Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. November 2010 zu Tibet – Pläne, Chinesisch zur wichtigsten Unterrichtssprache zu machen
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu China und Tibet, insbesondere die Entschließung vom 10. April 2008 zu Tibet(1),
– gestützt auf Artikel 122 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die Achtung der Menschenrechte und der freien Berufung der Menschen auf ihre Identität, Kultur und Religion ein Grundprinzip der Europäischen Union ist und in ihrem außenpolitischen Handeln Priorität genießt,
B. in der Erwägung, dass die Volksrepublik China den Wunsch nach einem harmonischen Zusammenleben aller 56 ethnischen Minderheiten geäußert hat,
C. in der Erwägung, dass am 19. Oktober 2010 ungefähr 1000 tibetische Schüler in einem Marsch durch Tongren (Rebgong) friedvoll gegen den Plan protestiert haben, Hochchinesisch zur wichtigsten Unterrichtssprache an den Schulen dieser Region zu machen, und dass die Proteste am 23. Oktober 2010 auf die Provinz Qinghai und auf Peking übergegriffen haben, wo tibetische Studenten der Minzu-Universität eine Demonstration organisiert haben,
D. in der Erwägung, dass die tibetische Sprache als eine der vier ältesten und ursprünglichsten Sprachen Asiens ein wesentlicher Katalysator der tibetischen Identität, Kultur und Religion ist, jedoch auch zusammen mit der tibetischen Kultur insgesamt ein unersetzlicher Teil des Welterbes ist, und dass die tibetische Sprache, die Ausdruck einer geschichtsträchtigen Zivilisation ist, ein wesentlicher und unersetzlicher Bestandteil der tibetischen Identität, Kultur und Religion ist,
E. in der Erwägung, dass Sprachen Ausdruck der sozialen und kulturellen Verhaltensweisen einer Gemeinschaft sind, und dass die gemeinsame Sprache einer Gemeinschaft eine wesentliche Komponente der Kultur ist, sowie in der Erwägung, dass Sprachen auf ganz besondere Weise soziale und kulturelle Verhaltens- und Denkweisen vermitteln,
F. in der Erwägung, dass allgemein anerkannt ist, dass ein Unterricht in zwei Muttersprachen der beste Weg zu einer erfolgreichen Zweisprachigkeit der Tibeter ist, und dass der zweisprachige Unterricht nach Modell 1 dazu geführt hat, dass die College-Aufnahmequote von tibetischen Oberschulabsolventen in der gesamten Region Tibet beständig sehr hoch ist,
G. in der Erwägung, dass die tibetische Sprache an Grund-, Mittel- und Oberschulen im gesamten autonomen Gebiet Tibet allmählich durch das Chinesische verdrängt wird und dass amtliche Dokumente in der Regel nicht auf Tibetisch erhältlich sind,
H. in der Erwägung, dass der Gebrauch der tibetischen Sprache an Schulen durch Änderungen in der Bildungspolitik eingeschränkt würde, da mit Ausnahme des Sprachunterrichts in Tibetisch und Englisch alle Lehrbücher in Hochchinesisch abgefasst und alle Fächer in Hochchinesisch unterrichtet würden,
I. in der Erwägung, dass die Volksrepublik China zusammen mit weiteren 142 Ländern am 13. September 2007 für die Annahme der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker gestimmt haben, in deren Artikel 14 es heißt, dass „indigene Völker das Recht haben, ihre eigenen Bildungssysteme und –institutionen einzurichten und zu kontrollieren, in denen in ihrer eigenen Sprache und in einer ihren kulturspezifischen Lehr- und Lernmethoden entsprechenden Weise unterrichtet wird“,
J. in der Erwägung, dass angesichts der Dominanz der chinesischen Sprache die Sorge von Schulabsolventen in Tibet um ihre Berufsaussichten zunimmt, da gemäß der von Lehrern und Schülern unterzeichneten Petition die meisten tibetischen Schüler sich niemals in einem chinesischsprachigen Umfeld aufgehalten haben und sich daher nicht auf Chinesisch unterhalten können,
1. verurteilt das zunehmend härtere Durchgreifen gegen die Ausübung der kulturellen, sprachlichen und religiösen Freiheiten und anderer Grundfreiheiten der Tibeter, und betont, dass die unterschiedliche kulturelle, religiöse und nationale Identität der sechs Millionen Tibeter bewahrt und geschützt werden muss und dass den Sorgen hinsichtlich der Unterdrückung und Marginalisierung der tibetischen Sprache – der Grundlage der tibetischen Identität – Rechnung getragen werden muss;
2. nimmt die Besorgnis hinsichtlich der Versuche einer Abwertung der tibetischen Sprache zur Kenntnis und unterstreicht, dass für einen erfolgreichen zweisprachigen Unterricht in Tibetisch als Sprache der Einheimischen unterrichtet werden muss;
3. fordert die chinesische Regierung auf, Artikel 4 der Verfassung der Volksrepublik China und Artikel 10 des Gesetzes über die Regionale Nationale Autonomie umzusetzen, die die Freiheit aller Nationalitäten garantieren, ihre eigene Sprache in Wort und Schrift zu verwenden und weiterzuentwickeln;
4. legt der chinesischen Regierung nahe, eine wirkliche Politik der Zweisprachigkeit zu fördern, wonach alle Fächer, einschließlich Mathematik und Naturwissenschaften, in Tibetisch unterrichtet werden dürfen, der Chinesischunterricht verstärkt wird und die lokalen Behörden und die örtlichen Gemeinschaften befugt sind, darüber zu entscheiden, in welcher Sprache unterrichtet wird;
5. vertritt die Ansicht, dass jede ethnische Minderheit das Recht hat, ihre eigene Sprache und Schrift zu pflegen; vertritt die Auffassung, dass ein faires zweisprachiges Bildungssystem zu einer besseren Zusammenarbeit und einem besseren Verständnis beitragen wird, wenn die Tibeter Chinesisch lernen, während die in Tibet lebenden Angehörigen der Volksgruppe der Han gleichzeitig ermutigt werden, Tibetisch zu lernen;
6. betont, dass mit der Einführung von Chinesisch als Hauptunterrichtssprache die Qualität des Unterrichts für die große Mehrheit der tibetischen Mittelschüler erheblich leiden würde und dass die Unterrichtsfächer deshalb, da dies am besten angemessen ist, nur in ihrer tibetischen Muttersprache unterrichtet werden sollten;
7. fordert die chinesische Regierung auf, alles zu tun, um die sprachliche und kulturelle Benachteiligung der in den Städten arbeitenden Tibeter zu verringern, jedoch auf eine Art und Weise, durch die die tibetische Sprache und Kultur nicht gefährdet werden;
8. fordert die Europäische Kommission, die Hohe Vertreterin/Vizepräsidentin und die Mitgliedstaaten auf, bei der chinesischen Regierung darauf zu drängen, dass erstens sichergestellt wird, dass das Recht auf eine friedvolle freie Meinungsäußerung von Schülern geachtet wird und die zuständigen Behörden sich eingehend und angemessen mit deren Beschwerden befassen, und dass zweitens die Regelung über das Studium, die Verwendung und die Weiterentwicklung der tibetischen Sprache in Einklang mit dem Gesetz über regionale ethnische Autonomie korrekt umgesetzt wird;
9. fordert die Kommission auf, über die Verwendung der zur Unterstützung der tibetischen Zivilgesellschaft in China und der Exiltibeter im Rahmen des Haushalts 2009 beantragten Mittel (1 Million EUR) Bericht zu erstatten, und betont, dass die tibetische Kultur, insbesondere der im Exil lebenden Tibeter, bewahrt werden muss;
10. fordert China erneut auf, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu ratifizieren, und bedauert die häufige Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten in China;
11. fordert die chinesische Regierung auf, ausländischen Medien Zugang zu Tibet zu gewähren, auch zu den tibetischen Gebieten außerhalb des Autonomen Gebiets Tibet, und das System der dafür erforderlichen Sonderausweise abzuschaffen;
12. fordert die diplomatischen Vertretungen der EU in Peking auf, der Region einen Besuch abzustatten und dem Rat und der Hohen Vertreterin/Vizepräsidentin über die derzeitige Situation hinsichtlich der Unterrichts- und Sprachenfrage Bericht zu erstatten;
13. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament der Volksrepublik China und seiner Heiligkeit dem Dalai Lama zu übermitteln.