Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Zukunft des Balkans zehn Jahre nach Srebrenica
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Bosnien und Herzegowina und zum westlichen Balkan, insbesondere die Entschließung vom 14. April 2005 zum Stand der regionalen Integration auf dem westlichen Balkan(1),
– in Kenntnis des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses (SAP) für die Länder des westlichen Balkans, der 1999 von der Europäischen Union auf den Weg gebracht wurde mit dem Ziel, Demokratisierung, Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden in der Region zu fördern,
– in Kenntnis der Deklaration des EU-Westbalkan-Gipfels von Thessaloniki vom 21. Juni 2003, in denen die europäische Perspektive der Länder des westlichen Balkans, die Teil der Europäischen Union werden, sobald sie die festgelegten Kriterien erfüllen, hervorgehoben wurde,
– in Kenntnis der Schlussfolgerungen des letzten Europäischen Rates vom 16./17. Juni 2005 in Brüssel, in denen das Engagement bekräftigt wurde, die Agenda von Thessaloniki voll und ganz umzusetzen,
– unter Hinweis auf die Resolutionen 827 vom 25. Mai 1993, 1244 vom 10. Juni 1999, 1551 vom 9. Juli 2004 und 1575 vom 22. November 2004 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen,
– in Kenntnis des Berichts der Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, Carla del Ponte, an den UN-Sicherheitsrat vom 13. Juni 2005,
– gestützt auf Artikel 103 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die ostbosnische Stadt Srebrenica, die durch die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 16. April 1993 zur Schutzzone erklärt worden war, am 11. Juli 1995 in die Hände der bosnisch-serbischen Streitkräfte unter dem Kommando des Generals Ratko Mladic und unter der Führung des damaligen Präsidenten der Republik Srpska, Radovan Karadzic, fiel,
B. in der Erwägung, dass während eines tagelangen Gemetzels nach dem Fall von Srebrenica über 8 000 muslimische Männer und Knaben, die in diesem der Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR) unterstehenden Gebiet Schutz gesucht hatten, von bosnisch-serbischen Streitkräften unter dem Kommando von General Mladic und von paramilitärischen Einheiten, einschließlich irregulärer serbischer Polizeieinheiten, die von Serbien aus in bosnisches Gebiet eingedrungen waren, wahllos hingerichtet wurden,
C. in der Erwägung, dass diese Tragödie, die vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als Völkermord eingestuft wurde, in einem von der UNO zur Schutzzone erklärten Gebiet stattfand und damit ein Symbol für die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft darstellt, in den Konflikt einzugreifen und Unschuldige zu schützen,
D. angesichts der vielfachen Verstöße gegen die Genfer Konvention, die von den bosnisch-serbischen Truppen bei den Übergriffen gegen die muslimische Zivilbevölkerung von Srebrenica begangen wurden, u.a. Verschleppung von Tausenden von Frauen, Kindern und älteren Menschen und Massenvergewaltigungen,
E. in der Erwägung, dass es trotz der enormen Anstrengungen, die bisher unternommen wurden, um Massen- und Einzelgräber zu finden, die Leichen zu exhumieren und die getöteten Opfer zu identifizieren, auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen nach wie vor nicht möglich ist, die Ereignisse in und um Srebrenica vollständig zu rekonstruieren,
F. in der Erwägung, dass es keinen wahren Frieden ohne Gerechtigkeit geben kann, und in Anbetracht der Tatsache, dass eine umfassende und uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien weiterhin eine Grundvoraussetzung für die weitere Integration der Länder des westlichen Balkans in die Europäische Union ist,
G. in der Erwägung, dass der General der bosnisch-serbischen Armee Radislav Krstic als erster vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien der Unterstützung und Beihilfe zum Genozid von Srebrenica für schuldig befunden wurde, dass aber die zwei prominentesten Beschuldigten, Ratko Mladic und Radovan Karadzic, zehn Jahre nach den tragischen Ereignissen noch immer auf freiem Fuß sind,
H. in der Erwägung, dass die Defizite in den Entscheidungsmechanismen der Europäischen Union und das Fehlen einer echten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sich zudem auf den Ablauf der Ereignisse äußerst negativ ausgewirkt haben,
I. unter Hinweis darauf, dass die Haushaltsmittel der Europäischen Union für die Beziehungen zu den westlichen Balkanstaaten seit dem Jahr 2002 stetig und erheblich gekürzt wurden; sowie in der Erwägung, dass angemessene Mittel für die Region bereitgestellt werden müssen, um dem schrittweisen Übergang vom physischen Wiederaufbau zum Aufbau staatlicher Organe und zu Hilfen für die Vorbereitung auf den Beitritt Rechnung zu tragen, sowie in der Erwägung der strategischen Bedeutung der Region für die Europäische Union,
J. in der Erwägung, dass Bosnien-Herzegowina seinen Verhandlungstisch von Dayton nach Brüssel verlegt hat und sich die Aussicht auf eine Zukunft in der Europäischen Union in Bosnien-Herzegowina großer Zustimmung in der Bevölkerung erfreut,
1. verurteilt aufs Schärfste das Massaker von Srebrenica; gedenkt der Opfer der Gräueltaten und ehrt ihr Andenken; spricht den Angehörigen der Opfer, die oftmals noch keine endgültige Gewissheit über das Schicksal ihrer Väter, Söhne, Ehemänner oder Brüder haben, sein Mitgefühl aus und bekundet ihnen seine Solidarität; erkennt, dass der anhaltende Schmerz noch dadurch vergrößert wird, dass es noch nicht gelungen ist, die Verantwortlichen für diese Taten vor Gericht zu stellen;
2. fordert Rat und Kommission zu einem angemessenen Gedenken an den zehnten Jahrestag des Genozids von Srebrenica-Potocari auf und betont, dass diese unsägliche Schande in Europa das letzte Massaker gewesen sein muss, das im Namen einer auf Volkszugehörigkeit basierenden Ideologie begangen wurde; bekräftigt, dass es alles in seiner Macht Stehende tun wird, um zu verhindern, dass sich eine derartige grauenhafte Barbarei in Europa jemals wieder ereignet;
3. gibt seiner tiefen Besorgnis darüber Ausdruck, dass Radovan Karadzic und Ratko Mladic sich weiterhin in der Region auf freiem Fuß befinden, und fordert die Republika Srpska und Serbien-Montenegro auf, rasch zu handeln und Radovan Karadzic und Ratko Mladic ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen; ist der Auffassung, dass die offene Unterstützung für Karadzic und Mladic in einigen Teilen der Region durch die Bevölkerung eine Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer und ein großes Hindernis für eine Aussöhnung ist;
4. bekundet seine uneingeschränkte Unterstützung für die wichtige und schwierige Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und bekräftigt, dass die volle Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof Voraussetzung für eine engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union ist; ist der Auffassung, dass alle Länder der Region ihren Verpflichtungen nachkommen müssen, uneingeschränkt jederzeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zusammenzuarbeiten; ist der Auffassung, dass die Ergreifung, Überstellung und Verurteilung der Personen, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben, das Mindeste ist, was wir den Tausenden von Opfern der Kriegsverbrechen in Srebrenica und andernorts schuldig sind;
5. betont, dass die Sicherung des Friedens und der Stabilität im westlichen Balkan von entscheidender Bedeutung ist und die vollständige Umsetzung der Agenda von Thessaloniki bei der Erreichung der Ziele des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses dabei eine große Rolle spielt; weist nachdrücklich darauf hin, dass eine vollständige und uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof eine wesentliche Voraussetzung für den Prozess der Integration in die Europäische Union bleibt;
6. verweist darauf, dass es dem Friedenserhaltungsmandat und den Friedenstruppen der Vereinten Nationen nicht gelungen ist, die als Schutzzonen ausgewiesenen Gebiete zu schützen; fordert die Vereinten Nationen und die zuständigen internationalen Institutionen auf, das umzusetzen, was sie aus diesem Scheitern gelernt haben, und sich auf künftige Einsätze zur Friedenserhaltung gebührend vorzubereiten;
7. ist tief bewegt und erschüttert angesichts der Videoaufnahmen, die kürzlich vor dem Haager Gerichtshof gezeigt und weltweit ausgestrahlt wurden, die die kaltblütige Hinrichtung von sechs Gefangenen in Zivil zeigen und ein unabweislicher Beweis für das sind, was sich tatsächlich zugetragen hat; betont, dass die Videoaufnahmen klar die berüchtigte "Skorpion"-Einheit, eine mit der serbischen Armee und Polizei zusammenarbeitende paramilitärische serbische Gruppe, bei der heimtückischen Ermordung von Zivilpersonen in der Nähe von Srebrenica zeigen;
8. begrüßt die Reaktion des serbischen Premierministers Vojislav Kostunica auf die Ausstrahlung der Videoaufnahmen, die zur Verhaftung der früheren Mitglieder der "Skorpion"-Einheit, die auf dem Video zu erkennen sind, geführt hat; unterstützt die Entscheidung des serbischen Präsidenten Boris Tadic und des Präsidenten von Serbien-Montenegro, Svetozar Marovic, die Opfer am zehnten Jahrestag des Massakers von Srebrenica am Denkmal von Potocari zu ehren;
9. bedauert zutiefst, dass das serbische Parlament einen bereits ausgearbeiteten Entschließungsantrag, in dem das Massaker von Srebrenica anerkannt und entschieden verurteilt wird und der ein Zeichen der Bereitschaft wäre, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen und zur Aussöhnung und friedlichen Lösung der Probleme in der Region beizutragen, nicht angenommen hat;
10. verleiht seiner ernsten Sorge darüber Ausdruck, dass immer noch zum einem beträchtlichen Teil in der serbischen öffentlichen Meinung die Kriegsverbrechen gegen muslimische Zivilisten nicht zugegeben werden; ermutigt die serbische Regierung nachdrücklich, Maßnahmen zu ergreifen, um der Nation die Vergangenheit vor Augen zu führen und der Verherrlichung mutmaßlicher Kriegsverbrecher Einhalt zu gebieten; erkennt, dass die Veröffentlichung des besagten Srebrenica-Videos durch serbische Fernsehsender in den Abendnachrichten ein erster Schritt in diese Richtung ist, unterstreicht jedoch, dass viel mehr getan werden muss, um die Geschichtsklitterungen, die von der Bevölkerung für wahr gehalten werden, zu beseitigen;
11. unterstützt die Forderung des Hohen Vertreters für Bosnien und Herzegowina Paddy Ashdown an die bosnisch-serbischen Minister, die Truppenstärke zu nennen und alle Personen von außerhalb Bosniens zu identifizieren, die in den Videoaufnahmen als Beteiligte erkennbar sind;
12. lobt die Arbeit und das Engagement all derer, die in all diesen Jahren unbeirrt nach der Wahrheit gesucht haben, und fordert den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, sie mit den erforderlichen Mitteln auszustatten, damit sie ihre Arbeit fortsetzen können, u.a. indem dazu beigetragen wird, den äußerst kostspieligen Prozess zur Feststellung der Identität der Opfer zu beschleunigen;
13. bedauert, dass die Bedingungen für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen in der Region noch immer nicht vollständig gegeben sind;
14. betont, dass die allen Balkanstaaten angebotene Integrationsperspektive und der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess als Katalysator für eine innerstaatliche Reformdynamik und demokratische Konsolidierung wirken und allen Staaten in der Region helfen sollte, ein gemeinsames Verständnis ihrer tragischen Vergangenheit zu entwickeln und das Fundament für eine bessere Zukunft zu legen; betont, dass diese Zukunft in hohem Maße von den Ländern in der Region selbst abhängt;
15. bekräftigt die Zusage der Europäischen Union, die Bewerberländer sowie die potenziellen Bewerberländer auf dem Balkan bei ihrer Vorbereitung auf den Beitritt zu unterstützen, und fordert in diesem Zusammenhang, in der nächsten Finanziellen Vorausschau die entsprechenden Instrumente und Mittel vorzusehen, die den Zielen der Union sowie den berechtigten Erwartungen der Länder in der Region entsprechen;
16. stellt fest, dass das Friedensabkommen von Dayton ein wichtiges Instrument war, um die Region zu befrieden; ist sich jedoch bewusst, dass Dayton auch im Hinblick auf die künftige Integration in die Europäische Union nicht mehr der geeignete Rahmen ist; fordert daher den Rat und alle betroffenen Parteien dringend auf, in gemeinsamem Einvernehmen Initiativen zur Anpassung des Abkommens zu unterstützen; hebt hervor, dass die Bürger aller Entitäten und Ethnien des Landes ihre Verantwortung übernehmen müssen, um eine neue Verfassungsgrundlage zu erreichen und einen lebensfähigen Staat für alle zu schaffen;
17. ist äußerst besorgt über die wirtschaftliche und soziale Situation; unterstreicht, dass eine Lösung dieser entscheidenden Frage der Schlüssel für eine stabile Entwicklung in der Region ist; fordert die Regierungen und die Europäische Union auf, anzuerkennen, dass wirtschaftliche und soziale Entwicklung für die Menschen in der Region allerhöchste Priorität hat, und entsprechend zu handeln; weist mit Nachdruck darauf hin, dass es wichtig ist, die regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Völkern der westlichen Balkanländer sowie mit ihren Nachbarn zu stärken und die Aussöhnung zwischen ihnen voranzutreiben;
18. unterstreicht die Bedeutung der Aussöhnungspolitik und betont die wichtige Rolle der religiösen Autoritäten, der Medien und des Erziehungssystems in diesem schwierigen Prozess, damit die Bürger aus allen ethnischen Gruppen die Spannungen der Vergangenheit überwinden und zu einem friedlichen und sicheren Zusammenleben in dauerhafter Stabilität und mit wirtschaftlichem Wachstum gelangen können; fordert in diesem Zusammenhang, die Einsetzung eines Ausschusses für Wahrheit und Aussöhnung in Bosnien-Herzegowina in Erwägung zu ziehen;
19. unterstreicht, dass die Lehre, die aus Srebrenica und den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien zu ziehen ist, als Grundlage für eine Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union dienen muss;
20. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat und der Kommission, den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament von Bosnien-Herzegowina und dessen Entitäten sowie den Regierungen und Parlamenten der Länder des westlichen Balkans zu übermitteln.