Auslieferung und Achtung des Grundsatzes ne bis in idem in Belgien
22.11.2022
Anfrage zur schriftlichen Beantwortung E-003786/2022/rev.1
an die Kommission
Artikel 138 der Geschäftsordnung
Saskia Bricmont (Verts/ALE), Patrick Breyer (Verts/ALE), Philippe Lamberts (Verts/ALE)
Nizar Trabelsi wurde 2004 in Belgien zu einer Haftstrafe verurteilt, die er mittlerweile verbüßt hat.[1] 2013 wurde er unter Verstoß gegen eine einstweilige Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und gegen das Folterverbot an die Vereinigten Staaten ausgeliefert.[2] Dort wird er derzeit unter Verstoß gegen den Grundsatz der Spezialität der Auslieferung wegen der in Belgien begangenen Taten strafrechtlich verfolgt. Für die genannten Taten droht ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung. Zahlreiche Experten der Vereinten Nationen haben die Vereinigten Staaten und Belgien für die unmenschlichen Haftbedingungen in den USA und für den Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem kritisiert.[3]
Die belgischen Gerichte[4] haben die belgische Regierung dazu verurteilt, die amerikanischen Behörden auf den Grundsatz ne bis in idem hinzuweisen, und festgestellt, dass die Maßnahme andauert, ohne dass dafür eine angemessene und rechtmäßige Rechtfertigung der Ausnahmesituation von Nizar Trabelsi vorliegt. Die belgische Exekutive weigert sich, entsprechend zu handeln.
- 1.Welchen Standpunkt vertritt die Kommission angesichts der genannten Grundrechtsverletzungen?
- 2.Gedenkt die Kommission Belgien für die Nichtbeachtung der Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren?
- 3.Welche Maßnahmen sollen ergriffen werden, um den vorliegenden Fall zu lösen?
Eingang: 22.11.2022
- [1] RTBF, „Le procès de Nizar Trabelsi aux États-Unis suspendu“ (Verfahren gegen Nizar Trabelsi in den USA ausgesetzt), 17. August 2019, https://www.rtbf.be/article/le-proces-de-nizar-trabelsi-aux-etats-unis-suspendu-10293659; RTBF, „Nizar Trabelsi: la justice belge désavoue le ministre“ (Der Fall Nizar Trabelsi: die belgische Justiz widerspricht dem Minister), 5. März 2021, https://www.rtbf.be/article/nizar-trabelsi-la-justice-belge-desavoue-le-ministre-10712561; Le Vif, „L’État belge à nouveau condamné dans l’affaire Nizar Trabelsi“ (Erneute Strafe gegen den belgischen Staat in der Angelegenheit Nizar Trabelsi), 27. September 2022, https://www.levif.be/belgique/letat-belge-a-nouveau-condamne-dans-laffaire-nizar-trabelsi/; Politico, „Belgium told to pay €100K in damages for extraditing terrorist to US“ (Belgien muss 100 000 EUR Strafe für die Auslieferung eines Terroristen an die USA zahlen), 27. September 2022, https://www.politico.eu/article/belgium-must-pay-100k-euros-in-damages-for-extraditing-terrorist-nizar-trabelsi-to-the-us/.
- [2] Nizar Trabelsi droht eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung, was als Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention anzusehen ist: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Trabelsi gg. Belgien, 4. September 2014, Nr. 140/10, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%22140/10%22],%22itemid%22:[%22001-146354%22]}.
- [3] Interpellation des VN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung und der VN-Sonderberichterstatterin über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus, 16. Dezember 2020: Belgien (AL BEL 2/2020) – https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=25770. Interpellation des VN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, der VN-Sonderberichterstatterin über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus, der Arbeitsgruppe der VN für willkürliche Inhaftierungen und des VN-Sonderberichterstatters über das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit, 25. Februar 2022, Vereinigte Staaten von Amerika (AL USA 1/2022) – https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=27006.
- [4] 1) Brüssel (einstweilige Anordnung), Trabelsi gg. Belgien, 8. August 2019: Anordnung, auf den Grundsatz ne bis in idem hinzuweisen; 2) Kassationshof (einstweilige Anordnung), Belgien gg. Trabelsi, 4. März 2021: Zurückweisung des Rechtsmittels des belgischen Staates; 3) EuG (Urteil), Trabelsi gg. Belgien, 26. Februar 2020: Anordnung, auf den Grundsatz ne bis in idem hinzuweisen; 4) Brüssel (einstweilige Anordnung), Trabelsi gg. Belgien, 23. Mai 2022: Anordnung, auf den Grundsatz ne bis in idem hinzuweisen; 5) Brüssel (Urteil), Trabelsi gg. Belgien, 12. September 2022: Anordnung, die belgischen Zeugen über den Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem und über den Grundsatz der Spezialität der Auslieferung in Kenntnis zu setzen; Anordnung, die Rückkehr von Nizar Trabelsi nach Belgien zu fordern; Entschädigung für die Inhaftierung in den Vereinigten Staaten; Anordnung, auf den Schutz der körperlichen und geistigen Gesundheit hinzuwirken; Entschädigung für den Verstoß gegen das Recht auf Eheschließung; Rückverweisung der Rechtssache in Bezug auf die Anschuldigungen der schlechten Behandlung während der zwölfjährigen Isolationshaft in Belgien.