Was Europa ausmacht – Aussprache mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (Aussprache)
Manfred Weber, im Namen der PPE-Fraktion. – Frau Präsidentin, liebe Kommissionsvertreter, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz! Herzlich willkommen im Herzen der europäischen Demokratie! Gestern, 8. Mai: Wir gedenken und freuen uns über die Befreiung vom Nazi-Unrechtsstaat. Und heute, 9. Mai: Wir freuen uns – und gedenken – über den Mut der Väter und Mütter der europäischen Einigung. Nur ein Wochentag, es ist vielleicht eine Laune der Geschichte, ein Zufall. Aber unglaublich unfassbar ist, dass zwischen diesen zwei Wegmarken europäischer Geschichte nur fünf Jahre lagen.
Frankreich: De Gaulle streckte nach all den deutschen Greueltaten gegen die öffentliche Meinung die Hand aus. Welcher Mut, welche Führungskraft! Konrad Adenauer ergriff diese Hand für Westdeutschland. Sogar den Vorschlag Stalins, ein neutrales, wiedervereinigtes Deutschland zu akzeptieren, schlug er aus. Er wählte die europäische Einheit. Er wählte die NATO – gegen die öffentliche Meinung damals. Welcher Mut, welche Führungskraft!
Ja, heute sind wir gut im Management, Impfstoffbeschaffung, ARF, zehn Sanktionspakete, Energiekrise – all das wurde gemanagt. Aber De Gaulle, Adenauer, auch Kohl und Mitterrand, das waren Politiker, die nicht nur den Alltag managen konnten, sondern sie hatten die Kraft, Historisches zu gestalten. Sie sprechen heute – wie auch in Prag – bereits über die Abschaffung der Einstimmigkeit in der Außenpolitik, auch über den Aufbau einer europäischen Verteidigung hin zur europäischen Armee, um nur zwei Beispiele zu nennen. Und auch Emmanuel Macron hat so gesprochen. Wir hatten extra die Konferenz zur Zukunft Europas eingerichtet, um über diese Themen zu diskutieren. Nach der Wiederwahl von Macron kam leider keine Initiative, es kam kein Konvent.
Herr Bundeskanzler, ich muss das für uns noch mal ausdrücken: Wir brauchen keine weiteren Grundsatzreden mehr. Wir brauchen jetzt den Mut, Europa in die Zukunft zu führen.
Europa braucht Führung! Und wir als Europäische Volkspartei, wir fordern jetzt einen Konvent zur Überarbeitung der Verträge, um Europa für die kommenden Jahrzehnte fit zu machen. Sie selbst haben darauf hingewiesen, dass nur so ein großes Europa machbar ist.
Und als zweite Überlegung möchte ich heute anbringen: Europa ist sehr dankbar für die klare proeuropäische Haltung der Deutschen, aller großen demokratischen Parteien in Deutschland. Wir brauchen aber auch im Alltag von Deutschland Orientierung. Die Debatte über das Verbrenner-Aus hat viele ratlos gemacht. Jetzt steht die Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt an. Ich höre dazu wenig aus Berlin, wie man sich positioniert. Wir stehen vor fundamentalen Fragen im Umgang mit China. Ich habe heute gelesen, dass der deutsche Finanzminister nicht nach Peking reisen durfte. Sie wollen chinesische Investoren in den Hamburger Hafen einladen. Ihre Koalitionspartner lehnen das ab. Der Doppelwumms, die 200 Milliarden als Antwort auf die Ukrainekrise, wurde in der Europäischen Union nicht abgestimmt, obwohl die Binnenmarktwirkung dahinter groß ist. Und die Waffenlieferungen an die Ukraine: Manche hatten den Eindruck, in Berlin glaube man nicht an den militärischen Erfolg der Ukraine. Erst dann gab es die Diskussion um Panzerlieferungen, und erst nach Monaten der langen, quälenden Debatte werden die Panzer jetzt endlich geliefert. Viele Positionen Ihrer Regierung – oftmals zu spät und zu wenig ambitioniert. Europa braucht Orientierung aus Berlin.
Als Vorsitzender der Christdemokraten möchte ich auch noch darauf hinweisen, dass wir gemeinsam gegen den Klimawandel kämpfen. Wir haben den ETS, Sozialfonds, border adjustment-Text hier gemeinsam beschlossen. Trotzdem sage ich: Das reicht nicht. Das Beispiel Viessmann. Der Verkauf von Viessmann ist ein Warnzeichen. Unsere Unternehmen glauben offensichtlich nicht an den Grünen Deal, an den business case, der dahintersteht. Schaffen wir – das ist als Frage formuliert – mit unseren Beschlüssen mehr Arbeitsplätze in China als in Europa? Zumindest muss uns das umtreiben, und wir müssen schauen, dass Wettbewerbsfähigkeit zurück auf die Agenda kommt.
Auch Nahrungsmittelproduktion ist ein großes Thema. Die Verbraucherpreise steigen, Teil der Inflation sind Nahrungsmittelpreise. Wir müssten eigentlich mehr an Nahrungsmittel Richtung Nordafrika exportieren, was wir nicht tun, und gleichzeitig werden unsere Landwirte zu Sündenböcken stilisiert. Auch das passt nicht zusammen, wo wir einen Politikansatz des Miteinanders brauchen.
Zu guter Letzt, Herr Bundeskanzler, als Sie der SPD beitraten, hat Willy Brandt damals ein Versprechen abgegeben. Ich zitiere: „Mehr Demokratie wagen“. Ich möchte Sie fragen: Was heißt das jetzt für Europa? Was heißt es für uns hier in diesem Parlament für 2024? Für mich als EVP-Vertreter gehört zu einer Wahl ein Kandidat, eine Kandidatin und ein Programm, Inhalte, Ideen, damit die Menschen entscheiden können. Es gilt für die Wahl eines Bürgermeisters, eines Kanzlers in Deutschland, aber auch für die Wahl eines Präsidenten, einer Präsidentin der Europäischen Kommission. Leider wurden die Vorschläge dieses Parlaments zum Spitzenkandidatenprozess und auch zu den transnationalen Listen, die hier per Mehrheit beschlossen worden sind, weder von Macron noch von Merkel – das sage ich ausdrücklich dazu – noch von Sánchez und auch nicht von Ihnen übernommen. Deshalb bitte im Geiste von Willy Brandt: Weniger Hinterzimmer im Rat, mehr Demokratie hier in diesem Plenum im Europäischen Parlament. Lassen Sie uns mit der Zukunft beginnen. Nicht morgen, sondern heute.