Entschließung des Europäischen Parlaments zu einer neuen Rahmenstrategie zur Mehrsprachigkeit (2006/2083(INI))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf Artikel 192 Absatz 2 des EG-Vertrags,
– unter Hinweis auf die Artikel 149, 151 und 308 des EG-Vertrags,
– unter Hinweis auf die Artikel 21 und 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 14. Januar 2003 zu der Rolle der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften im europäischen Aufbauwerk(1) und den darin enthaltenen Verweis auf die sprachliche Vielfalt in Europa,
– unter Hinweis auf den Beschluss Nr. 1934/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juli 2000 über das Europäische Jahr der Sprachen 2001(2),
– unter Hinweis auf die Entschließung des Rates vom 14. Februar 2002 zur Förderung der Sprachenvielfalt und des Erwerbs von Sprachkenntnissen im Rahmen der Umsetzung der Ziele des Europäischen Jahres der Sprachen 2001(3),
– unter Hinweis auf die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates, die am 1. März 1998 in Kraft getreten ist,
– unter Hinweis auf das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, das am 1. Februar 1998 in Kraft getreten ist,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 4. September 2003 mit Empfehlungen an die Kommission zu den regionalen und weniger verbreiteten europäischen Sprachen – den Sprachen der Minderheiten in der Europäischen Union – unter Berücksichtigung der Erweiterung und der kulturellen Vielfalt(4),
– gestützt auf Artikel 45 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für Kultur und Bildung (A6-0372/2006),
A. in der Erwägung, dass die Achtung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt ein Grundprinzip der Europäischen Union darstellt und in Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit folgendem Wortlaut verankert ist: "Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen",
B. in der Erwägung, dass Mehrsprachigkeit eine Besonderheit der Europäischen Union ist, die sie zu einem klaren Vorbild und einem Grundelement der europäischen Kultur macht,
C. in der Erwägung, dass das Parlament in seiner oben genannten Entschließung vom 14. Januar 2003 gefordert hat, den folgenden neuen Artikel 151a in den EG-Vertrag aufzunehmen: "Die Gemeinschaft achtet und fördert im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die sprachliche Vielfalt in Europa, einschließlich der Regional- oder Minderheitensprachen als Ausdruck dieser Vielfalt, indem sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und andere geeignete Instrumente zur Förderung dieses Ziels einsetzt",
D. in der Erwägung, dass die Förderung der Mehrsprachigkeit in einem pluralistischen Europa ein wesentlicher Faktor für die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Integration ist und vor allem die Qualifikationen der Bürger verbessert und ihre Mobilität erleichtert,
E. in der Erwägung, dass einige europäische Sprachen auch in einer großen Anzahl von Nichtmitgliedstaaten gesprochen werden und ein wichtiges Bindeglied zwischen Völkern und Nationen verschiedener Regionen in der Welt darstellen,
F. in der Erwägung, dass eine besondere Fähigkeit einiger europäischer Sprachen darin besteht, eine unmittelbare und direkte Kommunikation mit anderen Teilen der Welt herzustellen,
G. in der Erwägung, dass sprachliche Vielfalt ein Element des sozialen Zusammenhalts und eine Quelle der Toleranz, der Akzeptanz der Unterschiede, der Identifizierung und der Völkerverständigung sein kann,
H. in der Erwägung, dass die Mehrsprachigkeit auch darauf abzielen muss, die Achtung der Vielfalt und der Toleranz zu fördern, um zu vermeiden, dass etwaige aktive oder passive Konflikte zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften der Mitgliedstaaten ausbrechen,
I. in der Erwägung, dass alle Sprachen als herausragendes Mittel für den Zugang zu einer Kultur eine charakteristische Art der Wahrnehmung und der Beschreibung von Wirklichkeit sind und deshalb in den Genuss der für ihre Entwicklung erforderlichen Voraussetzungen gelangen sollten,
J. in der Erwägung, dass man die Grundlagen für das Sprechenlernen, das Formulieren und den Erwerb von Grundkonzepten in der frühen Kindheit kennen muss, die das Fundament der Muttersprache bilden, um das Erlernen anderer Sprachen zu fördern und so dem Ziel der "Muttersprache+2" zu entsprechen,
K. in der Erwägung, dass Regional- und Minderheitensprachen einen großen Kulturschatz bilden und ihre Erhaltung in Anbetracht ihres Rangs als gemeinsames Kulturerbe besser gefördert werden sollte,
L. in der Erwägung, dass das Parlament und der Ausschuss der Regionen bei vielen Gelegenheiten die Frage nach der Bedeutung weniger gebräuchlicher Sprachen gestellt haben und es bisher auf EU-Ebene noch keine gesetzlichen Bestimmungen zu europäischen Regionalsprachen bzw. weniger verwendeten Sprachen gibt,
M. in der Erwägung, dass der Förderung des Zugangs von benachteiligten oder in Schwierigkeiten befindlichen Personen sowie von Menschen mit Behinderungen zum Sprachenunterricht besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte,
Konkrete Anmerkungen zur Rahmenstrategie
1. begrüßt die Verpflichtung der Kommission, insbesondere die neue Rahmenstrategie, um den Erwerb von Sprachkenntnissen zu fördern und kulturellen und sozioökonomischen Nutzen daraus zu ziehen;
2. ist der Ansicht, dass es zur Verwirklichung der in der Strategie von Lissabon festgelegten Ziele unerlässlich ist, die Qualität, die Effizienz und die Zugänglichkeit der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in der Europäischen Union durch die Förderung des Erlernens von Fremdsprachen zu verbessern;
3. anerkennt die strategische Bedeutung der europäischen Weltsprachen als Kommunikationsmittel und als ein Mittel der Solidarität, Zusammenarbeit und wirtschaftlichen Investition und daher als eine der wichtigsten politischen Leitlinien der europäischen Politik für die Mehrsprachigkeit;
4. begrüßt das langfristige Ziel der Kommission, die individuellen Sprachkenntnisse zu verbessern, wobei sie auf das vom Europäischen Rat 2002 in Barcelona festgelegte Ziel verweist, wonach die Bürgerinnen und Bürger der Union zu ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen hinzulernen sollten;
5. weist die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu diesem Zweck darauf hin, dass es notwendig ist, durch geeignete Maßnahmen eine regelrechte Politik für das Erlernen von Fremdsprachen zu fördern; bekräftigt außerdem, dass das frühe Erlernen von Sprachen äußerst wichtig ist und auf wirksamen Methoden und der Anwendung der besten verfügbaren Techniken basieren sollte;
6. ist der Ansicht, dass es an genauen und verlässlichen Daten und geeigneten Indikatoren für die derzeitige Situation im Bereich der Fremdsprachenkompetenz in den Mitgliedstaaten fehlt, und begrüßt daher den Vorschlag für einen Europäischen Indikator für Sprachenkompetenz; dieser Indikator sollte alle Amtssprachen der Europäischen Union umfassen und könnte, falls dies verfahrenstechnisch möglich ist, über die fünf weit verbreiteten Sprachen hinaus auch auf die anderen EU-Sprachen ausgedehnt werden, damit ein wirklichkeitsgetreues Bild der Sprachkenntnisse entsteht;
7. ist der Auffassung, dass sich die Vorschläge zur Förderung der Sprachenvielfalt nicht auf die wichtigsten Amtssprachen bzw. Sprachen der Mitgliedstaaten beschränken dürfen;
8. begrüßt es, dass sich die Kommission verpflichtet hat, den Bürgern und Bürgerinnen Zugang zu den Rechtsvorschriften, Verfahren und Informationen der Europäischen Union in ihrer eigenen Sprache zu gewährleisten; dies sollte jedoch auch möglichst viele der von EU-Bürgern gesprochenen Sprachen der Mitgliedstaaten umfassen; auf diese Weise würde die Aussage der Kommission, derzufolge die Bürger und Bürgerinnen ein Anrecht auf den Zugang zur Europäischen Union in ihrer eigenen Sprache ohne Hemmnisse haben sollen, in die Tat umgesetzt; dies wäre ein bedeutender Schritt zur Überbrückung der Kluft zwischen der Europäischen Union und vielen ihrer Bürger und Bürgerinnen, dem Hauptziel des Plans D für Demokratie, Dialog und Diskussion;
9. ersucht die Kommission sowie die anderen europäischen Institutionen, auf ihren Websites die neuen digitalen und technologischen Übersetzungswerkzeuge bestmöglich zu nutzen, um den europäischen Bürgern und Bürgerinnen den Zugang zu und den Empfang von Informationen über Europa in ihrer eigenen Sprache über das Internet zu ermöglichen;
10. ist der Ansicht, dass Migranten möglichst weitgehende Möglichkeiten für das Erlernen der Sprache bzw. der Sprachen des Aufnahmelandes, wie sie durch die Rechtsvorschriften dieses Landes festgelegt sind, mit Blick auf ihre soziale und kulturelle Integration, sofern sich dies als notwendig erweist, wobei vor allem Methoden anzuwenden sind, die sich für das Erlernen von Sprachen und für die Integration von Bürgern und Bürgerinnen mit Migrationshintergrund als wirksam erwiesen haben sowie für den Unterricht in ihrer Muttersprache zur Aufrechterhaltung ihrer Verbindungen zu ihrem Herkunftsland erhalten sollten;
11. begrüßt den Gedanken, den Mitgliedstaaten die Aufstellung nationaler Pläne nahe zu legen, da er die Notwendigkeit einer Planung der Sprachenverwendung auf nationaler Ebene anerkennt; dies wird vielen der weniger verbreiteten Sprachen mehr Gewicht geben und das Bewusstsein für die Bedeutung der Sprachenvielfalt schärfen; schlägt vor, dass sich die Pläne der Mitgliedstaaten auf die weniger verbreiteten Sprachen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten erstrecken, die Möglichkeit des Erlernens dieser Sprachen durch interessierte Erwachsene prüfen und diese Projekte als Beispiele für bewährte Praktiken darstellen;
12. unterstützt Maßnahmen für eine bessere Lehrerausbildung, und zwar auch für Lehrer, die keine Sprachen unterrichten, und für Berufsschullehrer, und verlangt zusätzlich eine Ausweitung der Zahl der innerhalb und außerhalb der Schule unterrichteten Sprachen, um den künftigen Lehrern das Erlernen und anschließend das Unterrichten einer größeren Vielfalt an Sprachen unter gleichen Bedingungen zu ermöglichen, sofern ein diesbezügliches Interesse geäußert wird; weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Erlernen von Sprachen zur Förderung und Erleichterung nicht nur der Mobilität der Studenten, sondern auch aller Arbeitnehmer, die in einem der Mitgliedstaaten eine berufliche Tätigkeit aufnehmen möchten, von wesentlicher Bedeutung ist;
13. fordert nachdrücklich, dass der Förderung des Fremdsprachenunterrichts für benachteiligte oder in Schwierigkeiten befindliche Personen sowie für Menschen mit Behinderungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird;
14. ist der Ansicht, dass der Sprachunterricht ein wesentlicher Bestandteil des Programms für lebenslanges Lernen sein muss;
15. begrüßt die verstärkte Verwendung des fremdsprachlichen Fachunterrichts (Content and Language Integrated Learning - CLIL), in dessen Rahmen die Schüler ein Fach in einer Fremdsprache erlernen, und fordert die Mitgliedstaaten auf, ein Netz bewährter Praktiken zu schaffen, indem sie insbesondere die mit den Intensivkursen in den mehrsprachigen Ländern erzielten Ergebnisse analysieren;
16. begrüßt die Tatsache, dass die höheren Bildungseinrichtungen eine aktivere Rolle bei der Förderung der Mehrsprachigkeit spielen, nicht nur unter den Studierenden und dem Personal, sondern auch unter der breiteren lokalen Bevölkerung, und glaubt deshalb, dass die Herstellung von Verbindungen zwischen den Universitäten und nationalen, lokalen und regionalen Behörden gefördert werden sollte;
17. begrüßt die Betonung der Forschungs- und Technologieentwicklung im Bereich der sprachenbezogenen Informationstechnologien innerhalb des 7. Forschungsrahmenprogramms zur Förderung der Mehrsprachigkeit durch neue Informationstechnologien;
18. unterstützt die Vorschläge zur Mehrsprachigkeit in der Informationsgesellschaft sowie zur Schaffung und Verbreitung vielsprachiger Inhalte und Kenntnisse; eine wachsende Palette technologischer Möglichkeiten wird die stärkere Verwendung aller, auch der weniger verbreiteten Sprachen erleichtern; technologische Entwicklungen bieten das größte Potential für die Gewährleistung eines soziolinguistischen Raums für alle Sprachen Europas;
19. unterstützt die Vorschläge für die Entwicklung sprachenbezogener Berufe und Wirtschaftszweige; in allen europäischen Sprachen wird es Bedarf an neuen Technologien wie Sprachverarbeitung, Sprecherkennung etc. sowie an terminologischer Arbeit, an einer Entwicklung des Sprachunterrichts sowie der Sprachprüfung und -zertifizierung geben; andernfalls werden die weniger verbreiteten Sprachen zurückbleiben und ihr soziolinguistischer Raum wird von den weiter verbreiteten Sprachen vereinnahmt werden;
20. begrüßt den Vorschlag, durch die Veröffentlichung eines Verzeichnisses der derzeit angebotenen Systeme zu einer größeren Transparenz im Bereich des Sprachunterrichts sowie der Sprachprüfung und -zertifizierung zu gelangen;
Vorgeschlagene Maßnahmen
21. fordert die europäischen Institutionen und Gremien auf, die Kommunikation mit den Bürgern und Bürgerinnen in deren eigener Sprache zu verbessern, unabhängig davon, ob die entsprechende Sprache auf Ebene der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Union Amtssprachenstatus hat oder nicht;
22. fordert die europäischen Institutionen und Gremien auf, bei der Förderung und dem Schutz der Sprachenvielfalt und des Erlernens von Fremdsprachen eng mit dem Europarat zusammen zu arbeiten und sich auf seine Erfahrung in der Sprachenpolitik zu stützen (z.B. das Europäische Sprachenportfolio oder die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen);
23. ermutigt die Kommission, die Umsetzung der in seiner oben genannten Entschließung vom 4. September 2003 dargelegten Vorschläge, soweit sie durchführbar sind, fortzusetzen und das Parlament regelmäßig über die erzielten Ergebnisse zu unterrichten;
24. fordert den Europäischen Bürgerbeauftragten auf, der Wahrung der mit der Sprache zusammenhängenden Rechte der europäischen Bürger besondere Aufmerksamkeit zu widmen und mehr Lösungswege für sprachenbezogene Konfliktsituationen in der Europäischen Union aufzuzeigen;
25. fordert die Kommission auf, den Zugang zur Information und zur Finanzierung von Bewerberorganisationen, deren Ziel die Förderung der Mehrsprachigkeit ist, durch von der Kommission ab dem Jahr 2007 finanzierte Netzwerke und/oder Projekte zu erleichtern und zu fördern;
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26. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung der Kommission und dem Rat sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten zu übermitteln.