Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juli 2008 zur angeblichen Existenz von Massengräbern im indisch verwalteten Teil Kaschmirs
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die Berichte seiner Ad-hoc-Delegation über die Besuche in Kaschmir vom 8. bis 11. Dezember 2003 und vom 20. bis 24. Juni 2004,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 18. Mai 2006 zu dem Jahresbericht 2005 zur Menschenrechtslage in der Welt und zur Menschenrechtspolitik der Europäischen Union(1),
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 24. Mai 2007 über die derzeitige Lage und künftige Perspektiven Kaschmirs(2),
– gestützt auf Artikel 115 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass in Jammu und Kaschmir seit 2006 Hunderte namenloser Gräber entdeckt worden sein sollen, und in der Erwägung, dass allein in 18 Dörfern im Distrikt Uri angeblich mindestens 940 Leichen gefunden wurden,
B. in der Erwägung, dass die in Srinagar ansässige Vereinigung der Eltern von Verschwundenen (APDP) am 29. März 2008 einen Bericht veröffentlicht hat, wonach es mehrere Gräber an Orten gibt, die wegen ihrer Nähe zu der Demarkationslinie zu Pakistan nicht ohne spezifische Genehmigung der Sicherheitskräfte zugänglich sind,
C. in der Erwägung, dass nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Grabstätten die sterblichen Überreste der Opfer von außergerichtlichen Hinrichtungen, gewaltsam herbeigeführtem Verschwinden, Folter und anderen Missbräuchen enthalten, die im Zusammenhang mit dem seit 1989 in Jammu und Kaschmir andauernden bewaffneten Konflikt stehen,
D. in der Erwägung, dass die Schätzungen der Zahl der seit 1989 verschwundenen Personen stark schwanken und von mehr als 8 000 nach Angaben der Vereinigungen der Familienangehörigen der Opfer bis zu weniger als 4 000 nach Aussagen der Regierungsstellen reichen,
E. in der Erwägung, dass in einem staatlichen Polizeibericht von 2006 331 Todesfälle in Polizeigewahrsam und 111 Fälle von gewaltsam herbeigeführtem Verschwinden nach Verhaftungen seit 1989 bestätigt wurden,
F. in der Erwägung, dass trotz der Zusage der indischen Regierung vom September 2005, Menschenrechtsverletzungen in Jammu und Kaschmir nicht mehr zu dulden, weiterhin Anschuldigungen über Menschenrechtsverletzungen erhoben werden,
G. in der Erwägung, dass Parvez Imroz, ein mehrfach ausgezeichneter Menschenrechtsanwalt, Vorsitzender des Bündnisses der Zivilgesellschaft von Jammu und Kaschmir und Gründer der APDP, am 30. Juni 2008 in Srinagar einen bewaffneten Angriff durch mutmaßliche Angehörige der Sicherheitskräfte überlebt hat, und in der Erwägung, dass andere Mitglieder des Internationalen Tribunals für Menschenrechte und Gerechtigkeit in Kaschmir, das von der APDP gefördert wird, angeblich schikaniert wurden,
1. fordert die indische Regierung auf, umgehend für unabhängige und unparteiische Untersuchungen aller vermuteten Massengräber in Jammu und Kaschmir zu sorgen und in einem sofortigen ersten Schritt die Grabstätten zu sichern, um die Beweise zu erhalten;
2. fordert die Kommission auf, der indischen Regierung im Rahmen des Stabilitätsinstruments finanzielle und technische Unterstützung für solche eingehenden Untersuchungen und für mögliche weitere Maßnahmen zur Beilegung des Konflikts in Kaschmir anzubieten;
3. fordert die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, dieses Thema im kommenden Menschenrechtsdialog, der im zweiten Halbjahr 2008 stattfinden soll, zur Sprache zu bringen;
4. äußert seine Besorgnis um die Sicherheit von Parvez Imroz und anderen Menschenrechtsaktivisten, welche die anonymen Gräber und andere mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen in Jammu und Kaschmir untersuchen, und fordert die indischen Regierungsstellen auf, für ihren Schutz zu sorgen und zu gewährleisten, dass sie ihrer Tätigkeit ohne Angst vor Schikane und Gewalt nachgehen können; fordert die Regierungsstellen nachdrücklich auf, eine umgehende und unparteiische Untersuchung des Angriffs auf Parvez Imroz durchzuführen, die Ergebnisse öffentlich bekannt zu machen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen;
5. wiederholt seine Forderung an die indische Regierung und die staatlichen Stellen, alle Anschuldigungen über gewaltsam herbeigeführtes Verschwinden von Personen zu untersuchen; fordert nachdrücklich, die Zuständigkeit für alle Fälle, an denen Militärangehörige, Sicherheitskräfte oder Vollzugsbeamte mutmaßlich beteiligt sind, einem Staatsanwalt aus dem Zivilbereich zu übertragen und eine einzige öffentliche Datenbank zu errichten, in der alle Personen, die verschwunden sind, und alle Leichen, die geborgen wurden, erfasst werden; fordert die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, jede erdenkliche Zusammenarbeit zwischen der indischen Regierung und der pakistanischen Regierung im Hinblick auf diese Untersuchung zu erleichtern und zu unterstützen;
6. fordert die staatlichen Stellen auf, dafür zu sorgen, dass alle Haftverfahren den Mindestanforderungen in Bezug auf Völkerrechtsnormen, angemessene Behandlung, Registrierung und Strafverfolgung, unverzüglichen Zugang zu Familienangehörigen, Anwälten und unabhängigen Gerichten sowie hinsichtlich der Verantwortlichkeit für jeden Verstoß gegen diese Verfahren entsprechen;
7. verurteilt nachdrücklich die außergerichtlichen Hinrichtungen, das gewaltsam herbeigeführte Verschwinden von Personen, Folter, Vergewaltigung und andere Menschenrechtsverletzungen, die seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Jahr 1989 in Jammu und Kaschmir geschehen sind; fordert nachdrücklich, dass den Familienangehörigen der Opfer volle Entschädigung gewährt wird;
8. fordert alle Regierungen auf, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu ratifizieren, das Übereinkommen der Vereinten Nationen zum Schutz aller Menschen vor dem Verschwindenlassen vorbehaltlos zu ratifizieren und umzusetzen und gemäß den Artikeln 31 und 32 dieses Übereinkommens zu erklären, dass sie die Zuständigkeit des Ausschusses für das gewaltsam verursachte Verschwinden von Personen anzuerkennen;
9. fordert, den Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen im Rahmen der Sonderverfahren der Vereinten Nationen und insbesondere den Sonderberichterstattern für Folter, außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen und der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zur Frage des gewaltsam verursachten oder unfreiwilligen Verschwindens von Personen uneingeschränkten Zugang zu beiden Seiten der Demarkationslinie zu gewähren;
10. wiederholt die Forderung an das Unterhaus des indischen Parlaments, Lok Sabha, das Gesetz zum Schutz der Menschenrechte zu ändern, um der nationalen Menschenrechtskommission zu ermöglichen, eine unabhängige Untersuchung der Anschuldigungen über Missbrauch durch Angehörige der Streitkräfte durchzuführen;
11. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Regierung und dem Parlament Indiens, der Regierung und dem Parlament der Islamischen Republik Pakistan, der Regierung und dem Parlament des Staates Jammu und Kaschmir sowie dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zu übermitteln.