Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Juni 2011 zum Thema „Sudan und Südsudan – die Lage nach dem Referendum von 2011“
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zum Sudan,
– unter Hinweis auf das am 9. Januar 2005 unterzeichnete Umfassende Friedensabkommen (CPA),
– unter Hinweis auf die Resolution 1978 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen,
– unter Hinweis auf die Erklärung der Afrikanischen Union vom 31. Januar 2011,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates zu Sudan vom 31. Januar 2011 und den Beschluss 2011/315/EU des Rates(1) vom 23. Mai 2011,
– unter Hinweis auf die Erklärung des Präsidenten des VN-Sicherheitsrates vom 3. Juni 2011,
– unter Hinweis auf die Erklärung der Vizepräsidentin der Kommission / Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, vom 7. Februar 2011 im Namen der Europäischen Union zum endgültigen Ergebnis des Referendums über die Selbstbestimmung des Südsudan sowie auf die Erklärung von Baroness Ashton vom 24. Mai 2011 zur Lage im Sudan,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der von den Vereinten Nationen unterstützten Beratungen über den Friedensprozess in Darfur vom 27.-31. Mai 2011 in Doha, Katar,
– unter Hinweis auf die am 2. Juni 2011 vorgelegte Schlusserklärung der Mission der Europäischen Union zur Beobachtung des Referendums,
– gestützt auf Artikel 110 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass beim Referendum vom 9.-15. Januar 2011 über den Südsudan eine überwältigende Mehrheit dafür gestimmt hat, einen unabhängigen Staat Südsudan zu errichten,
B. in der Erwägung, dass der Südsudan voraussichtlich am 9. Juli 2011 förmlich seine Unabhängigkeit erklären wird und das CPA mit diesem Datum ausläuft,
C. in der Erwägung, dass der Südsudan zwar reich an natürlichen Ressourcen wie Erdöl, Kupfer und Eisen sowie Wäldern und fruchtbarem Land ist, die überwältigende Mehrheit seiner Bevölkerung jedoch in Armut lebt, mit einer der höchsten Kindersterblichkeitsraten und einem der niedrigsten Bildungsindikatoren weltweit, und in der Erwägung, dass all dies humanitäre, sozioökonomische und sicherheitspolitische Herausforderungen begründet,
D. in der Erwägung, dass einige Aspekte des CPA nicht rechtzeitig oder noch gar nicht umgesetzt wurden und erhebliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um in Verhandlungen nach dem Referendum eine Einigung über Fragen wie die Aufteilung der Erdöleinnahmen, den Verlauf der Grenzen, die Staatsangehörigkeit und die Aufteilung von Schulden und Vermögen zu erzielen,
E. in der Erwägung, dass das Referendum zur Feststellung, ob Abyei zum Nordsudan oder zum Südsudan gehören soll, nicht wie geplant gleichzeitig mit dem Referendum zum Südsudan stattgefunden hat, was zu einer schweren Eskalation von Gewalt in der Region geführt hat,
F. in der Erwägung, dass der Status der umstrittenen Gebiete nach wie vor nicht geregelt ist und sich die Lage im Abyei-Gebiet zugespitzt hat, in dem Hunderte ermordet und Tausende vertrieben wurden und zahllose Menschen Ernährungsunsicherheit und Krankheiten ausgesetzt sind und keinen Zugang zu grundlegenden Diensten wie medizinischer Versorgung und sicherem Trinkwasser haben,
G. in der Erwägung, dass die Situation in Darfur weiterhin äußert besorgniserregend ist und die VN-Mission in Darfur kürzlich über Bombardierungen durch Regierungstruppen berichtet hat und mehrere Angehörige von Hilfsorganisationen in der Region als Geiseln genommen wurden, sowie in der Erwägung, dass die Mitarbeiter der Mission stets Einschüchterungen, der Gefahr von Entführungen und allgemeinen Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind,
1. begrüßt die Tatsache, dass sowohl der Sudan als auch der Südsudan das Referendum 2011 über den Südsudan unter friedlichen und glaubwürdigen Bedingungen durchgeführt haben und alle Vertragsparteien des CPA erhebliche Anstrengungen unternommen und ihr diesbezügliches Engagement unter Beweis gestellt haben; sieht dies als wesentlichen Schritt bei der Umsetzung des CPA und als positives Signal für ein friedliches Miteinander der beiden Staaten;
2. bekräftigt seine uneingeschränkte Achtung der Ergebnisse des Referendums als Ausdruck des demokratischen Willens der Bevölkerung des Südsudan; fordert sowohl den Nord- als auch den Südsudan auf, sich aktiv zu bemühen, eine demokratische Staatsführung zu fördern und dauerhaften Frieden, Sicherheit und Wohlstand für beide Länder zu verwirklichen, in denen die Menschenrechte sowie die sozialen und wirtschaftlichen Rechte geachtet werden;
3. fordert die staatlichen Stellen des Südsudan auf, dessen Entwicklung als moderner, pluralistischer und demokratischer Staat zu fördern, der auf Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, und insbesondere der Rechte von Frauen und Kindern, beruht, seinen Bürgern das Recht gewährt, ihre Regierung in regelmäßig stattfindenden, freien Wahlen zu wählen, und das verfassungsmäßige und gesetzlich verankerte Recht auf Bewegungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit schützt;
4. verurteilt nachdrücklich den mutwilligen Angriff auf die VN-Mission im Sudan (UNMIS) im Abyei-Gebiet vom 10. Mai 2011 und verurteilt die Militarisierung dieses Gebiets sowohl durch den Nord- als auch den Südsudan; fordert beide Vertragsparteien des CPA auf, weiterhin die Sicherheit aller Menschen im Sudan, insbesondere im Abyei-Gebiet, zu gewährleisten, ohne die demografische Zusammensetzung in diesem Gebiet zu ändern; fordert, dass sich sowohl die sudanesischen als auch die südsudanesischen Streitkräfte aus Abyei zurückziehen und dass beide Seiten Zurückhaltung üben und umgehend einen konstruktiven Dialog für eine friedliche Lösung in Bezug auf die Stellung von Abyei im Rahmen des CPA aufnehmen;
5. betont, dass es die Bemühungen der hochrangigen Umsetzungsgruppe der Afrikanischen Union zum Sudan unter der Führung von Thabo Mbeki um die Förderung von Verhandlungen zwischen den Vertragsparteien des CPA sowie die Bemühungen seitens des Sonderbeauftragten des VN-Generalsekretärs für den Sudan, Haile Menkerios, um Vermittlung zwischen den beiden Konfliktparteien im Abyei-Gebiet unterstützt; bekräftigt, dass die EU bereit sein muss, jedwede weitere erforderliche Unterstützung zu gewähren;
6. fordert alle Vertragsparteien des CPA auf, einen fortdauernden und konstruktiven Dialog zur Lösung der Fragen aufzunehmen, die nach dem Referendum noch ungeklärt sind, einschließlich der gemeinsamen Grenzen, der Staatsbürgerschaftsbestimmungen für die Bürger sowohl im Norden als auch im Süden, der Aufteilung der Öleinnahmen und der Nutzung von Ölleitungen sowie der Durchführung von Volksbefragungen in den Provinzen Blue Nile und Southern Kordofan;
7. betont, dass die effektive und sichere Abwicklung der Rückkehr von Flüchtlingen in den Süden gewährleistet werden muss, was die Aspekte Transit, technische Kapazitäten (Mangel an Stadtplanern und Bauinspektoren), Infrastruktur, Zuteilung von Land und Zugang zu grundlegenden Diensten angeht;
8. begrüßt die Erklärung des Rates vom 17. Mai 2011, dem Südsudan – zusätzlich zu den im vergangenen Jahr gewährten 150 Millionen Euro – 200 Millionen Euro als Hilfe für die schwächsten Bevölkerungsgruppen im Sudan bereitzustellen; weist darauf hin, dass die EU-Entwicklungshilfe zur Unterstützung beider Seiten bereitgestellt wird; betont, dass diese neuen Mittel zur Unterstützung grundlegender Dienste, insbesondere in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft, Nahrungsmittelsicherheit und Aufbau institutioneller Kapazitäten, eingesetzt werden sollten; fordert, dass der Südsudan umgehend dem Abkommen von Cotonou beitritt, und dass die EU alle erforderlichen Schritte unternimmt, um sicherzustellen, dass eine finanzielle Unterstützung im Rahmen des Europäischen Entwicklungsfonds so bald wie möglich zur Verfügung steht;
9. betont, dass die EU bei der Geberkonferenz für den Südsudan Ende 2011 eine führende Rolle spielen und bei anderen Gebern aktiv darauf drängen muss, dasselbe zu tun; fordert von den internationalen Gläubigern einen Schuldenerlass für den Sudan und den Südsudan;
10. fordert die Regierung des Südsudan auf, im Interesse der Bevölkerung durch seine Politik im Bereich der Auslandsinvestitionen sicherzustellen, dass diese Investitionen in natürliche Ressourcen der Entwicklung der heimischen Wirtschaft und somit der Bekämpfung der Armut dienen; betont, dass die EU alles in ihrer Macht Stehende unternehmen muss, um sicherzustellen, dass alle in der Region tätigen multinationalen Einrichtungen und ausländischen Unternehmen angemessenen Regelungen unterliegen und ihre Tätigkeiten und Einnahmen in transparenter Weise darlegen;
11. begrüßt den Beschluss des VN-Sicherheitsrates, das Mandat der VN-Mission im Sudan (UNMIS) zu verlängern und zusätzliche Friedenstruppen in den Sudan zu entsenden; ist der Ansicht, dass eine fortgesetzte VN-Präsenz für die friedliche Entwicklung zweier lebensfähiger Staaten äußerst wertvoll ist; fordert den Sudan und den Südsudan auf, die Präsenz der VN gutzuheißen und die Sicherheit der Mission zu gewährleisten;
12. betont, dass die EU dem Sudan und dem Südsudan auch nach dem 9. Juli 2011 humanitäre Hilfe leisten muss; ermuntert dazu, in der Region humanitäre Maßnahmen umzusetzen und entsprechende Kapazitäten aufzubauen, damit die Sicherheit von humanitären Hilfsorganisationen durch angemessene Mittel gewährleistet werden kann;
13. begrüßt die Schlussfolgerungen der von den Vereinten Nationen unterstützten Beratungen über den Friedensprozess in Darfur; fordert alle Parteien auf, sich an die bereits unterzeichneten Vereinbarungen über den Waffenstillstand und die Einstellung der Feindseligkeiten zu halten; weist darauf hin, dass die Verhandlungen über Darfur und Abyei und der allgemeine Nord-Süd-Dialog völlig transparent abgewickelt werden müssen; fordert, dass dabei alle Konfliktparteien sowie die Zivilgesellschaft und die politische Führung auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene vertreten sind;
14. fordert die Regierung des Südsudan auf, bei der Überprüfung der Verfassung einen transparenten, verantwortungsvollen und integrativen Ansatz für die Regierungsführung zu wählen; betont, dass alle politischen Parteien zusammenarbeiten müssen, um alle Menschen im Land umfassend zu vertreten und zum Aufbau stabiler und demokratischer politischer Institutionen beizutragen;
15. fordert beide Parteien auf, im Vorfeld des bevorstehenden Unabhängigkeitstags am 9. Juli 2011 konkrete Pläne für den Aufbau und/oder die Reform ihrer Institutionen vorzulegen, damit die beiden Staaten von diesem Tag an lebensfähig sind; fordert die EU-Delegationen im Sudan und im Südsudan auf, die Empfehlungen der jüngsten EU-Missionen zur Beobachtung der Wahlen und des Referendums proaktiv zu verbreiten und umzusetzen;
16. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dem VN-Sicherheitsrat und dem VN-Generalsekretär sowie der EU-Sonderbeauftragten für den Südsudan, der Regierung des Sudan, der Regierung des Südsudan, den Institutionen der Afrikanischen Union und dem Vorsitzenden der hochrangigen Umsetzungsgruppe der Afrikanischen Union zum Sudan, der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung AKP-EU und den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten zu übermitteln.