Der Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten von uns wissen sicher noch genau, was sie am 26. April 1986 gemacht haben. Dieser Tag hat sich allen tief ins Gedächtnis eingegraben: Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, explodierte in der damaligen Sowjetunion – in der Sowjetrepublik Ukraine – der Reaktorblock Nummer 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Es kam zur totalen Kernschmelze, zu dem, was man einen Super-GAU nennt, einer Tragödie mit unglaublichen Folgen: Radioaktives Material wurde in die Atmosphäre geschleudert, weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine wurden verseucht, die radioaktive Wolke zog nach Mitteleuropa und hinauf bis zum Nordkap.
Bis heute ist die genaue Zahl der an den Folgen der Verstrahlung erkrankten und gestorbenen Menschen umstritten; wahrscheinlich wird die Zahl nie ganz genau zu ermitteln sein. Schätzungen bezüglich der Gesundheitsfolgen und der Todesfälle variieren. Aber egal, in welcher Größenordnung sie beziffert werden, diese Größenordnungen sind dramatisch. Es wird von Zigtausenden, in manchen Schätzungen von Hunderttausenden Toten ausgegangen.
Wenige haben in Erinnerung behalten, dass sogenannte Liquidatoren – das waren zumeist junge Männer – ohne Schutz und ohne Warnung mitten in diese Katastrophe geschickt wurden, um sie einzudämmen. Diesen Menschen ist es wohl zu verdanken, dass alles nicht noch schlimmer kam. Doch viele dieser Menschen – dieser Helden – bezahlten ihren Einsatz mit Leib und Leben.
In der Region mussten Hunderttausende Menschen ihre Heimat verlassen, ihr Zuhause aufgeben. Viele Familien mussten umgesiedelt werden, Gemeinden wurden zerrissen. Bis heute bleiben die Böden und die Nahrung in der Region belastet. Viele Menschen leiden noch immer an den Spätfolgen, selbst die Kinder, die viele Jahre nach der Katastrophe geboren wurden.
Tschernobyl bleibt als Ruine ganz sicher ein Mahnmal der Katastrophe – und Tschernobyl bleibt ein Problem. Der Rückbau der kerntechnischen Anlagen ist technisch wie finanziell extrem aufwändig. Die neue Schutzhülle etwa, die den provisorischen Schutzmantel von 1986 ersetzen soll, wird frühestens im Jahr 2017 fertiggestellt und wird zwischen 1,5 und 2 Milliarden Euro kosten.
Die Entscheidung über die Nutzung von Kernenergie obliegt in der Europäischen Union den Mitgliedstaaten. Aber ganz sicher kennen nukleare Wolken und Verstrahlung keine nationalen Grenzen. Deshalb dürfen unsere Bemühungen um Sicherheit und Prävention auch nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Auf europäischer Ebene wurde die Nuklearkatastrophe von Fukushima deshalb auch – wie ich finde, richtigerweise – zum Anlass genommen, 145 europäische Atomkraftwerke einer umfassenden Risiko- und Sicherheitsbewertung zu unterziehen.
Über parteipolitischen und nationalstaatlichen Streit hinweg – es gibt viele unterschiedliche Auffassungen über die Nutzung der Atomkraft – müssen wir uns in jedem Fall, auch in Erinnerung an diese Katastrophe, darauf einigen, dass wir dafür Sorge zu tragen haben, dass Atomkraftwerke in Europa und in unserer Umgebung sicher sind. Das ist die Mahnung und ganz sicher auch der Auftrag, den dieser Super-GAU von Tschernobyl vor 30 Jahren und die Katastrophe von Fukushima vor wenigen Jahren ausgelöst haben. Diesen Auftrag, meine Damen und Herren, müssen wir auch im Europäischen Parlament sehr ernst nehmen.