Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. Januar 2009 zu den Perspektiven für den Ausbau des Dialogs mit den Bürgern im Rahmen des Vertrags von Lissabon (2008/2067(INI))
Das Europäische Parlament,
– gestützt auf den am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft,
– gestützt auf den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 20. Februar 2008 zum Vertrag von Lissabon(1),
– unter Hinweis auf die verschiedenen Entschließungen zur Zivilgesellschaft, die es in der laufenden Wahlperiode angenommen hat,
– unter Hinweis auf den Workshop des Ausschusses für konstitutionelle Fragen mit Vertretern von Organisationen der Zivilgesellschaft am 3. Juni 2008,
– gestützt auf Artikel 45 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (A6-0475/2008),
A. in der Erwägung, dass eine demokratische und bürgernahe Europäische Union eine enge Zusammenarbeit der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten mit der Zivilgesellschaft auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene erfordert,
B. in der Erwägung, dass die Offenheit der EU-Institutionen sowie der nationalen, regionalen und lokalen Behörden zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit den Bürgern und den Organisationen der Zivilgesellschaft eine Grundvoraussetzung für deren Einbindung in die Rechtsetzung und Regierungsführung auf allen Ebenen ist,
C. in der Erwägung, dass mit dem Vertrag von Lissabon die Rechte der EU-Bürger gegenüber der Union gestärkt werden, indem den Bürgern und repräsentativen Vereinigungen der Zivilgesellschaft die Mitwirkung an der Debatte über ein "Europa der Bürger" erleichtert wird,
D. in der Erwägung, dass die derzeitigen Bestimmungen, die auch in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden sind, zwar einen unerlässlichen Rechtsrahmen für die Weiterentwicklung des Dialogs mit den Bürgern auf europäischer Ebene schaffen, ihre Ausführung jedoch nicht immer zufriedenstellend ist,
E. in der Erwägung, dass sich die Zivilgesellschaft in den 27 Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befindet, und in unterschiedlichem Maße auf Möglichkeiten der Mitwirkung an der partizipatorischen Demokratie und an der Rechtsetzung sowie des Dialogs mit den jeweiligen nationalen, regionalen und lokalen Behörden zurückgreift,
F. in der Erwägung, dass sich der Begriff "Zivilgesellschaft" auf die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen und gemeinnützigen Organisationen bezieht, die aus eigenem Antrieb von Bürgerinnen und Bürgern gegründet werden, im öffentlichen Leben präsent sind und die Interessen, Vorstellungen und Weltanschauungen ihrer Mitglieder oder anderer Personen - auf der Grundlage ethischer, kultureller, politischer, wissenschaftlicher, religiöser oder philanthropischer Erwägungen - zum Ausdruck bringen,
G. in der Erwägung, dass die Frage der Bestimmung des repräsentativen Charakters von Organisationen der Zivilgesellschaft kontrovers diskutiert wird und Aktivitäten und Effizienz einiger Organisationen im Hinblick auf die Durchsetzung ihrer Vorstellungen nicht immer dem Grad ihrer Repräsentativität entsprechen,
H. in der Erwägung, dass die einzelnen Institutionen der Europäischen Union mit Blick auf den Dialog mit den Bürgern unterschiedliche Ansätze gewählt haben,
1. würdigt den Beitrag der Europäischen Union zur Entwicklung des Dialogs mit den Bürgern sowohl auf europäischer als auch auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene;
2. unterstreicht, dass die Zivilgesellschaft in Europa eine wichtige Rolle im Prozess der europäischen Integration spielt, indem sie Standpunkte und Forderungen von EU-Bürgerinnen und Bürgern an die europäischen Institutionen heranträgt; hebt die Bedeutung des Sachverstands, der den Institutionen von Seiten der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt wird, hervor und unterstreicht, wie wichtig es ist, Informationen über den Dialog mit den Bürgern bereitzustellen und für diesen Dialog zu sensibilisieren, insbesondere im Zusammenhang mit der Förderung der Tätigkeiten und Zielvorgaben der Europäischen Union, der Schaffung europäischer Kooperationsnetze und der Stärkung der europäischen Identität und der Identifikation mit Europa innerhalb der Zivilgesellschaft;
3. betont, dass zur Verwirklichung der politischen Ziele und Vorhaben der Europäischen Union eine breitere öffentliche Debatte, ein effizienterer Dialog mit den Bürgern und eine Schärfung des politischen Bewusstseins erforderlich sind;
4. verweist auf sein besonderes Engagement für den Dialog mit den Bürgern und auf die Bedeutung, die diesem Dialog im Vertrag von Lissabon eingeräumt wird, durch den er den Rang eines übergeordneten Grundsatzes erhält, der für sämtliche Tätigkeitsbereiche der Europäischen Union gilt;
5. begrüßt den Ausbau der repräsentativen und partizipatorischen Demokratie durch die im Vertrag von Lissabon vorgesehene Bürgerinitiative, die es einer Million Bürgerinnen und Bürgern aus mehreren Mitgliedstaaten ermöglicht, die Kommission aufzufordern, einen Legislativvorschlag vorzulegen;
6. fordert die Institutionen der Europäischen Union und die nationalen, regionalen und lokalen Behörden in den Mitgliedstaaten auf, die bestehenden Rechtsvorschriften und den Katalog bewährter Praktiken bestmöglich für die Entwicklung des Dialogs mit den Bürgern sowie den Organisationen der Zivilgesellschaft zu nutzen; vertritt insbesondere die Auffassung, dass die Informationsbüros des Europäischen Parlaments in jedem Mitgliedstaat eine aktive Rolle im Hinblick auf die Förderung, die Organisation und die Leitung von Foren übernehmen sollten, die mindestens ein Mal im Jahr zwischen dem Parlament und Vertretern der Zivilgesellschaft in dem betreffenden Mitgliedstaat stattfinden, und unterstreicht die Bedeutung der regelmäßigen Mitwirkung seiner Mitglieder sowohl aus dem betreffenden Mitgliedstaat als auch aus anderen Mitgliedstaaten in diesen Foren;
7. fordert die Institutionen der Europäischen Union auf, alle interessierten Vertreter der Zivilgesellschaft in den Dialog mit den Bürgern einzubinden; hält es in diesem Zusammenhang für wichtig, dass die Stimme der jungen Europäerinnen und Europäer, die die Europäische Union von morgen gestalten und für sie Verantwortung übernehmen werden, Gehör findet;
8. fordert die Institutionen der Europäischen Union auf, dafür zu sorgen, dass sich alle EU-Bürger – Frauen und Männer, junge und alte Menschen, städtische und ländliche Bevölkerung gleichermaßen – aktiv, ohne diskriminiert zu werden und gleichberechtigt am Dialog mit den Bürgern beteiligen können, wobei insbesondere dafür gesorgt werden muss, dass Angehörige sprachlicher Minderheiten die Möglichkeit haben, ihre Muttersprache in solchen Foren zu benutzen; weist darauf hin, dass die Rolle der Europäischen Union auf diesem Gebiet darin bestehen sollte, zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichstellung der Geschlechter beizutragen und bei der Durchsetzung dieses Grundsatzes sowohl innerhalb als auch außerhalb der Europäischen Union beispielgebend zu wirken;
9. fordert die Institutionen der Europäischen Union auf, in einer Interinstitutionellen Vereinbarung verbindliche Leitlinien für die Benennung von zivilgesellschaftlichen Vertretern sowie Methoden für die Ausgestaltung von Konsultationen und ihre Finanzierung zu beschließen und dabei den allgemeinen Grundsätzen und Mindeststandards für die Konsultation betroffener Parteien Rechnung zu tragen(2); weist darauf hin, dass alle EU-Institutionen zu diesem Zweck aktuelle Register aller einschlägigen regierungsunabhängigen Organisationen unterhalten sollten unabhängig davon, ob sie in den Mitgliedstaaten aktiv sind und/oder sich auf die EU-Institutionen konzentrieren;
10. fordert die Institutionen der Europäischen Union auf, den Dialog mit den Bürgern zu einer Querschnittsaufgabe für alle Generaldirektionen der Kommission, alle Arbeitsgruppen im Rat und alle Ausschüsse im Europäischen Parlament zu machen, dabei dem Transparenzgrundsatz Rechnung zu tragen und auf die Einhaltung eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor zu achten;
11. fordert die Institutionen der Europäischen Union auf, zur Gewährleistung einer besseren Kommunikation, eines besseren Informationsflusses und einer besseren Koordinierung in Bezug auf ihre Maßnahmen zur Konsultation der Öffentlichkeit eine engere Zusammenarbeit beim Ausbau des Dialogs mit den Bürgern anzustreben und eine aktive europäische Einstellung unter den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union zu fördern; weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang regelmäßige Treffen zwischen der Zivilgesellschaft und Mitgliedern der Kommission in Foren innerhalb der Mitgliedstaaten in höchstem Maße wünschenswert wären, da sie die empfundene Kluft zwischen der Europäischen Union und den Bürgerinnen und Bürgern Europas verringern könnten;
12. fordert den Rat auf, den Zugang zu seinen Arbeiten zu erleichtern und zu vereinfachen, da dies eine Grundvoraussetzung für einen wirklichen Dialog mit der Zivilgesellschaft ist;
13. betont die Bedeutung der Entwicklung einer europäischen Kommunikationspolitik in Bezug auf die Bereitstellung neuer Mittel und Wege zur Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union (unter Nutzung des Internet sowie von E-Technologien und modernen audiovisuellen Technologien);
14. spricht sich für die Fortsetzung bestehender und bereits bewährter Maßnahmen der Europäischen Union zur verstärkten Einbindung der Zivilgesellschaft in den Prozess der europäischen Integration aus, wie beispielsweise Europe by Satelite, Bürger-Agora, themenspezifische Bürgerforen (z. B. "Your Europe"), Diskussionen im Internet usw.;
15. verweist insbesondere auf die Bedeutung der Rolle professioneller Meinungsumfragen in Europa zur Identifikation und zum besseren Verständnis der Bedürfnisse und Erwartungen der EU-Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf die Funktionsweise der Europäischen Union; fordert sowohl die EU-Institutionen als auch die Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten mit Nachdruck auf, sich bei ihren Interaktionen und Debatten diese Erwartungen vor Augen zu halten;
16. fordert die nationalen, regionalen und lokalen Stellen in den Mitgliedstaaten zur Förderung des Dialogs mit den Bürgern auf, insbesondere in jenen Ländern und Regionen sowie in jenen Bereichen, in denen er noch nicht in vollem Maße entwickelt bzw. ausreichend umgesetzt worden ist; fordert diese Gremien ferner mit Nachdruck auf, aktiv die Entwicklung der regionalen Interaktivität der Zivilgesellschaft unter den Mitgliedstaaten und grenzüberschreitende Initiativen zu fördern; ist der Ansicht, dass der Aufbau von Clustern in den Mitgliedstaaten ebenfalls als Mittel zur Förderung des Austauschs von Ideen und Erfahrungen innerhalb der Europäischen Union sondiert werden sollte;
17. fordert die Vertreter der europäischen Gesellschaft auf, sich aktiv in den Dialog mit den Bürgern und in die Gestaltung europäischer Programme und Politikfelder einzubringen, um auf diese Weise die Einflussnahme auf Beschlussfassungsprozesse zu ermöglichen;
18. ermutigt die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, sich verstärkt in die europäischen Debatten und Diskussionen einzubringen und sich an den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament zu beteiligen;
19. weist darauf hin, dass für den Dialog mit den Bürgern auf allen Ebenen – der europäischen, der nationalen, der regionalen und der lokalen Ebene – angemessene finanzielle Mittel erforderlich sind, und fordert die an diesem Dialog beteiligten Akteure und die für ihn verantwortlichen Stellen auf, seine angemessene Finanzierung sicherzustellen;
20. betont, dass es neben dem Dialog mit der Zivilgesellschaft auch einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog zwischen der Europäischen Union und Kirchen und Glaubensgemeinschaften – wie im Vertrag von Lissabon vorgesehen – geben muss;
21. empfiehlt den Institutionen der Europäischen Union, gemeinsam Informationen über Repräsentativität und Tätigkeitsfelder von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Europa zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel in einer öffentlichen und benutzerfreundlichen Datenbank;
22. fordert die Kommission auf, einen neuen Vorschlag für europäische Vereine zu unterbreiten, damit europäische zivilgesellschaftliche Organisationen auf eine gemeinsame Rechtsgrundlage zurückgreifen können;
23. beauftragt seinen Präsidenten auf, diese Entschließung den Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Rat, der Kommission, dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem Ausschuss der Regionen zu übermitteln.
Siehe die Mitteilung der Kommission vom 11. Dezember 2002 mit dem Titel "Hin zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs - Allgemeine Grundsätze und Mindeststandards für die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission" (KOM(2002)0704).