Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September 2011 zu der Umsetzung der Richtlinie über Mediation in den Mitgliedstaaten, ihren Einfluss auf die Mediation und ihre Inanspruchnahme durch die Gerichte (2011/2026(INI))
Das Europäische Parlament,
– gestützt auf Artikel 67 und Artikel 81 Absatz 2 Buchstabe g des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union,
– unter Hinweis auf seinen Standpunkt vom 23. April 2008 zu dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf die Annahme einer Richtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen(1),
– unter Hinweis auf die vom Rechtsausschuss am 20. April 2006, 4. Oktober 2007 und 23. Mai 2011 durchgeführten Anhörungen,
– unter Hinweis auf die Richtlinie 2008/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen(2),
– gestützt auf Artikel 48 und Artikel 119 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Rechtsausschusses (A7-0275/2011),
A. in der Erwägung, dass die Sicherstellung eines besseren Zugangs zum Recht eines der Hauptziele der Politik der Europäischen Union zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist; in der Erwägung, dass der Begriff des Zugangs zum Recht in diesem Zusammenhang den Zugang zu geeigneten Streitbeilegungsverfahren für Einzelpersonen und Unternehmen umfassen sollte;
B. in der Erwägung, dass das Ziel der Richtlinie 2008/52/EG die Förderung einer gütlichen Regelung von Streitigkeiten durch die verstärkte Anwendung der Mediation und durch die Sicherstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Mediation und Gerichtsverfahren ist;
C. in der Erwägung, dass die Richtlinie gemeinsame Grundsätze einführt, die insbesondere Aspekte des Zivilverfahrens beinhalten, um den Zugang zur Mediation als praktikable Alternative zu dem herkömmlichen kontradiktorischen Ansatz zu erleichtern und sicherzustellen, dass die Parteien, die in der Europäischen Union auf die Mediation zurückgreifen, sich auf einen berechenbaren Rechtsrahmen stützen können;
D. in der Erwägung, dass das Ziel der Richtlinie neben der Berechenbarkeit darin besteht, einen Rahmen zu schaffen, der den wichtigsten Vorteil der Mediation, nämlich Flexibilität, aufrechterhält; in der Erwägung, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung der nationalen Gesetze zur Umsetzung der Richtlinie von diesen beiden Kriterien leiten lassen sollten;
E. in der Erwägung, dass die Richtlinie 2008/52/EG auch in Nachbarstaaten auf Interesse gestoßen ist und einen nachweisbaren Einfluss auf die Einführung vergleichbarer Rechtsvorschriften in einigen dieser Länder hatte;
F. in der Erwägung, dass die Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Artikel 10, dessen Einhaltungstermin der 21. November 2010 war, die Anforderungen dieser Richtlinie vor dem 21. Mai 2011 erfüllen müssen, in der Erwägung, dass bisher die meisten Mitgliedstaaten gemeldet haben, dass sie den Umsetzungsprozess abgeschlossen haben oder vor Ablauf der Frist abschließen werden und dass nur wenige Mitgliedstaaten die Erfüllung der Vorschriften der Richtlinie noch nicht gemeldet haben: die Tschechische Republik, Österreich, Finnland und Schweden;
G. in der Erwägung, dass das Europäische Parlament es als wichtig erachtet zu prüfen, wie diese Rechtsvorschrift von den Mitgliedstaaten umgesetzt worden ist, zu sehen, was Fachleute und Benutzer der Mediation über sie denken, und zu ermitteln, ob und wie sie verbessert werden könnte;
H. in der Erwägung, dass zu diesem Zweck eine gründliche Analyse der wichtigsten Regulierungskonzepte der Mitgliedstaaten vorgenommen werden sollte, um bewährte Verfahren herauszustellen und Schlussfolgerungen im Hinblick auf eventuelle weitere Maßnahmen auf europäischer Ebene zu ziehen;
I. in der Erwägung, dass im Aktionsplan der Kommission zur Umsetzung des Stockholmer Programms (KOM(2010)0171) eine Mitteilung über die Umsetzung der Mediationsrichtlinie im Jahre 2013 vorgesehen ist;
J. in der Erwägung, dass geprüft werden sollte, wie die Mitgliedstaaten die wichtigsten Bestimmungen der Mediationsrichtlinie über die Möglichkeit, dass Gerichte den Parteien unmittelbar eine Mediation nahelegen (Artikel 5), die Vertraulichkeitsgarantie (Artikel 7), die Vollstreckbarkeit einer im Mediationsverfahren erzielten Vereinbarung (Artikel 6) und die Auswirkung der Mediation auf Verjährungsfristen (Artikel 8) umgesetzt haben;
K. in der Erwägung, dass die Kommission in ihr Arbeitsprogramm für 2011 einen Legislativvorschlag für ein alternatives Streitbeilegungsverfahren aufgenommen hat;
1. stellt fest, dass die in der Richtlinie aufgestellte Anforderung der Vertraulichkeit im inländischen Recht bestimmter Mitgliedstaaten bereits bestand: In Bulgarien heißt es in der Zivilprozessordnung, dass sich Mediatoren weigern können, als Zeugen über einen Streit auszusagen, in dem sie vermittelt haben; in Frankreich und Polen enthalten die Gesetze über Mediation in Zivilsachen ähnliche Vorschriften; stellt fest, dass unter den Mitgliedstaaten Italien in Bezug auf Vertraulichkeit von Mediationsverfahren einen rigorosen Ansatz verfolgt, während es in den schwedischen Mediationsregeln heißt, dass Vertraulichkeit nicht automatisch besteht und es hierfür einer entsprechenden Vereinbarung zwischen den Parteien bedarf; geht davon aus, dass offenbar ein kohärenterer Ansatz erforderlich ist;
2. stellt fest, dass gemäß Artikel 6 der Richtlinie die meisten Mitgliedstaaten über ein Verfahren verfügen, um der im Wege der Mediation erzielten Vereinbarung über den Streitfall die gleiche Autorität zuzuerkennen wie einer gerichtlichen Entscheidung; stellt fest, dass dies entweder durch Übermittlung dieser Vereinbarung ans Gericht oder über deren notarielle Beurkundung erreicht wird und dass anscheinend einige innerstaatliche Gesetzgeber die erstgenannte Variante bevorzugt haben, wohingegen in zahlreichen Mitgliedstaaten die notarielle Beurkundung in der jeweiligen Rechtsordnung parallel zur Verfügung steht: Denn während beispielsweise in Griechenland und Slowenien gemäß dem Gesetz die Niederschrift einer Mediationsvereinbarung von den Gerichten vollstreckt werden kann, können in den Niederlanden und in Deutschland Vereinbarungen als notarielle Urkunden vollstreckbar gemacht werden, in anderen Mitgliedstaaten wie beispielsweise Österreich können Vereinbarungen als notarielle Urkunden nach der bestehenden Rechtslage vollstreckbar gemacht werden, ohne dass der nationale Rechtsakt zur Umsetzung auf diese Möglichkeit ausdrücklich hinweist; fordert die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, dass alle Mitgliedstaaten, die dies bisher noch nicht tun, unverzüglich Artikel 6 der Richtlinie einhalten;
3. vertritt die Auffassung, dass Artikel 8, der die Auswirkung der Mediation auf Verjährungsfristen regelt, eine wesentliche Vorschrift ist, da er dafür sorgt, dass die Parteien, die sich für eine Mediation entscheiden, um einen Streit beizulegen, danach nicht als Folge der in der Mediation verbrachten Zeit daran gehindert werden, einen Gerichtstermin zu erhalten; stellt fest, dass diesbezüglich offenbar von den Mitgliedstaaten keine speziellen Fragen aufgeworfen wurden;
4. weist darauf hin, dass sich einige Mitgliedstaaten dafür entschieden haben, in zwei Bereichen, nämlich finanziellen Anreizen für die Teilnahme an der Mediation und dem verpflichtenden Rückgriff auf die Mediation, über die Kernanforderungen der Richtlinie hinauszugehen; betont, dass solche Initiativen der Staaten zur effektiveren Erledigung der Rechtsstreitigkeiten beitragen und Gerichte entlasten;
5. erkennt an, dass Artikel 5 Absatz 2 es den Mitgliedstaaten gestattet, die Inanspruchnahme der Mediation vor oder nach Einleitung eines Gerichtsverfahrens verpflichtend vorzuschreiben oder mit Anreizen oder Sanktionen zu verbinden, sofern diese Rechtsvorschriften die Parteien nicht daran hindern, ihr Recht auf Zugang zum Gerichtssystem wahrzunehmen;
6. beobachtet, dass manche europäischen Staaten eine Reihe von Initiativen ergriffen haben, um Parteien, die eine Mediation in Anspruch nehmen, finanzielle Anreize zu bieten: So erhalten in Bulgarien die Parteien eine Erstattung von 50 % der staatlichen Gebühr, die sie bei Einreichung des Streitfalls beim Gericht bereits entrichtet haben, wenn sie einen Streit erfolgreich im Wege der Mediation beilegen, und das rumänische Recht sieht eine vollständige Erstattung der Gerichtsgebühr vor, wenn die Parteien einen anhängigen Rechtsstreit im Wege der Mediation beilegen; stellt fest, dass sich im ungarischen Recht eine ähnliche Vorschrift findet und dass in Italien alle Mediationsakte und -vereinbarungen von Stempelsteuer und Gebühren befreit sind;
7. stellt fest, dass neben den finanziellen Anreizen bestimmte Mitgliedstaaten, deren Gerichtswesen überlastet ist, zu ihrer Entlastung die Mediation verpflichtend vorgeschrieben haben; stellt fest, dass in solchen Fällen Streitigkeiten nicht bei Gericht eingereicht werden können, ehe die Parteien versucht haben, die Probleme im Wege der Mediation zu lösen;
8. weist darauf hin, dass das herausragendste Beispiel das italienische Gesetzesdekret Nr. 28 ist, mit dem auf diese Weise angestrebt wird, das Rechtssystem umzubauen und die notorisch überlasteten italienischen Gerichte zu entlasten, indem die Anzahl der Fälle verringert und der durchschnittliche Zeitbedarf für die Beilegung zivilrechtlicher Streitigkeiten von derzeit neun Jahren verkürzt wird; stellt fest, dass dies erwartungsgemäß überraschenderweise von den Juristen nicht begrüßt worden ist, die das Dekret gerichtlich angefochten und sogar gestreikt haben;
9. weist darauf hin, dass trotz der Kontroverse die Mitgliedstaaten, deren innerstaatliches Recht über die Kernanforderungen der Mediationsrichtlinie hinausgeht, mit der Förderung der außergerichtlichen Streitschlichtung in Zivil- und Handelssachen offenbar erhebliche Erfolge erzielt haben; stellt fest, dass die insbesondere in Italien, Bulgarien und Rumänien erzielten Ergebnisse belegen, dass die Mediation durch auf die Bedürfnisse der Parteien abgestimmte Verfahren eine kostenwirksame und rasche außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten erzielen kann;
10. stellt fest, dass die verpflichtende Mediation offenbar im italienischen Rechtssystem ihr Ziel erreicht, die Überlastung der Gerichte zu verringern; betont gleichwohl, dass die Mediation als machbare, kostengünstige und schnellere alternative Form der Rechtsprechung und nicht als verpflichtender Aspekt des Gerichtsverfahrens gefördert werden sollte;
11. erkennt die Erfolge an, die mit den vom bulgarischen Mediationsgesetz vorgesehenen finanziellen Anreizen erzielt wurden; erkennt jedoch, dass diese auch auf das schon lange bestehende Interesse des bulgarischen Rechtssystems an der Mediation zurückzuführen sind, das sich daran zeigt, dass die Mediationsgemeinschaft schon seit 1990 besteht und die Schlichtungsstelle – deren Personal aus in Schichten arbeitenden Mediatoren besteht – Parteien anhängiger Gerichtsverfahren seit 2010 täglich kostenlose Mediationsdienste und Auskünfte bereitstellt; stellt fest, dass in Bulgarien zwei Drittel der vorgelegten Fälle im Wege der Mediation behandelt und die Hälfte dieser Fälle durch Mediation erfolgreich beigelegt wurden;
12. stellt auch die Erfolge des rumänischen Mediationsgesetzes fest: Neben den Vorschriften über finanzielle Anreize wurde ein Mediationsrat – eine staatliche Behörde für die Wahrnehmung der Mediation, die als gesonderte, autonome Körperschaft besteht – eingerichtet; er widmet sich voll und ganz der Förderung der Mediationstätigkeit, der Ausarbeitung von Bildungsstandards, der Vorbereitung von Ausbildern, der Herausgabe von Dokumenten zum Nachweis der beruflichen Befähigungen der Mediatoren, der Annahme eines Ethikkodexes und der Formulierung von Vorschlägen für weitere Rechtsvorschriften;
13. ist davon überzeugt, dass in Anbetracht all dessen die Mitgliedstaaten insgesamt im Wesentlichen auf dem richtigen Weg sind, die Richtlinie 2008/52/EG bis zum 21. Mai 2011 umzusetzen, und dass die Mitgliedstaaten zwar vielfältige Regulierungskonzepte verfolgen und einige Staaten einen geringfügigen Rückstand aufweisen, dies aber nichts daran ändert, dass die meisten Mitgliedstaaten nicht nur die Anforderungen der Richtlinie erfüllen, sondern sogar über sie hinausgehen;
14. betont, dass Parteien, bei denen die Bereitschaft zur Streitbeilegung vorhanden ist, wahrscheinlich eher miteinander als gegeneinander arbeiten werden; ist der Ansicht, dass diese Parteien daher der Prüfung des Standpunkts der Gegenseite und der Auseinandersetzung mit den dem Streit zugrunde liegenden Problemen oftmals offener gegenüberstehen; vertritt die Auffassung, dass dies häufig den zusätzlichen Vorteil mit sich bringt, dass das zwischen den Parteien vor dem Streit bestehende Verhältnis aufrechterhalten bleibt, wobei ein Aspekt, der in Familienangelegenheiten, von denen Kinder betroffen sind, besonders wichtig ist;
15. fordert die Kommission auf, in ihrer anstehenden Mitteilung über die Umsetzung der Richtlinie 2008/52/EG auch die Bereiche zu untersuchen, in denen Mitgliedstaaten beschlossen haben, den Anwendungsbereich der in der Richtlinie festgelegten Maßnahmen auszuweiten;
16. unterstreicht die verbraucherfreundlichen Merkmale alternativer Streitbeilegungsregelungen, die eine maßgeschneiderte praxistaugliche Lösung bieten; fordert in diesem Zusammenhang die unverzügliche Vorlage eines Legislativvorschlags für ein alternatives Streitbeilegungsverfahren durch die Kommission;
17. stellt fest, dass im Zuge einer Mediation durch die Parteien gemeinsam erarbeitete Lösungen durch einen Richter oder eine Jury nicht herbeigeführt werden könnten; ist daher überzeugt, dass mithilfe der Mediation eher ein Ergebnis, dem beide Seiten zustimmen, also eine „Win-win-Lösung“ erreicht wird; stellt fest, dass die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz einer solchen Vereinbarung demzufolge größer ist und dass Absprachen, die im Wege der Mediation zustande gekommen sind, in der Regel eingehalten werden;
18. ist der Ansicht, dass der Bekanntheitsgrad der Mediation und die Kenntnisse über die Mediation verbessert werden müssen, und fordert weitere Maßnahmen in Sachen Bildung, Schärfung des Bewusstseins für die Mediation, Erhöhung der Akzeptanz der Mediation durch Unternehmen und Voraussetzungen für den Zugang zum Beruf des Mediators;
19. vertritt die Auffassung, dass den nationalen Behörden nahegelegt werden sollte, Programme zu entwickeln, mit denen ausreichende Kenntnisse über die alternative Streitbeilegung vermittelt werden; vertritt die Auffassung, dass darin die wichtigsten Vorteile der Mediation – die Kosten, die Erfolgsquote und die Zeiteffizienz – behandelt werden sollten und dass sich die Programme an Rechtsanwälte, Notare und Unternehmen, insbesondere KMU, sowie Akademiker richten sollten;
20. erkennt die Bedeutung der Festlegung einheitlicher Normen für den Zugang zum Beruf des Mediators als Voraussetzung für die Verbesserung der Qualität der Mediation und die Gewährleistung hoher Maßstäbe der beruflichen Bildung und Zulassung in der Union an;
21. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission und den Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.