsames Handeln. Die Achtung des europäischen Rechts, das uns friedlichen Interessenausgleich und die friedliche Lösung von Konflikten ermöglicht, muss immer erneut ergänzt werden durch die ungeschriebenen Regeln unseres europäischen Zusammenlebens: Achtung und Respekt voreinander.
(Beifall)
Zu dieser Achtung voreinander – wo immer wir auch politisch stehen – möchte ich uns ermuntern und aufrufen.
Wenn uns diese gegenseitige Achtung gelingt – Toleranz füreinander bei Wahrung unserer eigenen Überzeugungen, aber Verpflichtung zur Kompromissbereitschaft –, können die Europäische Union und das Europäische Parlament ein Modell für den Frieden in der Welt sein.
Unser europäisches Erbe ist in der Freiheit und Einheit unserer Völker aufgehoben, die sich in der Europäischen Union verbunden haben. Wir ehren Robert Schuman und alle Mitglieder der ersten Europäischen Parlamentarischen Versammlung, indem wir uns bemühen, uns ihrer Nachfolge würdig zu erweisen durch unsere Arbeit für ein verantwortungsvolles, offenes und bürgernahes Europäisches Parlament, das auch entschlossen sein muss, wenn es Not tut, eine politische Führungsaufgabe wahrzunehmen. Wenn wir darum bemüht bleiben, brauchen wir das Urteil derjenigen, die uns nachfolgen und im Jahre 2058 zum 100. Geburtstag des Europäischen Parlaments unsere Arbeit von heute einer Bewertung unterziehen, nicht zu scheuen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, freuen wir uns gemeinsam darüber, der Freiheit, dem Frieden und der Einheit unseres europäischen Kontinents dienen zu dürfen!
(Anhaltender und lebhafter Beifall)
Janez Janša, amtierender Ratspräsident. − (SL) „Nicht ohne Emotion ergreife ich das Wort.“ Mit diesen Worten begrüßte der erste Präsident der Europäischen Parlamentarischen Versammlung, Robert Schuman, das ehrwürdige Haus auf seiner konstituierenden Sitzung am 19. März 1958. Fünfzig Jahre später fühlen wir uns anlässlich des Jubiläums genauso.
Heute spreche ich nicht vor 142 ernannten, sondern den 785 direkt gewählten Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Blickt man auf den zurückgelegten Weg und die aufblühende Demokratie in Europa in den letzten fünfzig Jahren, sollten wir stolz und den Vätern der europäischen Idee zu Dank verpflichtet sein. Gleichwohl tragen wir alle die Verantwortung, einen Beitrag zu leisten, um die Europäische Geschichte des Friedens, der Zusammenarbeit und des Wohlstands nach besten Kräften fortzuführen.
Erinnern wir uns an das Jahr 1958: Eine Gesellschaft, die mit den Folgen zweier zerstörerischer Kriege konfrontiert war, eine Welt, in der sich die westlichen und die östlichen Mächte gegenüberstehen, der Kalte Krieg, die Revolution in Kuba, der erste Chip, Atomwaffenversuche und der Start des ersten Weltraumsatelliten. 168 Millionen Menschen wurden vereinigt, als die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Union, die gemeinsam Kriegswunden heilten, wirtschaftlich prosperierten und zusammen mit dem euro-atlantischen Bündnis in diesem Teil der Welt den Frieden und die Demokratie sicherten. Traurigerweise lebte der überwiegende Teil Europas im Totalitarismus, der von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Stagnation bzw. sogar Regression geprägt war.
Im Jahr 2008 sieht die Welt komplett anders aus. In einer multipolaren Welt geht es nicht nur um wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb, sondern auch zunehmend um Zusammenarbeit bei der Suche nach Lösungen für gegenwärtige Herausforderungen. Der Wegfall der Grenzen, die Europa entlang der Berliner Mauer teilten, der Fall des Eisernen Vorhangs und die Überwachung der Binnengrenzen findet Ende des Monats seine Fortsetzung in der Abschaffung der Luftraumgrenzen im erweiterten Schengen-Raum.
Das Territorium der Europäischen Union hat sich in den letzten 50 Jahren mehr als verdreifacht. Heute leben dreimal mehr Einwohner in der EU. Es gibt 23 Amtssprachen, einen stärkeren Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung. Im Durchschnitt werden EU-Bürger heutzutage acht Jahre älter. Morgen werden 27 Staats- und Regierungschefs – ein Drittel von uns lebte vor 20 Jahren in totalitären Regimen – an einem Tisch Entscheidungen treffen. Heute lebt fast ganz Europa in Freiheit und Demokratie. Diese Errungenschaft sollten wir uns vor Augen halten und feiern.
Das Werden und Schaffen des Europäischen Parlaments seit 1958 spiegelt deutlich den Fortschritt wider, der durch die Integration in den vergangenen 50 Jahren erreicht wurde. Nach seiner anfänglich beratenden Funktion erhielt das Parlament in den frühen siebziger Jahren die ersten wirklichen Haushaltsbefugnisse. Ende der Siebziger fanden die ersten Direktwahlen statt. Durch neue Abkommen wurden die gesetzgebenden Kompetenzen des Parlaments und sein Zustimmungsrecht bei der Ernennung der politischen Führungskräfte der EU gestärkt. Ohne das Vertrauen der Abgeordneten würde es die neue Europäische Kommission nicht geben.
So wie der Vertrag von Rom dem Parlament 1958 neue Verantwortlichkeiten zuschrieb, markiert auch der Vertrag von Lissabon 50 Jahre später einen bedeutenden Schritt nach vorn für das Europäische Parlament. Das Mitentscheidungsverfahren wird auf nahezu alle Bereiche der europäischen Politik ausgedehnt, und die Rolle des Parlaments bei der demokratischen Kontrolle aller EU-Organe, der Ausarbeitung internationaler Vereinbarungen und der Ernennung der europäischen politischen Führungskräfte wird gestärkt.
Ich habe mich riesig gefreut, als das Parlament auf der Plenarsitzung im vergangenen Monat den Bericht über den Reformvertrag mit großer Mehrheit angenommen hat. Zugleich möchte ich all jenen Mitgliedstaaten gratulieren, die das Ratifizierungsverfahren bereits erfolgreich abgeschlossen haben. Hoffentlich folgen ihnen bald die restlichen EU-Mitgliedstaaten.
Während die ersten 50 Jahre der EU der europäischen Agenda, unserer politischen und wirtschaftlichen Entwicklung und Reformen gewidmet waren, werden die nächsten 50 Jahre sicher ebenfalls im Zeichen der globalen Agenda stehen. Das geht klar aus der Liste der Themen für die morgige Tagung des Europäischen Rates hervor.
Fraglos können wir nur angemessene Lösungen für die Herausforderungen des Lissabon-Prozesses, für Umwelt- und Energiefragen und die Turbulenzen an den Finanzmärkten finden, wenn weltweite Entwicklungen und Akteure berücksichtigt und in unsere Aktivitäten eingebunden werden.
Gleiches gilt für die Menschenrechte und den interkulturellen Dialog, denn in diesen Bereichen spielen Sie als Europäisches Parlament zweifellos eine maßgebliche Rolle. Im Namen des Rates möchte ich deshalb diese Gelegenheit nutzen, um dem Parlament Anerkennung für die Rolle zu zollen, die es beim Aufzeigen von Menschenrechtsverletzungen und der Beobachtung von Wahlen spielt sowie für die Arbeit der parlamentarischen Delegationen in internationalen Institutionen wie dem UN-Menschenrechtsrat. Ihre Rolle im Rahmen der Paritätischen Parlamentarischen Versammlungen ist gleichsam von Bedeutung und verleiht der Politik der Europäischen Union gegenüber Drittstaaten und -regionen Mehrwert.
Durch Ihre Aktivitäten und Treffen mit hochrangigen Gästen im Jahr des interkulturellen Dialogs stärken Sie eine der grundlegenden Traditionen Europas, nämlich, dass gegenseitige Achtung und Verständnis die Grundlage der Koexistenz in Europa sowie in der Welt insgesamt bilden.
Das Spektrum an Aktivitäten der Europäischen Union erweitert sich ständig, aber für alle gilt eines: Der Erfolg ist proportional zum Grad der Einheit der Mitgliedstaaten, Sektoren, Interessensgruppen und Generationen sowie im Hinblick auf regionale, nationale, europäische und globale Faktoren. Die Institutionen der Europäischen Union haben hier Vorbildfunktion.
„Jeder Mensch ist eine neue Welt. Nur Institutionen, die die kollektive Erfahrung erhalten, können reifen.“ Mit diesem Gedanken liefert Jean Monnet eine Erklärung, warum die Vision der Europäischen Union sich noch so oft von der Wirklichkeit unterscheidet und viele Europäer trotz der offensichtlichen Erfolge der letzten 50 Jahre weiterhin an den Vorzügen der europäischen Integration zweifeln. Um Freiheit, Frieden und Vielfalt, offene Grenzen und die Vorteile und Zukunftsaussichten eines vereinten Europas zu begreifen und zu schätzen, müssen wir uns stets vor Augen halten, dass es andere, wesentlich unattraktivere Alternativen gibt.
Darum lautet unsere gemeinsame Aufgabe, die kollektive Erfahrung Europas am Leben zu erhalten. Daraus können wir Kraft für die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen schöpfen. Gedanken an die Vergangenheit müssen mit zukunftsweisendem Denken vereint werden. Hätten wir uns nicht vor 50 Jahren zusammengetan, würden wir heute wahrscheinlich nicht in Frieden und Wohlstand leben. Gleiches gilt für die kommenden 50 Jahre. Wenn wir nicht gemeinsam nach Lösungen für eine Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes und die Einsparung von Energie suchen, wird es nicht gelingen, den Klimawandel einzudämmen. Die Zahl der Hochwasserkatastrophen, Wirbelstürme, Dürren, neuen Krankheiten, bedrohten Ökosysteme und Klimaflüchtlinge wird zunehmen. Die Ergebnisse europäischer Entscheidungen und Aktivitäten müssen möglichst konkret und greifbar für die Bürger gemacht werden, damit sie die entscheidende Bedeutung der Europäischen Union für den Erhalt und die Erhöhung ihrer Lebensqualität erkennen.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich möchte Ihnen für Ihren Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Union in den vergangenen 50 Jahren danken. Ich weiß, was es für unsere Generation bedeutet hat, denn ich habe im gleichen Jahr das Licht der Welt erblickt wie das Europäische Parlament.
Bis zum Ende des Mandats und darüber hinaus wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit, viele neue Ideen und Beharrlichkeit bei der Entwicklung europäischer Werte, der europäischen Demokratie und der europäischen Lebensweise.
Ich bin überzeugt davon, dass wir beim nächsten runden Geburtstag dieses europäischen Hauses der Demokratie erneut sichtbare Fortschritte in Europa feiern können.
(Beifall)
Der Präsident. − Herzlichen Dank an den Präsidenten des Europäischen Rates. Ich darf nun den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Durão Barroso, bitten, zu uns zu sprechen.
José Manuel Barroso, Kommissionspräsident. – (FR) Herr Präsident des Europäischen Parlaments, Herr Ratspräsident, meine Herren Präsidenten der verschiedenen europäischen Institutionen, meine Damen und Herren ehemalige Präsidenten des Europäischen Parlaments, meine Damen und Herren Abgeordnete, werte Vertreter der nationalen Parlamente, liebe Gäste! Ich freue mich sehr, zusammen mit Ihnen heute das erste halbe Jahrhundert des Bestehens des Europäischen Parlaments feiern zu können. Das ist ein Geburtstag mit einer hohen symbolischen und politischen Bedeutung für unser Europa. Vor 50 Jahren trat unter dem Vorsitz von Robert Schuman eine neue parlamentarische Versammlung zusammen. Die drei Europäischen Gemeinschaften hatten damit die erste Version einer europäischen Demokratie geschaffen. Seitdem wurde diese grundlegende politische Entscheidung in jeder Etappe des europäischen Aufbauwerks immer wieder aufs Neue bekräftigt.
Die Gründerväter hatten vor allen anderen die Ahnung, dass das im Entstehen begriffene Europa starke demokratische europäische Institutionen brauchen würde, um die immer enger werdenden Bindungen zwischen den Sechs dauerhaft zu verankern. Nach der genialen Vision von Jean Monnet mussten diese Institutionen auch die Möglichkeit haben, sich weiterzuentwickeln, um die vorausgeahnte zweifache künftige Entwicklung zu begleiten: die Vertiefung der Integration einerseits und die geografische Erweiterung andererseits. Lassen Sie mich Ihnen zu sagen, dass es immer wieder bewegend ist, hier in diesem Hause der europäischen Demokratie die direkt gewählten Repräsentanten der Nationen vereint zu sehen, die noch in jüngster Zeit durch Diktaturen, welche Europa das Atmen in Freiheit verwehrten, gespalten waren.
(Beifall)
Das institutionelle Dreieck, das die Gründerväter uns hinterlassen haben, ist ein Modell, das auf der Welt einmalig ist und das seit 50 Jahren seine Lebensfähigkeit und seine Solidität nachhaltig unter Beweis gestellt hat. Es hat sich an eine enorme Ausweitung des der Gemeinschaft und nunmehr der Union übertragenen Aufgabenbereichs angepasst. Es hat sich auch an eine gewaltige Erweiterungsdynamik unserer Union angepasst.
Diesen Erfolg verdanken wir der Genialität und der Ausgewogenheit unseres institutionellen Modells, das nicht der klassischen Gewaltenteilung entspricht. Wir schulden diesen Erfolg auch unserer Funktionsweise, die sowohl die Gemeinschaftsmethode als auch das Subsidiaritätsprinzip respektiert.
Die Institutionen sind jedoch kein Selbstzweck. Sie stehen im Dienste eines Ideals und von Zielen. Sie stehen im Dienste unserer Bürger. Je stärker die Institutionen sind, desto besser können sie diesem Ideal und unseren Bürgern dienen.
Die Gründerväter wollten Europa zu allererst im Interesse des Friedens errichten. Sie wollten dieses neue Europa durch Solidarität errichten. Sie wählten die Wirtschaft als Triebkraft für ihre politische Vision und ihre Ziele.
Fünfzig Jahre später braucht das Europa, das in Frieden lebt und sich auf ein kontinentales Ausmaß erweitert hat, starke Institutionen, um sich der Herausforderung seiner Zeit zu stellen: der Globalisierung. Diese Herausforderung kann kein Mitgliedstaat allein meistern. Dank seiner Erfahrung der Marktöffnung, begleitet von Regeln, die seine Werte der Freiheit, der Solidarität, der nachhaltigen Entwicklung widerspiegeln, besitzt allein Europa sowohl das Ausmaß und die Institutionen als auch die notwendigen Instrumente, um die Globalisierung zu meistern und mitzugestalten.
Damit es diese Herausforderung bewältigen kann, muss das Europa des 21. Jahrhunderts sich vereinen, um in der Wirtschaft des Wissens erfolgreich zu sein, den Europäerinnen und Europäern Arbeit zu geben und seiner Wirtschaft mehr Dynamik zu verleihen. Es muss den ihm gebührenden Platz auf der Weltbühne einnehmen: den Platz eines Europas, das mächtig ist, ohne arrogant zu sein, eines Europas, das in der Lage ist, der Welt die Werte der Freiheit und der Solidarität vorzuschlagen – nicht aufzuzwingen, sondern vorzuschlagen.
Wir werden erfolgreich sein, wenn wir eine konstruktive Partnerschaft zwischen unseren Institutionen aufrechterhalten.
Lassen Sie mich im Rahmen dieser Partnerschaft das Europäische Parlament für seinen Beitrag zum europäischen Projekt in allen Aspekten des Alltagslebens unserer Bürgerinnen und Bürger würdigen. In fünfzig Jahren hat das Europäische Parlament viele Kompetenzen und Zuständigkeiten erworben. Damit meine ich die auf der Legitimität beruhende Zuständigkeit, die sich direkt aus dem Votum der Europäerinnen und Europäer herleitet. Ich meine auch die formalen Zuständigkeiten – Mitentscheidung, Haushaltsbefugnisse, demokratische Kontrolle über die europäischen Institutionen. Und nicht zuletzt meine ich den politischen Einfluss. Das Parlament hat sich sowohl als Mitgesetzgeber als auch als gewichtiger Partner im institutionellen Dreieck und im europäischen öffentlichen Leben behauptet, aber auch durch die Herstellung immer engerer Beziehungen zu den nationalen Parlamenten, von denen viele heute hier vertreten sind.
Die Macht, die das Parlament im Laufe der Zeit erlangte, diente nur dazu, Europa insgesamt zu stärken. Ein starkes Europäisches Parlament ist ein unerlässlicher Partner für die anderen Institutionen und insbesondere – wie ich unterstreichen möchte – für die Europäische Kommission. Ich glaube sagen zu können, dass die Beziehung zwischen unseren beiden Institutionen immer enger, solider und reifer geworden ist, und darüber bin ich sehr froh.
Der Vertrag von Lissabon wird, wenn er ratifiziert ist, die Gemeinschaftsinstitutionen weiter stärken. Er wird die Befugnisse des Europäischen Parlaments erweitern. Er wird die doppelte demokratische Legitimität der Kommission durch engere Verbindungen zum Europäischen Parlament und zum Europäischen Rat stärken. Er wird dem Europäischen Rat eine stabile Präsidentschaft geben, die eine bessere Kohärenz bei der Vorbereitung und Nachbereitung der Ratstagungen gewährleisten wird. Er wird die Rolle des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik weiterentwickeln, der zugleich Vizepräsident der Europäischen Kommission sein wird.
Da er die Legitimität und die Effizienz unserer Institutionen stärkt, stellt der Vertrag von Lissabon einen großen Schritt nach vorn für die Europäische Union dar.
Heute ebenso wie morgen gilt es zu begreifen, dass es kein Nullsummenspiel zwischen den Institutionen geben darf. Keine unserer Institutionen darf auf Kosten der anderen erstarken. Im Gegenteil, wir wollen, dass alle europäischen Institutionen stärker werden, wenn wir mehr Effizienz und Demokratie in Europa wollen. All unsere Institutionen können bei der Konsolidierung der europäischen institutionellen Architektur nur gewinnen.
Meine Damen und Herren Abgeordnete, im Zusammenhang mit dem Jahrestag, den wir heute feierlich begehen, fällt mir ein Zitat einer großen portugiesischen Schriftstellerin, Agustina Bessa Luis, ein. Sie sagte: „Mit 15 Jahren hat man eine Zukunft, mit 25 ein Problem, mit 40 hat man Erfahrungen, aber vor Vollendung des halben Jahrhunderts hat man keine wirkliche Geschichte“.
Heute kann das Europäische Parlament, dieses Haus der europäischen Demokratie, voller Stolz sagen, dass es eine große Geschichte hinter sich hat, aber, dessen bin ich sicher, auch vor sich hat. Deshalb möchte ich Ihnen im Namen der Europäischen Kommission und in meinem eigenen Namen die herzlichsten Glückwünsche und meine besten Wünsche für Ihre Arbeit für ein vereintes Europa aussprechen.
(Beifall)
Der Präsident. − Herzlichen Dank auch an den Präsidenten der Europäischen Kommission, und ich darf noch als Vertreter aller ehemaligen Generalsekretäre Hans Joachim Opitz begrüßen, der heute auch unter uns ist.
Jetzt freuen wir uns wieder auf das europäische Jugendorchester.
(Kurzes Konzert des Jugendorchesters der Europäischen Union)
(Lebhafter Beifall)
(Die Mitglieder des Parlaments erheben sich und hören die Europahymne.)