Entschließung des Europäischen Parlaments zum Sondergerichtshof für Sierra Leone: Fall Charles Taylor
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf den aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung von Sierra Leone gemäß der Resolution 1315 des UN-Sicherheitsrates vom 14. August 2000 eingesetzten Sondergerichtshof für Sierra Leone, der dazu dienen soll, diejenigen vor Gericht zu stellen, denen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht in Sierra Leone vorgeworfen werden,
– unter Hinweis auf das Völkerrecht, insbesondere die Genfer Konventionen und deren Zusatzprotokoll II zu Kriegsverbrechen,
– unter Hinweis auf das am 18. August 2003 in Accra (Ghana) geschlossene Umfassende Friedensabkommen zur Beendigung des seit mehr als 14 Jahren andauernden bewaffneten Konflikts in Liberia,
– unter Hinweis auf das Cotonou-Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den AKP-Ländern, zu denen auch Nigeria und Liberia gehören, sowie die Verpflichtung der Vertragspartner zum Frieden, zu Sicherheit und Stabilität sowie zur Achtung der Menschenrechte, der demokratischen Grundsätze und der Rechtsstaatlichkeit,
– gestützt auf Artikel 115 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass Charles Taylor, ehemaliger Präsident von Liberia, in Liberia von 1997 bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs ein autoritäres Regime führte,
B. in der Erwägung, dass 14 Jahre Gewalt und Amtsmissbrauch in Liberia enormes menschliches Leid verursacht haben, insbesondere unter der Zivilbevölkerung, ferner schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, massive Vertreibungen sowie einen Zusammenbruch der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen,
C. in der Erwägung, dass der Konflikt in Liberia auch dazu beigetragen hat, die gesamte westafrikanische Subregion gravierend zu destabilisieren, wodurch eine humanitäre Krise tragischen Ausmaßes ausgelöst wurde,
D. in der Erwägung, dass Charles Taylor am 7. März 2003 vom Staatsanwalt des Sondergerichtshofs für Sierra Leone in 17 Punkten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, einschließlich Mord, Verstümmelung, Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei und Rekrutierung von Kindersoldaten, angeklagt wurde,
E. in der Erwägung, dass Charles Taylor weiterhin in Nigeria ansässig ist und sich auf die ihm als Staatschef zustehende Immunität vor Strafverfolgung beruft, obwohl die Berufungskammer des Sondergerichtshofs für Sierra Leona am 31. Mai 2004 den Antrag Charles Taylors auf Immunität vor Strafverfolgung ablehnte,
F. in der Erwägung, dass die nigerianische Regierung entscheidend zur Beendigung des Bürgerkriegs in Liberia beitrug, sowie in der Erwägung, dass Charles Taylor das Asylangebot der nigerianischen Regierung am 6. Juli 2003 akzeptierte,
G. in der Erwägung, dass der UN-Sicherheitsrat im Oktober 2003 Sorge äußerte wegen der anhaltenden Bemühungen Charles Taylors, aus dem Exil Liberia und Westafrika zu destabilisieren, womit er gegen die frühere Vereinbarung mit Nigeria verstieß, dergemäß ihm Asyl gewährt wurde und wonach er sich verpflichtet hatte, sich jeglicher Einmischung in die liberianische Politik zu enthalten,
H. in der Erwägung, dass der UN-Sicherheitsrat im August 2004 ein Reiseverbot gegen amtierende liberianische Staatsbeamte wegen ihrer mutmaßlichen Rolle als Kuriere für Charles Taylor in Nigeria verhängte,
I. in der Erwägung, dass der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs im September 2004 vor dem UN-Sicherheitsrat aussagte, dass der Schatten von Charles Taylor nach wie vor drohend über Liberia schwebe und dass viele Liberianer nicht davon zu überzeugen seien, dass der Friedensprozess dauerhaft sei, wenn er nicht vor den Sondergerichtshof für Sierra Leone gestellt werde,
J. in der Erwägung, dass nicht nur die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus eigenem Antrieb Beiträge in Höhe von mehr als 30 Mio. US-Dollar für Einsetzung und Tätigkeit des Sondergerichtshofs für Sierra Leona bereitgestellt haben, sondern dass die Europäische Union selbst den Sondergerichtshof mit 800 000 EUR unterstützt hat,
K. in der Erwägung, dass in Liberia derzeit Wahlen für Oktober 2005 geplant sind und das Ergebnis eher von der Furcht vor einer Rückkehr von Charles Taylor als von Hoffnung für die Zukunft bestimmt sein könnte,
L. in der Erwägung, dass sich Frieden und Stabilität in den Ländern der "Mano River Union" Liberia, Sierra Leone und Guinea als unteilbar erwiesen haben, da eine Gefahr für eines der Länder die Chancen für eine positive Entwicklung in allen beeinträchtigt,
M. in der Erwägung, dass Charles Taylor weiterhin eine Gefahr für Frieden und Sicherheit auf internationaler Ebene darstellt und die europäischen Anstrengungen zur Unterstützung eines dauerhaften Friedens und einer nachhaltigen Entwicklung in Westafrika sabotiert,
N. in der Erwägung, dass Straffreiheit für Charles Taylor dem Völkerrecht entgegenstehen, einem Affront gegen die unzähligen Opfer von Charles Taylor gleichkommen und die Begründung eines dauerhaften Friedens in der Region auf rechtsstaatlicher Grundlage unterminieren würde,
O. in der Erwägung, dass die Bevölkerung Sierra Leones ein Recht darauf hat, dass im Fall Charles Taylor durch ein faires Verfahren vor dem Sondergerichtshof für Sierra Leone der Gerechtigkeit Genüge getan wird,
P. in der Erwägung, dass das Völkerrecht eindeutig vorgibt, dass Kriegsverbrecher jederzeit vor Gericht zu stellen sind und dass Staaten verpflichtet sind, verdächtige Personen, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, auszuliefern,
Q. in der Erwägung, dass in der Note des Exekutivausschusses des UNHCR über die Ausschlussklauseln der Genfer Konventionen eindeutig festgestellt wird, dass, falls der Schutz aufgrund von Flüchtlingsgesetzen Personen gelten könnte, denen schwerwiegende Straftaten vorgeworfen werden, die Praxis des völkerrechtlichen Schutzes im direkten Widerspruch zu nationalem und internationalem Recht stünde sowie dem humanitären und friedlichen Charakter des Asylbegriffs zuwiderliefe,
R. in der Erwägung, dass Nigeria die Genfer Konvention ratifiziert hat, in der festgestellt wird, dass Kriegsverbrechern kein Flüchtlingsstatus gewährt werden darf,
1. fordert die Regierung von Nigeria auf, weiterhin im Interesse des liberianischen Friedensprozesses und der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit zu handeln und Charles Ghankay Taylor unverzüglich der Gerichtsbarkeit des Sondergerichtshofs für Sierra Leone zu überstellen;
2. fordert den UN-Sicherheitsrat auf, diese Frage als dringlich zu behandeln;
3. ruft die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die Mitgliedstaaten auf, internationalen Druck aufzubauen, um die Auslieferung von Charles Taylor zu erreichen;
4. begrüßt den Beschluss der liberianischen Übergangsregierung, das Vermögen des ehemaligen Präsidenten Charles Taylor und seiner Verbündeten einzufrieren;
5. ruft die Europäische Union auf, das Friedensabkommen von 2003 zwischen den drei Kriegsparteien in Liberia sowie die für Oktober 2005 geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen weiterhin zu unterstützen;
6. fordert, dass sich alle Staaten in der Region jeglicher Maßnahmen enthalten, die zu Instabilität in den Nachbarländern beitragen könnten;
7. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten, dem Chefankläger des Sondergerichtshofs für Sierra Leone, den Ko-Präsidenten der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung AKP-EU, der Afrikanischen Union, dem UN-Generalsekretär, dem Generalsekretär der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten und den Regierungen von Liberia und Nigeria zu übermitteln.