Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010 zur Lage in Jemen
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die bei der hochrangig besetzten Konferenz zu Jemen vom 27. Januar 2010 abgegebene Erklärung des Vorsitzes,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates für Auswärtige Angelegenheiten zu Jemen vom 25. Januar 2010 und 27. Oktober 2009,
– unter Hinweis auf die Erklärung des Ratsvorsitzes im Namen der Europäischen Union vom 27. Oktober 2009 zur Verschlechterung der Sicherheitslage in Jemen,
– unter Hinweis auf das Strategiepapier der Europäischen Gemeinschaft zu Jemen für den Zeitraum 2007–2013,
– unter Hinweis auf das Ergebnis der von der Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zu den Golfstaaten einschließlich Jemen vom 22. bis 25. Februar 2009 unternommenen Reise nach Jemen,
– in Kenntnis des Abschlussberichts der EU-Wahlbeobachtungsmission vom 26. September 2006
– gestützt auf Artikel 110 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass bereits seit langer Zeit eine generelle Verschlechterung der Sicherheitslage sowie der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation in Jemen verzeichnet wird, was in der internationalen Gemeinschaft erhebliche Sorge verursacht,
B. in der Erwägung, dass sich eine Schwesterorganisation von Al-Qaida zu dem fehlgeschlagenen Versuch, im Dezember 2009 ein Flugzeug über Detroit zur Explosion zu bringen, bekannt hat, der von dem nigerianischen Terroristen Umar Faruk Abdulmuttab unternommen wurde, der angab, er sei in einem jemenitischen Lager von Al-Qaida ausgebildet und ausgerüstet worden, sowie in der Erwägung, dass bei einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage in Jemen Terroristen und aufständische Gruppen in der Region, insbesondere Al-Qaida, ein sicheres Rückzugsgebiet erhalten würden, in dem sie spätere terroristische Aktionen planen, organisieren und unterstützen könnten,
C. in der Erwägung, dass sich die Sicherheitslage durch den Bürgerkrieg gegen die Anhänger der Erweckungsbewegung "Zaidi Shi'i" in der Region Sa'da im Norden des Landes und den von der Separatistenbewegung im Süden verursachten Gewaltausbruch weiter verschärft,
D. in der Erwägung, dass Terrorismus in Jemen bereits vor dem 11. September 2001 seit vielen Jahren verbreitet war, was auch der Angriff von Al-Qaida auf die USS Cole vom 12. Oktober 2000 belegt, und dass sich der Terrorismus in Jemen seit 2007 mit vielen Anschlägen auf Pipelines, Ölanlagen, Regierungsgebäude, Botschaften (darunter die italienische und die US-amerikanische), Schiffe und Touristen im Land verschärft hat,
E. in der Erwägung, dass der lokale bewaffnete Konflikt in der Region Sa'da eine regionale Dimension erlangte, als saudi-arabische Streitkräfte die Rebellen nach einem Übertritt der saudi-jemenitischen Grenze angriffen und Vorstöße gegen Positionen der Rebellen unternahmen, sowie in der Erwägung, dass die jemenitische Regierung außerdem behauptet hat, dass externe schiitische Gruppen die Bewegungen der Rebellen im Norden des Landes unterstützen,
F. in der Erwägung, dass die Kämpfe zwischen der jemenitischen Armee und den schiitischen Rebellen in der nördlichen Provinz Sa'ada, die im Jahr 2004 ausgebrochen sind, zu mehr als 175 000 Binnenflüchtlingen geführt und eine humanitäre Krise in der Region ausgelöst haben,
G. in der Erwägung, dass Jemen eines der ärmsten Länder der Welt ist und dass die Lebensmittelkrise von 2008 beträchtliche Konsequenzen für die ärmeren Schichten der jemenitischen Bevölkerung hatte, während die weltweite Finanzkrise und insbesondere die sinkenden Erdöleinkünfte zu einem unerträglichen Druck auf die Staatsfinanzen beigetragen haben, was durch die begrenzte Umsetzung überfälliger wirtschaftlicher und steuerlicher Reformen noch verschärft wurde,
H. in der Erwägung, dass Jemen über 75% seiner Einnahmen aus dem Ölgeschäft erzielt, die Ölreserven des Landes jedoch fast erschöpft sind und für das Land kaum realistische Optionen für eine nachhaltige Wirtschaft nach dem Versiegen der Ölquellen bestehen,
I. in der Erwägung, dass zu den weiteren schwerwiegenden Problemen, denen sich Jemen gegenübersieht, die bedrohliche Wasserknappheit gehört, die durch verschiedene Faktoren verursacht wird, unter anderem durch steigenden Wasserverbrauch der Haushalte, schlechtes Wassermanagement, Korruption, fehlende Ressourcenverwaltung und verschwenderische Bewässerungstechniken, sowie in der Erwägung, dass nach Schätzungen der Regierung 99% der Wasserentnahmen illegal sind,
J. in der Erwägung, dass der Mangel Jemens an Lebensmitteln und Wasser weiter kompliziert wird durch die Abhängigkeit der Bevölkerung von Kath, einer rasche Einkünfte erbringenden Pflanze, die einer umfangreichen Bewässerung bedarf und so extensiv angebaut wird, dass ca. 40% der jemenitischen Wasserressourcen für ihren Anbau verwendet werden, während das Land inzwischen ein Nettoimporteur von Lebensmitteln ist,
K. in der Erwägung, dass die Zunahme seeräuberischer Aktivitäten im Golf von Aden sowie der anhaltende Migrationsdruck, der vom Horn von Afrika ausgeht, weitere Faktoren sind, die die Stabilität des Landes beeinflussen,
L. in der Erwägung, dass die 18 Meilen breite Meerenge von Bab el Mandeb zwischen Jemen und Dschibuti große strategische Bedeutung hat, da durch sie pro Tag 3,3 Mio. Fässer Öl (4% der täglich weltweit geförderten Menge) verschifft werden,
M. in der Erwägung, dass die Europäische Union Jemen seit 2004 Hilfsmittel in Höhe von mehr als 144 Mio. Euro gewährt hat, von denen der größte Teil der Entwicklung zugute kam, und bilaterale Hilfsprogramme durchgeführt wurden, um Jemens Polizei und Küstenwache zu unterstützen,
N. in der Erwägung, dass die britische und die US-amerikanische Regierung nach dem fehlgeschlagenen Bombenanschlag von Detroit ihre militärische Hilfe und die Entwicklungshilfe für Jemen erheblich ausweiten und auch gemeinsam eine spezifische jemenitische Anti-Terror-Polizeieinheit finanzieren und die jemenitische Küstenwache unterstützen wollen,
O. in der Erwägung, dass die Parlamentswahlen, die im April 2009 hätten stattfinden sollen, auf 2011 verschoben wurden, um es den Behörden zu ermöglichen, die wesentlichen Reformen des Wahlsystems umzusetzen, sowie in der Erwägung, dass bisher keine konkreten Schritte zur Verwirklichung dieses Ziels unternommen wurden,
P. in der Erwägung, dass hinsichtlich der Entwicklung in Jemen in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und Unabhängigkeit der Justiz nach wie vor schwerwiegende Bedenken bestehen, und in der Erwägung, dass Fälle einer Strafverfolgung von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern verzeichnet werden und dass die Lage der Frauen besonders schwierig ist, da sich die Zugangsmöglichkeiten zum Bildungswesen verschlechtern und eine aktive politische Beteiligung fehlt,
Q. in der Erwägung, dass sich sechs europäische Bürger – fünf Deutsche und ein Brite – seit ihrer Entführung im Juni 2009 in der Hand von Geiselnehmern befinden, während drei andere Mitglieder derselben Gruppe unmittelbar nach ihrer Entführung tot aufgefunden wurden,
1. bekundet seine tiefe Sorge darüber, dass sich die Sicherheitslage sowie die politische, wirtschaftliche und soziale Situation in Jemen seit langer Zeit verschlechtern; fordert umfangreiche Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft, um eine Eskalation der derzeitigen Krise zu vermeiden und auf ein geeintes, stabiles und demokratisches Jemen hinzuwirken;
2. begrüßt das Ergebnis der internationalen Jemen-Konferenz vom 27. Januar 2010 in London, darunter die Ankündigung des Generalsekretärs des Golf-Kooperationsrates, er werde am 22./23. Februar 2010 eine Konferenz der Golfstaaten und weiterer Partner Jemens in Riad ausrichten, sowie die Zusage der jemenitischen Regierung, ihre Reformagenda weiter zu verwirklichen und eine Diskussion über ein Programm des IWF zu initiieren; begrüßt auch die Zusage der internationalen Gemeinschaft, die jemenitische Regierung in ihrem Kampf gegen Al-Qaida und weitere Ausprägungen des Terrorismus zu unterstützen, während es gleichzeitig seine Unterstützung für ein geeintes Jemen und die Achtung der Souveränität und Unabhängigkeit des Landes bekräftigt;
3. ist der Überzeugung, dass Sicherheit und Stabilität in Jemen nur durch politische, wirtschaftliche und soziale Reformen erreicht werden können; fordert daher die jemenitische Regierung auf, ihren gegenüber der internationalen Gemeinschaft eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen und den Prozess politischer und wirtschaftlicher Reformen auf nationaler Ebene zu intensivieren, damit die Demokratie gefestigt wird und sich die Lebensbedingungen der Menschen verbessern;
4. begrüßt und unterstützt die aktive Zusammenarbeit zwischen der Kommission, dem Rat und der jemenitischen Regierung, insbesondere in Bezug auf Entwicklung, Menschenrechte, Polizei, Justiz, Grenzkontrollen, Bekämpfung von Menschenhandel, Sicherheit im Seeverkehr, Terrorismusbekämpfung und Aufbau von Institutionen; fordert den Rat und die Kommission auf, die bilateralen Beziehungen zu Jemen weiter zu stärken und zu prüfen, auf welche Weise die Europäische Union am wirksamsten zur Verbesserung der Sicherheitslage und der politischen Situation in Jemen beitragen kann;
5. bekräftigt seine Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in der Region Sa'da und einer Einstellung der Gewalttaten im südlichen Jemen und vertritt die Ansicht, dass nur eine umfassende politische Lösung zu einem dauerhaften Frieden führen kann; ist tief besorgt angesichts der Verschlechterung der humanitären Lage im nördlichen Jemen; fordert alle Parteien auf, ihren Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten nach dem humanitären Völkerrecht nachzukommen und die Zivilbevölkerung in dem Gebiet zu schützen sowie Zugang zu den betroffenen Regionen zu gewähren, damit humanitäre Hilfe und Unterstützung geleistet werden kann;
6. fordert die jemenitische Regierung auf, die Diskriminierung von Volksgruppen oder religiösen Gruppen im Land zu unterlassen und bei ihren Maßnahmen das gemeinsame Interesse aller Bürger des Landes zu berücksichtigen; betont, dass Aktionen und Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus nicht für politische Zwecke missbraucht werden dürfen, insbesondere nicht, um gegen politische Gegner, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten vorzugehen;
7. bekundet seine Sorge über die seit langem verzeichnete und zunehmende Präsenz von Al-Qaida in Jemen und betont, dass ein Ausbleiben konkreter Maßnahmen zu einer weiteren Untergrabung der Autorität der Zentralregierung und zu einer Destabilisierung von Jemen und seinen Nachbarländern in einem in Somalia verzeichneten Ausmaß führen könnte, was wiederum Gelegenheiten für von Al-Qaida gelenkte oder inspirierte Extremisten böte, sich zu sammeln, zu organisieren, Ausbildungsmaßnahmen durchzuführen und auf jemenitischem Hoheitsgebiet oder außerhalb desselben Terroranschläge zu verüben;
8. fordert die jemenitische Regierung auf, die notwendigen Reformen durchzuführen, um die Menschenrechtssituation im Land zu verbessern und insbesondere die Freiheit der Medien, das Recht auf ein faires Verfahren und die Gleichbehandlung von Frauen und Männern sicherzustellen;
9. unterstreicht die Bedeutung einer unabhängigen Justiz mit den Mitteln und der Kompetenz, die Frage der Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Festnahmen und Folter, anzugehen; fordert die jemenitische Regierung eindringlich auf sicherzustellen, dass unparteiische humanitäre Agenturen Zugang zu allen Haftanstalten in Jemen haben, und die Nutzung privater oder nicht genehmigter Haftzentren einzustellen;
10. fordert alle politischen Kräfte in Jemen auf, den derzeitigen Stillstand bei den Verhandlungen über wesentliche politische Reformen zu überwinden; hebt hervor, wie wichtig es ist, 2011 Wahlen abzuhalten, und ermutigt alle politischen Parteien, ihre Vereinbarungen umzusetzen, die die erforderlichen Maßnahmen beinhalten, um das Wahlsystem zu verbessern und die Demokratie zu festigen, wobei insbesondere die Empfehlungen der Wahlbeobachtungsmission der Europäischen Union im Anschluss an die demokratischen Präsidentschafts- und Kommunalwahlen von 2006 berücksichtigt werden sollten; fordert die Kommission und den Rat auf, in enger Zusammenarbeit mit dem Parlament den Prozess der Verfassungs- und Wahlrechtsreform zu überwachen, der zur Verschiebung der Parlamentswahlen geführt hat;
11. fordert den Rat und die Kommission sowie nach dessen Einrichtung den Europäischen Auswärtigen Dienst auf, rasch ein koordiniertes und umfassendes Konzept der Europäischen Union für Jemen zu verwirklichen, um Überschneidungen zwischen einer Unterstützung der Mitgliedstaaten und Entwicklungshilfeprogrammen zu vermeiden; weist darauf hin, dass die Koordinierung seitens der Europäischen Union für eine globale Geberkoordinierung in Jemen, deren Fehlen sich auf gravierende Weise bemerkbar macht, wesentlich ist;
12. fordert den Rat und die Kommission auf, Jemen in Zusammenarbeit mit anderen internationalen Akteuren umfangreichere Entwicklungshilfe zukommen zu lassen, um die politische Lage zu stabilisieren und die Wirtschaftslage und die Lebensbedingungen der Bevölkerung im Lande zu verbessern; fordert insbesondere, hierbei auch Sonderhilfsmaßnahmen im Rahmen des Stabilitätsinstruments und ein spezifisches Programm zur Verbesserung der Bildung mit Mitteln aus dem Instrument für die Entwicklungszusammenarbeit (DCI) in Betracht zu ziehen; begrüßt die Bereitschaft des Golf-Kooperationsrates, seine Beziehungen zu Jemen weiterzuentwickeln; fordert die jemenitische Regierung auf, in enger Zusammenarbeit mit den Gebern eine verstärkte Wirksamkeit der Hilfe durch geeignete Verfahren zur Koordinierung, Verteilung und Umsetzung sicherzustellen;
13. fordert die Kommission und den Rat auf, dafür zu sorgen, dass die von der internationalen Gemeinschaft und insbesondere aus dem Haushalt der Europäischen Union geleistete Hilfe dazu verwendet wird, Projekte zu finanzieren, die so vielen Menschen wie möglich direkt zugute kommen und deren Wirksamkeit vor Ort bewertet werden kann; begrüßt diesbezüglich die Einsetzung einer vollwertigen EU-Delegation in Sanaa;
14. fordert die Kommission und den Rat auf, ein andere internationale Hilfsmaßnahmen verstärkendes oder ergänzendes spezifisches Hilfsprogramm für Jemen durchzuführen, das nach dem Vorbild von EUJUST LEX Ausbildungsmaßnahmen für jemenitische Beamte und die Entsendung von Ausbildern in die zentrale und lokale Verwaltung in Jemen einschließt;
15. fordert den Rat und die Kommission auf, die Vereinigten Staaten und Jemen bei der Rückführung oder Wiederansiedlung der ohne Anklage in Guantánamo festgehaltenen Jemeniten zu unterstützen, einschließlich der 40 Jemeniten, deren Freilassung die US-Regierung bereits angeordnet hat;
16. fordert die jemenitische Regierung auf, ihre Anstrengungen zu verstärken, um die Freilassung der sechs europäischen Geiseln sicherzustellen, die auf ihrem Hoheitsgebiet festgehalten werden;
17. fordert den Rat und die Kommission auf, das Europäische Parlament gemäß Artikel 218 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in allen Phasen des Verfahrens unverzüglich und umfassend über alle Entwicklungen und Verhandlungen zu unterrichten;
18. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Generalsekretär des Golf-Kooperationsrates und der Regierung und dem Parlament der Republik Jemen zu übermitteln.