Der Präsident. – Als nächster Punkt der Tagesordnung folgt die Aussprache über die Erklärungen des Rates und der Kommission zur Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie (2020/2691(RSP)).
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es bei dieser Debatte keine blauen Karten und keine spontanen Wortmeldungen gibt.
Michael Roth,amtierender Ratspräsident. – Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wir alle haben es mit einer gesundheitlichen Ausnahmesituation zu tun, die massive Auswirkungen auf unsere Gesellschaften und unsere Bevölkerung hat. Wir denken in diesem Moment sicherlich auch an die über 100 000 Europäerinnen und Europäer, die bislang ihr Leben verloren haben, weil sie mit COVID-19 infiziert waren.
Wir diskutieren in diesen Wochen sehr intensiv darüber, was wir aus dieser schweren Krise für unser Gesundheitswesen und für die Koordination innerhalb der Europäischen Union im Rahmen einer effektiven und möglichst präventiven Pandemiebekämpfung lernen können. Wir sprechen natürlich auch über die massiven sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Nicht zuletzt hat die Bundeskanzlerin auch noch einmal deutlich gemacht, dass dies einer der großen Schwerpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist, und ich bin mir sicher, dass wir alle, auch hier im Europäischen Parlament, dieses Engagement teilen, alles dafür zu tun, dass wir möglichst schnell und möglichst solidarisch und möglichst geeint aus dieser schweren Krise kommen.
Ich möchte mich an dieser Stelle aber noch einmal von Herzen bei den Mitarbeitenden im Pflegebereich und im Gesundheitswesen bedanken, die in diesen schwierigen, dramatischen Zeiten Unermessliches geleistet haben, um Menschenleben zu schützen und Patientinnen und Patienten bestmöglich zu versorgen.
Um die künftige Strategie der Europäischen Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu gestalten, müssen wir uns ehrlich machen. Wir müssen über das offen sprechen, was gelungen ist, wir müssen aber auch offen darüber sprechen, was misslungen ist und was vor allem auch am Anfang der Pandemiebekämpfung unsere Schwäche darstellte. Nur dann sind wir in der Lage, in der Zukunft besser, schneller und umfassender auf eine weitere Krise zu reagieren, und wir alle wissen ja, dass diese Krise noch längst nicht vorbei ist. Wir haben es nach wie vor mit einer sehr volatilen Lage zu tun. In einigen Ländern konnte dank des engagierten Vorgehens die Krise, die Pandemie, eingedämmt werden. Aber auch in Europa, auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft erleben wir, dass nichts sicher ist.
Wir müssen also wachsam sein, und das ist natürlich in freiheitlichen Demokratien wie den unsrigen auch immer mit einer Zumutung an die Bevölkerung verbunden. Auch darüber ist ja hier im Europäischen Parlament, aber auch in den Mitgliedstaaten intensiv diskutiert worden: Wie können wir die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger schützen, ohne die Freiheitsrechte und die verfassungsrechtlich gewährten Rechte der Bürgerinnen und Bürger unverhältnismäßig stark einzuschränken?
Aus diesem Grunde ist es das Ziel unseres Vorsitzes, Schlussfolgerungen zu den Lehren aus der COVID-19-Krise anzunehmen, um nützliche Erkenntnisse für künftige Maßnahmen zu gewinnen. Ich möchte mich jetzt schon einmal bei Ihnen für das große Interesse und auch für das Engagement bedanken, das Sie alle diesem Thema widmen.
Global gesehen, und nicht nur in Europa, breitet sich die Pandemie nach wie vor schneller aus. Wir haben jeden Tag weltweit rund 200 000 neue Fälle, und wir alle wissen – das ist offenkundig –, eine globale Krise mit einem derartigen Ausmaß erfordert natürlich auch globale Antworten. Kein Land, möge es auch ein noch so gutes Gesundheitswesen haben, ist in der Lage diese Pandemie alleine zu bekämpfen.
Damit wird auch deutlich, dass eine Politik der nationalen Abschottung, eine Politik der Kleinstaaterei, eine Politik, die Europa und die Europäische Union schwächt, immer auch mit inakzeptablen Risiken für die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger einhergeht. Eine sehr schmerzhafte Erfahrung, zugegebenermaßen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber vielleicht ermutigt es uns auch, im Geiste der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung noch besser zusammenzuarbeiten, als wir das bislang schon getan haben, um die Pandemie zu überwinden. Das bedeutet viel Arbeit, die vor uns liegt, denn wir können die wirtschaftliche Krise erst dann erfolgreich bewältigen, wenn wir das Virus auch langfristig bekämpft haben.
Eine umfassende und erfolgreiche Strategie zur Überwindung der Pandemie für Europa und natürlich für die ganze Welt erfordert die Entwicklung sicherer und wirksamer Impfstoffe und Therapien sowie einen gleichberechtigten Zugang zu diesen. Die Pandemie kann nur dann endgültig besiegt werden, wenn sie überall ausgelöscht wird. Eine dauerhafte Lösung kann hier nur in der Wissenschaft und in der Solidarität liegen.
Die Europäische Union setzt sich dafür ein, dass neu entwickelte Impfstoffe gegen COVID-19 zu einem gemeinsamen, öffentlichen, globalen Gut werden, das allen zur Verfügung steht, die es benötigen. Was wir brauchen, ist ein Impfstoff für Europa wie für den Rest der Welt. Hier kann es keine Kannibalisierung „Jeder gegen jeden“ geben, sondern wir müssen hier alle zusammenstehen. Auch hier sind wir alle verpflichtet, die Gesundheit der Menschen zu schützen, gleich, wo sie leben, in Europa oder auch in der Welt.
Ich freue mich sehr, dass die Europäische Union zusammen mit ihren internationalen Partnern ihre Kräfte im Rahmen der Initiative zur weltweiten Krisenreaktion gebündelt hat. Ein Rekordbetrag von 16 Milliarden Euro – das ist der Stand vom 30. Juni – wurde inzwischen eingeworben, um die Entwicklung, die Herstellung und die Bereitstellung von Impfstoffen gegen COVID-19 zu beschleunigen. Denn wir müssen entschlossen handeln, damit wir die nächsten Schritte auch gehen können. Wir brauchen also sichere und wirksame Impfstoffe, wir müssen ihre massenweise Herstellung fördern, damit wirklich auch alle Menschen einen gleichberechtigten Zugang haben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang der Europäischen Kommission für ihren jüngsten Gesetzgebungsvorschlag danken, mit dem eine rasche Durchführung klinischer Studien zu COVID-19-Impfstoffen und -Therapien ermöglicht werden soll, und ich danke auch dem Europäischen Parlament für die Entscheidung, bereits heute einen Standpunkt zu diesem Dossier festzulegen. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass der Rat diesem Dossier am vergangenen Freitag zugestimmt hat.
Was die Bestandteile der künftigen Strategie der Europäischen Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit betrifft, so hat die Kommission als Teil des Mehrjährigen Finanzrahmens und des Aufbaupakets jüngst ein ehrgeiziges Programm EU for Health vorgeschlagen. Darin wird noch einmal deutlich gemacht, dass der Gesundheit in der Europäischen Union eine höhere Priorität eingeräumt werden muss und dass wir auf Gesundheitskrisen besser vorbereitet sein müssen. Eins hat sich in der Krise doch gezeigt: Ein qualitativ hochwertiges Gesundheitswesen ist nach wie vor ein großer Schutz unserer Menschen vor einer solchen Pandemie. Deshalb räumen wir diesem Dossier im Rat eine sehr hohe Priorität ein, und wir hoffen, mit Ihrer Unterstützung dieses Dossier auch Ende des Jahres verabschieden zu können. Wir freuen uns auf eine sehr enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihnen bei diesem wichtigen Vorschlag.
Entscheidend ist aber auch, dass wir die Verfügbarkeit von Arzneimitteln, medizinischen Geräten und anderen krisenrelevanten Gütern in der Union verbessern. Sie wissen, wie das am Anfang der Krise losging. Das war nicht ideal, aber ich finde, dass wir als Europäische Union mit den Mitgliedstaaten auch die richtigen Konsequenzen daraus gezogen haben.
Die COVID-19-Pandemie hat die Probleme verschärft, die sich daraus ergeben, dass die Europäische Union bei der Herstellung von pharmazeutischen Wirkstoffen, Rohstoffen, Arzneimitteln und medizinischen Geräten von Drittländern abhängig ist. Nun wollen wir ja nicht die Globalisierung aus den Angeln heben – mitnichten! Aber es muss gewährleistet sein, dass wir für zentrale Güter, die den Schutz der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union gewährleisten, aus eigener europäischer Kraft dafür sorgen können, dass diese Mittel auch in der Europäischen Union hergestellt werden – das bedeutet europäische Souveränität.
Wir müssen natürlich auch besser imstande sein, mit diesen Krisen umzugehen, Informationen zusammenzutragen, Einschätzungen auszuwerten und dann eben auch im Krisenfall rasch zu handeln. Eine enge Zusammenarbeit ist hierfür unverzichtbar, und zwar zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen, den Einrichtungen und Agenturen der Europäischen Union, etwa dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten oder der Europäischen Arzneimittel-Agentur sowie mit internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation. Eines unserer Ziele ist es, die Arbeitsweise dieser europäischen Institutionen und Agenturen zu stärken und auszubauen.
Das Programm EU for Health sollte sich in erster Linie mit den Lehren aus der Pandemie befassen und gleichzeitig längerfristige Projekte unterstützen. Es sollte sich auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln, Impfstoffen und medizinischen Geräten, die Verringerung der Zahl antimikrobiell resistenter Infektionen sowie die Rolle der EU in der globalen Gesundheitspolitik konzentrieren. Darüber hinaus wird das Programm auch zur Umsetzung der Arzneimittelstrategie der EU und des europäischen Plans zur Krebsbekämpfung dienen, die die Kommission Ende des Jahres verabschieden will.
Die Corona-Krise hat uns noch einmal schmerzhaft vor Augen geführt, dass wir unsere digitalen Kapazitäten im Gesundheitswesen ausbauen müssen. Wir müssen die Fragmentierung von Gesundheitsdaten überwinden und die EU-weite Umsetzung im Rahmen des Gesundheitssystems verbessern. So haben die Mitglieder des Rates in ihren jüngsten Schlussfolgerungen zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas die Schaffung eines europäischen Raums für Gesundheitsdaten gefordert. Ich erinnere auch noch einmal an die kontroverse Diskussion um eine EU-weite App, die überall einsetzbar ist, um Menschen noch besser zu schützen, und auch da gibt es Verbesserungsbedarf, das wissen Sie alle mindestens genauso gut wie ich.
Ebenso wichtig ist der Hinweis darauf, dass Investitionen im Gesundheitsbereich auch über andere Instrumente des Mehrjährigen Finanzrahmens möglich werden.
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Eins ist klar: Das Thema Gesundheit wird auf der Ebene der Europäischen Union zukünftig ein zentraler Tätigkeitsbereich sein, und das ist für die Mitgliedstaaten aus meiner Sicht überhaupt nicht schmerzhaft, weil die Pandemie gezeigt hat: Wir brauchen auch hier mehr Europa, ein handlungsfähigeres Europa, weil das dem Interesse der Bürgerinnen und Bürger nützt. Und die COVID-19-Pandemie hat auch uns die Gelegenheit gegeben, darüber nachzudenken, welche Maßnahmen wir zur Überwindung der aktuellen Pandemie und zur Verhütung künftiger Gesundheitsrisiken ergreifen müssen.
Vereint können wir die Europäische Union und die Welt zu einem gesünderen und sicheren Ort machen. Viele Augen blicken auf uns, und wir sollten zeigen, dass liberale, demokratisch verfasste Gesellschaften in der Lage sind, mit solchen schwerwiegenden Krisen, die zu existenziellen Nöten für viele Menschen führen, gut umzugehen, und dass es unser oberstes Ziel ist, die Menschen in der Europäischen Union zu schützen, aber auch Solidarität auf der globalen Ebene zu leisten.