Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Februar 2008 zur Lage im Gaza-Streifen
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zum Nahen Osten, insbesondere die Entschließungen vom 1. Juni 2006 zur humanitären Krise in den palästinensischen Gebieten und der Rolle der Europäischen Union(1), vom 16. November 2006 zur Lage im Gaza-Streifen(2), vom 21. Juni 2007 zu MEDA und der Finanzhilfe für Palästina – Bewertung, Umsetzung und Kontrolle(3), vom 12. Juli 2007 zum Nahen Osten(4) und vom 11. Oktober 2007 zur humanitären Lage in Gaza(5),
– unter Hinweis auf die Resolutionen 242 (S/RES/242) vom 22. November 1967 und 338 (S/RES/338) vom 22. Oktober 1973 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen,
– unter Hinweis auf die Vierte Genfer Konvention (1949),
– in Kenntnis der Erklärung von Annapolis vom 27. November 2007,
– in Kenntnis der Schlussfolgerungen des Rates "Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen" vom 28. Januar 2008,
– unter Hinweis auf die Erklärung des Ausschusses für politische Angelegenheiten, Sicherheit und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer vom 28. Januar 2008 zur Lage im Gaza-Streifen,
– unter Hinweis auf die Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 24. Januar 2008 über Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Streifen (A/HRC/S-61/L.1),
– gestützt auf Artikel 103 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass sich die humanitäre Lage im Gaza-Streifen durch das Embargo bezüglich des Personen- und Güterverkehrs, die teilweise festzustellende Verwehrung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser, Lebensmitteln und Elektrizität sowie das Fehlen wesentlicher Güter und Dienstleistungen weiter verschlechtert hat,
B. in der Erwägung, dass die Grenzübergänge am Gaza-Streifen seit Monaten geschlossen sind und das Embargo bezüglich des Personen- und Güterverkehrs die Wirtschaft im Gaza-Streifen weiter lahm gelegt hat,
C. in der Erwägung, dass sich Schlüsselsektoren bei den öffentlichen Dienstleistungen, darunter auch das Gesundheits- und das Bildungssystem, aufgrund des Fehlens des für ihr Funktionieren erforderlichen Grundmaterials in einer schweren Krise befinden, und in der Erwägung, dass durch den Mangel an Medikamenten und von Kraftstoffen zum Betrieb der Generatoren in den Krankenhäusern im Gaza-Streifen das Leben von Palästinensern aufs Spiel gesetzt wird,
D. in der Erwägung, dass nach dem Fall der Grenzmauer zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten Hunderttausende Palästinenser die Grenze überquert haben, um sich die wichtigsten Waren zur Deckung ihres Grundbedarfs zu beschaffen, und dass die ägyptischen Kräfte die Lage allmählich wieder unter Kontrolle bekommen und die Grenze am 3. Februar 2008 wieder geschlossen haben, womit die ungehinderte Überschreitung der Grenze durch die Palästinenser – wie von der israelischen Regierung gefordert – beendet war,
E. in der Erwägung, dass die teilweise Zerstörung des Grenzwalls eine direkte Folge der außergewöhnlich schweren humanitären Krise im Gaza-Streifen ist und dem Bestreben der palästinensischen Bevölkerung Ausdruck verleiht, ihr dringendes Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit geltend zu machen,
F. in der Erwägung, dass nach langer Zeit ohne derartige Anschläge bei einem terroristischen Selbstmordanschlag in Dimona israelische Zivilisten getötet und verwundet wurden; in der Erwägung, dass palästinensische Milizen weiterhin Raketen vom Gaza-Streifen auf israelisches Gebiet abfeuern, und in der Erwägung, dass die Militäroperationen, bei denen Zivilisten getötet und gefährdet werden, sowie die außergerichtlichen gezielten Tötungen durch die israelische Armee im Gaza-Streifen fortgesetzt werden,
G. in der Erwägung, dass die Lage und die jüngsten Entwicklungen im Gaza-Streifen die laufenden Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern sowie die Bemühungen um den Abschluss eines Abkommens bis Ende 2008, wie von den beteiligten Parteien auf der internationalen Konferenz von Annapolis vom 27. November 2007 erklärt, beeinträchtigen könnten,
H. in der Erwägung, dass die Europäische Union den Palästinensern in den letzen Jahren beträchtliche finanzielle Unterstützung zukommen ließ; in der Erwägung, dass der zeitlich begrenzte Internationale Mechanismus (TIM) der Europäischen Union und die Finanzierung von Projekten wesentlich dazu beigetragen haben, eine humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen und im Westjordanland zu verhindern; in der Erwägung, dass die Kommission, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UND), das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) und die Weltbank ihre verschiedenen Infrastrukturprojekte ausgesetzt haben, weil es nicht möglich war, Rohstoffe zu importieren; in der Erwägung, dass diese humanitären Ämter, Agenturen und Organisationen ihre Arbeit trotz aller Hindernisse in eingeschränktem Maße weitergeführt haben; in der Erwägung, dass die Europäische Union dem palästinensischen Volk nach wie vor humanitäre Hilfe und den Mitarbeitern der Palästinensischen Behörde im Gaza-Streifen direkte Unterstützung gewährt; in der Erwägung, dass PEGASE einen neuen Mechanismus zur Bereitstellung von EU-Hilfe und internationaler Hilfe für die palästinensischen Gebiete darstellen wird,
I. in der Erwägung, dass auf der Konferenz in Annapolis alle Parteien den Wunsch geäußert haben, erneut Verhandlungen aufzunehmen, die zur Errichtung eines souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite eines sicheren israelischen Staates führen sollen,
J. in der Erwägung, dass die Teilnehmer an der Internationalen Geberkonferenz für den palästinensischen Staat, die im Dezember 2007 in Paris stattfand, insgesamt 7,4 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung des Aufbaus der palästinensischen Institutionen und der wirtschaftlichen Erholung in den nächsten drei Jahren zugesagt haben,
K. in der Erwägung, dass der Sonderbeauftragte des Quartetts vier vorrangige Projekte für die wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau der Institutionen in den palästinensischen Gebieten ermittelt hat, wozu auch die Wiederherstellung der Kläranlage in Beit Lahia im nördlichen Gaza-Streifen gehört,
1. bringt erneut seine tiefe Besorgnis über die humanitäre und politische Krise im Gaza-Streifen und ihre weiteren möglicherweise schwerwiegenden Folgen zum Ausdruck; betrachtet die jüngsten Entwicklungen in Rafah, sowohl die friedlichen Ereignisse als auch die gewalttätigen Akte, als das Ergebnis dieser Krise im Gaza-Streifen;
2. bringt sein tief empfundenes Mitgefühl für die von der Gewalt im Gaza-Streifen und in Südisrael betroffene Zivilbevölkerung zum Ausdruck;
3. wiederholt seine Forderung nach einer sofortigen Einstellung aller Gewalttätigkeiten;
4. fordert Israel auf, die Militäraktionen, bei denen Zivilisten getötet und gefährdet werden, sowie die außergerichtlichen gezielten Tötungen einzustellen;
5. fordert die Hamas auf, nach der illegalen Übernahme des Gaza-Streifens zu verhindern, dass palästinensische Milizen Raketen vom Gaza-Streifen auf israelisches Gebiet abfeuern;
6. ist der Auffassung, dass die Politik der Isolierung des Gaza-Streifens sowohl auf politischer als auch auf humanitärer Ebene gescheitert ist; fordert alle beteiligten Parteien auf, das Völkerrecht, und insbesondere das humanitäre Völkerrecht, vollständig zu achten;
7. begrüßt die Reaktion Ägyptens auf die Tumulte am Grenzübergang Rafah, bei denen zahlreiche palästinensische Familien die Möglichkeit erhielten, sich die wichtigsten Güter für ihren Grundbedarf zu beschaffen, als positiven Schritt; fordert die ägyptische Regierung nachdrücklich auf, auch weiterhin eine aktive Rolle bei der Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität in der Region zu spielen;
8. fordert erneut eine Aufhebung der Blockade und eine kontrollierte Wiedereröffnung der Grenzübergänge von und nach Gaza; fordert Israel auf, den Personen- und Güterverkehr in Rafah, Karni und an anderen Grenzübergängen sicherzustellen, wie dies im Grenzverkehrsabkommen festgelegt wurde; fordert die Wiederaufnahme der Grenzunterstützungsmission der Europäischen Union am Grenzübergang Rafah; begrüßt die Erklärung des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wonach ein neues Mandat des Rates für die Mission in Betracht gezogen werden sollte; fordert in diesem Zusammenhang eine verstärkte internationale Präsenz in der Region;
9. begrüßt den Vorschlag der Palästinensischen Behörde, auf der Grundlage einer Übereinkunft zwischen Ägypten, Israel und der Palästinensischen Behörde die Kontrolle an den Grenzübergängen zu übernehmen, und unterstützt die jüngste Entschließung der Arabischen Liga zu diesem Thema; ersucht die Palästinensische Behörde jedoch, daran mitzuwirken, dass die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, um alle betroffenen Parteien im Gaza-Streifen in diese Aufgabe mit einzubeziehen;
10. vertritt die Auffassung, dass die Zivilbevölkerung von allen Militäraktionen sowie jeder Art von kollektiver Bestrafung ausgenommen werden sollte; fordert Israel auf, seinen internationalen Verpflichtungen als Besatzungsmacht im Gaza-Streifen nachzukommen; fordert Israel ferner auf, die anhaltende und ausreichende Bereitstellung von humanitärer Hilfe, einer entsprechenden Unterstützung und der wichtigsten Waren und Dienstleistungen, darunter auch Treibstoff und Energieversorgung, für den Gaza-Streifen zu gewährleisten; zeigt sich tief besorgt über den Beschluss Israels, die Energieversorgung des Gaza-Streifens schrittweise um 5 % pro Woche zu kürzen, was nicht als ausreichend zur Deckung des minimalen humanitären Bedarfs angesehen werden kann; begrüßt die von zehn israelischen Menschenrechtsorganisationen verfasste Petition gegen die Kürzungen bei den Treibstoff- und Stromlieferungen in den Gaza-Streifen;
11. vertritt die Ansicht, dass für das Funktionieren der öffentlichen Institutionen, die wichtige Dienstleistungen bereitstellen, sowie für die Tätigkeit der internationalen humanitären Büros, Agenturen und Organisationen, die sich um eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Palästinenser im Gaza-Streifen bemühen, trotz des politischen Stillstands ein Dialog zwischen der Palästinensischen Behörde und der Hamas erforderlich ist;
12. unterstreicht die große Bedeutung einer ständigen geographischen und handelstechnischen Verbindung zwischen dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland sowie der friedlichen und dauerhaften politischen Wiedervereinigung beider Teile und fordert die Hamas auf, ihren Standpunkt im Einklang mit den Grundsätzen des Quartetts sowie den im Vorfeld eingegangenen internationalen Verpflichtungen zu überdenken und den Friedensprozess sowie die laufenden Verhandlungen zu unterstützen;
13. wiederholt seine Forderung nach sofortiger Freilassung des israelischen Unteroffiziers Gilad Shalit, die als Akt des guten Willens seitens der Hamas aufgefasst würde, sowie aller inhaftierten ehemaligen palästinensischen Minister, Abgeordneten und Bürgermeister; hält die Freilassung der festgehaltenen Personen für wichtig, um im Rahmen der gegenwärtigen Friedensgespräche Vertrauen aufzubauen;
14. erinnert die beteiligten Parteien an ihre in Annapolis eingegangenen Verpflichtungen, in gutem Glauben Verhandlungen zu führen, um bis Ende 2008 einen Friedensvertrag abzuschließen, der alle ausstehenden Fragen löst und ohne Ausnahme alle Kernfragen einschließt, wie sie in früheren Abkommen genannt wurden; fordert beide Seiten mit Nachdruck auf, ihre in der "Roadmap" verankerten Verpflichtungen zu erfüllen;
15. fordert den Rat und die Kommission auf, zusammen mit der internationalen Gemeinschaft auch weiterhin die Bereitstellung lebenswichtiger humanitärer Hilfe für die im Gaza-Streifen lebenden Palästinenser zu gewährleisten, wobei den Bedürfnissen der besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen spezielle Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte; unterstreicht die Bedeutung des neuen Finanzierungsmechanismus PEGASE; zeigt sich jedoch tief besorgt über die Zerstörung von Einrichtungen, die im Rahmen der humanitären Hilfe oder einer Projektfinanzierung der Europäischen Union finanziell unterstützt wurden, wodurch die Effizienz der EU-Hilfe untergraben und die Solidarität der Öffentlichkeit in den Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird;
16. begrüßt das Ergebnis der Internationalen Geberkonferenz für den Palästinenserstaat vom Dezember 2007, nämlich die Zusage von mehr als 7,4 Milliarden US-Dollar, und fordert alle Geber auf, ihre Zusagen zu Gunsten der Bemühungen um den Aufbau des künftigen Palästinenserstaates gemäß dem von Ministerpräsident Dr. Salam Fayyad vorgelegten Reform- und Entwicklungsplan einzuhalten;
17. äußert seine ernsthafte Besorgnis über die ökologischen und gesundheitlichen Folgen der Tatsache, dass die Kläranlage nicht instand gehalten wurde, und fordert insbesondere alle Parteien auf, den Zugang zu dem für die Reparatur und den Wiederaufbau der Kläranlage in Beit Lahia erforderlichen Material zu erleichtern, wie dies vom Sonderbeauftragten des Quartetts deutlich gemacht wurde;
18. fordert ein sofortiges und beispielhaftes Energieprojekt für den Gazastreifen, möglicherweise im Gebiet Rafah, um die Autonomie und die Selbstversorgung der Bevölkerung in Bezug auf die Stromerzeugung und die Entsalzung zu gewährleisten;
19. ersucht seine Arbeitsgruppe für den Nahen Osten, in Zusammenarbeit mit der Kommission und den beteiligten internationalen Organisationen die Folgen der Zerstörung der Infrastruktur im Gaza-Streifen zu untersuchen und dabei den Einrichtungen, die im Rahmen der humanitären Hilfe oder einer Projektfinanzierung der Europäischen Union finanziell unterstützt werden, besondere Beachtung zu schenken;
20. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, dem Nahost-Sonderbeauftragten des Quartetts, dem Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer, dem Präsidenten der Palästinensischen Behörde, dem Palästinensischen Legislativrat, der israelischen Regierung, der Knesset sowie der ägyptischen Regierung und dem ägyptischen Parlament zu übermitteln.