Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 2011 zu Aserbaidschan und insbesondere zum Fall von Rafig Tagi
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Aserbaidschan, insbesondere die Entschließungen zu den Menschenrechten,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Zweiten Gipfeltreffens der Östlichen Partnerschaft, das am 29. und 30. September 2011 stattfand,
– unter Hinweis auf das 1999 in Kraft getretene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EG und Aserbaidschan,
– in Kenntnis der Erklärung des Sprechers der Hohen Vertreterin der EU, Catherine Ashton, vom 12. Oktober 2011,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der 12. Sitzung des Kooperationsrates EU-Aserbaidschan vom 25. November 2011 in Brüssel,
– gestützt auf Artikel 122 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass Rafig Tagi, ein prominenter Schriftsteller und Journalist aus Aserbaidschan, am 23. November 2011 an den Verletzungen verstarb, die er bei einem brutalen Angriff mit Messern vier Tage zuvor erlitten hatte;
B. in der Erwägung, dass die Regierung Aserbaidschans strafrechtliche Ermittlungen zu dem Angriff eingeleitet hat;
C. in der Erwägung, dass Berichten zufolge Rafig Tagi in den Wochen vor dem Angriff Todesdrohungen erhalten hatte, die wohl eine Vergeltungsmaßnahme für einen von mehreren Artikeln waren, die auf der Website von „Radio Azadlyq“ (Freiheit) am 10. November 2011 veröffentlicht wurden und in denen die derzeitige iranische Regierung kritisiert wurde;
D. in der Erwägung, dass Rafig Tagi nach seiner Verurteilung im Mai 2007 wegen Aufrufs zu religiösem Hass eine Haftstrafe aufgrund eines Artikels verbüßte, den er in der Tageszeitung „Sanat“ geschrieben hatte und in dem er die Ansicht vertrat, dass die islamischen Werte die Einbeziehung Aserbaidschans in europäische Strukturen verhindern und seinem demokratischen Fortschritt im Wege stehen würden;
E. in der Erwägung, dass ein führender iranischer Geistlicher, Groß-Ayatollah Fazel Lankarani, eine Fatwa verhängte und dazu aufrief, Rafig Tagi zu töten, nachdem Rafig Tagi den besagten Artikel veröffentlicht hatte; in der Erwägung, dass in der Fatwa auch dazu aufgerufen wurde, Samir Sadagatoglu, den Herausgeber der Tageszeitung „Sanat“, zu töten;
F. in der Erwägung, dass die iranischen Staatsorgane diese Fatwa niemals verurteilt haben, was wohl eine Anstiftung zum Mord ist, oder klargestellt haben, dass jeder, bei dem der Verdacht besteht, dass er Angriffe auf Rafig Tagi oder Samir Sadaqatoglu anstiftet, plant, ausführt oder unterstützt, vor Gericht gestellt wird;
G. in der Erwägung, dass der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der die Umsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) überwacht, bei dem Iran ein Vertragsstaat ist, vor kurzem Bedenken gegen Artikel 226 des iranischen Strafgesetzbuches geäußert hat, in dem es heißt, dass „die Begehung eines Mordes ... geahndet“ wird, „sofern die ermordete Person nicht nach islamischem Recht den Tod verdient hatte“; in der Erwägung, dass Fatwas dazu benutzt werden, die Tatsache zu rechtfertigen, dass eine Person „den Tod verdient“;
H. in der Erwägung, dass die Staatsorgane Aserbaidschans niemals die Fatwa und die öffentlichen Todesdrohungen verurteilt haben, die Rafig Tagi während seiner Verhandlung wegen „Schmähung der Religion“ im Jahr 2007 erhielt; in der Erwägung, dass selbst über seinen Tod nur am Rande im staatlich kontrollierten Fernsehen berichtet wurde und dass die Staatsorgane bislang seine Ermordung noch nicht öffentlich verurteilt haben;
I. in der Erwägung, dass die Bilanz der Untersuchungen von Angriffen auf Journalisten durch die Staatsorgane Aserbaidschans sehr negativ ist, was in beträchtlicher Weise zu dem Klima von Angst und Straflosigkeit beiträgt, das sich in der gesamten Medienlandschaft in den letzten Jahren ausgebreitet hat;
J. in der Erwägung, dass Aserbaidschan aktiv an der Europäischen Nachbarschaftspolitik und der Östlichen Partnerschaft mitwirkt, eines der Gründungsmitglieder von Euronest ist und zur Achtung der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, der Grundwerte dieser Initiativen, verpflichtet ist;
K. in der Erwägung, dass Aserbaidschan im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für die Zeit von 2012-2013 einen nichtständigen Sitz einnehmen wird und sich dazu verpflichtet hat, die in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen verankerten Werte zu achten;
L. in der Erwägung, dass Aserbaidschan ein Mitglied des Europarats und eine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie einer Reihe anderer internationaler Menschenrechtsübereinkommen wie des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte ist;
M. in der Erwägung, dass sich Aserbaidschan zur Achtung der Menschenrechte als Teil der europäischen Kernwerte im Rahmen seiner Mitgliedschaft im Europarat, der OSZE, des ENP-Aktionsplans und der Gemeinsamen Erklärung auf dem Prager Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft verpflichtet hat;
1. verurteilt scharf die Ermordung von Rafig Tagi und äußert seine Sorge über die Sicherheit von Samir Sadagatoglu; ist enttäuscht darüber, dass die Staatsorgane Aserbaidschans den Mord an Rafig Tagi nicht eindeutig verurteilt haben und nicht dafür gesorgt haben, dass die Öffentlichkeit über die Untersuchungen der Umstände, unter denen er zu Tode kam, im Bilde ist;
2. begrüßt den Schritt der Regierung Aserbaidschans, eine spezielle Arbeitsgruppe einzurichten, um die Ermordung von Rafig Tagi zu untersuchen; fordert die Staatsorgane Aserbaidschans auf sicherzustellen, dass die Ermittlungen gründlich und effektiv sind und dass die Täter verfolgt und in einem Verfahren vor Gericht gestellt werden, das den internationalen Standards eines fairen Verfahrens entspricht;
3. fordert die Staatsorgane Aserbaidschans auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Leben und die Sicherheit von Samir Sadagatoglu zu schützen;
4. weist auf die Tatsache hin, dass im IPBPR die Meinungsfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung, einschließlich Kritik an Religionen und Glaubensgemeinschaften, vorgesehen sind; unterstreicht, dass das Recht auf Redefreiheit, sowohl offline als auch online, von grundlegender Bedeutung für eine freie und demokratische Gesellschaft sowie für den Schutz und die Förderung anderer Rechte ist; fordert die Staatsorgane Aserbaidschans auf, davon abzusehen, das Strafrecht dazu zu missbrauchen, eine freie Diskussion über Religion zu verhindern;
5. betont erneut, dass der unbeschränkte Zugang zu Information und Kommunikation und der unzensierte Zugang zum Internet (Internetfreiheit) universelle Rechte sind und für Menschenrechte, wie etwa die Meinungsfreiheit und den freien Zugang zu Informationen, und auch dafür unverzichtbar sind, dass Transparenz und Rechenschaftspflicht im öffentlichen Leben sichergestellt werden;
6. besteht darauf, dass Drohungen und der Aufruf zu Gewalt gegen Personen, die Ansichten äußern, die von einigen Anhängern von Religionen und Glaubensgemeinschaften als „beleidigend“ empfunden werden, vollkommen inakzeptabel sind, dass diejenigen, die für solche Drohungen und Aufrufe verantwortlich sind, verfolgt werden müssen, und dass die Meinungsfreiheit und die Sicherheit bedrohter Personen in vollem Umfang gewährleistet werden müssen;
7. fordert die iranischen Staatsorgane nachdrücklich auf, das Konzept, nach dem eine Person „den Tod verdienen“ kann, aus dem überarbeiteten Strafgesetzbuch, über das derzeit im iranischen Parlament debattiert wird, zu entfernen; ist äußerst besorgt, dass die Existenz von Fatwas, in denen zur Tötung einer Person aufgerufen wird, in iranischen Gerichten von Personen, die des Mordes angeklagt sind, mit dem Argument als Verteidigung benutzt werden könnte, dass das Opfer „den Tod verdient“ habe; fordert die iranischen Staatsorgane nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass jeder, bei dem der Verdacht besteht, dass er einen Mord angestiftet, geplant, ausgeführt oder unterstützt hat, unabhängig davon, ob die Tötung in Iran oder anderswo stattfindet, in einem Verfahren vor Gericht gestellt wird, das in vollem Umfang den internationalen Standards eines fairen Verfahrens entspricht;
8. fordert die iranischen Staatsorgane auf, den Staatsorganen Aserbaidschans während der Untersuchung des Mordes an Rafig Tagi jede erforderliche Zusammenarbeit anzubieten und sicherzustellen, dass iranische Geistliche nicht dazu aufrufen, jemanden zu ermorden, unabhängig davon, ob dies in Iran oder in einem anderen Land geschehen soll;
9. fordert die Staatsorgane Aserbaidschans auf, ihr echtes Engagement für die Achtung der Menschenrechte zu zeigen und ihre Verpflichtungen nach dem Völkerrecht und im Kontext von Euronest, der Östlichen Partnerschaft oder jedem anderen Assoziierungsabkommen mit der EU zu erfüllen, insbesondere zum Schutz des Rechts auf Leben und auf Meinungsfreiheit;
10. bedauert, dass die Staatsorgane Aserbaidschans dem Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats über politische Häftlinge kein Visum erteilt haben; fordert die Regierung Aserbaidschans auf, dem Berichterstatter zu erlauben, das Land zu besuchen, um die Lage mutmaßlicher politischer Häftlinge zu untersuchen;
11. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung den Regierungen und Parlamenten der Republik Aserbaidschan und der Islamischen Republik Iran, dem EAD, dem Rat, der Kommission und dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zu übermitteln.