Der Präsident. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren! Vor 70 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Die Bilder, die die Befreier sahen und festhielten, erschüttern die Welt bis heute: die Leichenberge, die Krematorien, die Berge von Schuhen, Brillen und menschlichen Haaren als Zeugnisse ausgeplünderten Lebens, die Bilder der ausgemergelten Überlebenden, dem Tod näher als dem Leben, diese Bilder haben sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegraben.
Für die allermeisten Gefangenen in Auschwitz kam die Rettung zu spät. Mehr als eine Million Menschen wurden in diesem Vernichtungslager ermordet – durch Hunger, durch Krankheit, durch kriminelle medizinische Versuche, durch Folter, durch Hinrichtung und vor allen Dingen durch den systematisierten Tod in den Gaskammern. Vor allem Juden aus Ungarn, Polen, Frankreich, Holland, Griechenland, Menschen jüdischen Glaubens aus ganz Europa, Sinti und Roma, Behinderte und Kranke, Homosexuelle, Kriegsgefangene, politische Gefangene und – besonders abscheulich für jeden, der jemals Auschwitz besucht hat –: unzählige Kinder. Diese Menschen, von fanatischen Naziideologen zu „Untermenschen“ erklärt, zu Schädlingen, deren Leben als lebensunwertes Leben betrachtet wurde, diese Menschen sollten, ja, die Schlächter wollten, dass dieses Leben vernichtet und ausgerottet wird.
Auschwitz war nicht der einzige, aber der zentrale Ort des organisierten Massenmordes, des schlimmsten Zivilisationsbruchs in der Menschheitsgeschichte. „Dieser Ort sei allzeit ein Aufschrei der Verzweiflung und der Mahnung an die Menschheit“, so steht es auf der Erinnerungstafel im Konzentrationslager geschrieben. Ja, meine Damen und Herren, das soll Auschwitz für immer sein, ein Aufschrei der Verzweiflung und der Mahnung. Die persönliche Schuld mögen die Täter mit ins Grab genommen haben, aber die Verantwortung, die aus deren Gräueltaten erwächst, ist eine gemeinsame Verantwortung der Völkergemeinschaft, und sie ist ganz sicher eine besondere Verantwortung des Volkes, dem ich angehöre, der Deutschen. Die Verantwortung, den Schwur „Niemals wieder“ einzulösen, tragen wir als nachkommende Generationen für alle Zeiten.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber aus der Vergangenheit erwächst die Gegenwart, und wie wir mit der Geschichte umgehen, das entscheidet über unsere Zukunft. Deshalb wollen wir im Wissen darum, dass in Auschwitz das Unfassbare geschah, jeden Tag die Freiheit energisch verteidigen. Deshalb wollen wir jeden Tag im Wissen um die Gefährdung dieser Freiheit für die Unbedingtheit der Würde des Menschen einstehen. Deshalb wollen wir jeden Tag einschreiten gegen die Rückkehr von Denkweisen, die wir in Europa für überwunden hielten und bei denen wir dennoch sehen müssen, dass sie immer existieren: den Hass, die Fremdenfeindlichkeit, den Antisemitismus, den Ultranationalismus, die Intoleranz. Wenn heute, 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, Juden in Europa um ihre Sicherheit fürchten und um ihr Leben bangen, dann muss uns das verstören, und es muss uns wachrütteln.
Jetzt müssen wir gegen die Angst zusammenstehen, uns nicht anstecken lassen von dem Hass, den zum Beispiel die Attentäter in Paris in sich trugen. Wir dürfen dem Hass nicht mit mehr Hass begegnen, nicht auf Gewalt mit noch mehr Gewalt antworten, sondern müssen ein wachsendes Misstrauen bekämpfen, die Freiheit aller verteidigen und die Würde eines jeden einzelnen Menschen beschützen. Das ist der Auftrag, den wir 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von Auschwitz gerade hier in diesem Parlament als der multinationalen Völkerversammlung in besonderer Weise wahrzunehmen haben.