Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März 2012 zu den Maßnahmen zur Bekämpfung der Diabetes-Epidemie in der EU (2011/2911(RSP))
Das Europäische Parlament,
– gestützt auf Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union,
– unter Hinweis auf die St.-Vincent-Deklaration „Diabetes-Behandlung und -Forschung in Europa“, die auf der ersten Tagung im Rahmen des Diabetes-Aktionsprogramms der St.-Vincent-Deklaration vom 10.-12. Oktober 1989 in St. Vincent(1) angenommen wurde,
– unter Hinweis auf die EU-Plattform für Ernährung, Bewegung und Gesundheit(2), die am 15. März 2005 von der Kommission ins Leben gerufen wurde,
– unter Hinweis auf das Grünbuch der Kommission vom 8. Dezember 2005 „Förderung gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung: eine europäische Dimension zur Verhinderung von Übergewicht, Adipositas und chronischen Krankheiten“ (COM(2005)0637), das auf die Ursachen der Erkrankung an Typ-II-Diabetes eingeht,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der Konferenz zur Verhütung von Typ-II-Diabetes, die der österreichische Ratsvorsitz am 15. und 16. Februar 2006 in Wien(3) durchgeführt hat,
– unter Hinweis auf seine Erklärung vom 27. April 2006 zu Diabetes(4),
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates „Förderung einer gesunden Lebensweise und Vorbeugung gegen Typ-II-Diabetes“(5),
– unter Hinweis auf die Resolution des WHO-Regionalausschusses für Europa vom 11. September 2006 zu dem Thema Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten in der WHO-Region Europa(6),
– in Kenntnis der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 61/225 vom 20. Dezember 2006 zum Weltdiabetestag,
– unter Hinweis auf den Beschluss Nr. 1350/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über ein zweites Aktionsprogramm der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit (2008-13)(7) und den anschließenden Beschluss der Kommission vom 22. Februar 2011 über die Annahme eines Finanzierungsbeschlusses für das Jahr 2011 im Rahmen des zweiten Aktionsprogramms der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit (2008-2013) und zu den Auswahl-, Vergabe- und sonstigen Kriterien für Finanzhilfen für die Aktionen dieses Programms(8),
– in Kenntnis des Weißbuchs der Kommission vom 23. Oktober 2007 „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008-2013“ (COM(2007)0630),
– in Kenntnis des Siebten Forschungsrahmenprogramms (2007-2013)(9) und des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation (COM(2011)0808),
– in Kenntnis der Mitteilung der Kommission vom 20. Oktober 2009 „Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau der Ungleichheiten im Gesundheitsbereich in der EU“ (COM(2009)0567),
– in Kenntnis der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 64/265 vom 13. Mai 2010 zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten,
– unter Hinweis auf die wichtigsten Ergebnisse und Empfehlungen des DIAMAP-Projekts FP7-HEALTH-200701 „Road Map for Diabetes Research in Europe“ (Ein Fahrplan für die Diabetesforschung in Europa)(10),
– in Kenntnis der Mitteilung der Kommission vom 6. Oktober 2010 „Europa 2020: Leitinitiative Innovationsunion“ (COM(2010)0546) und der damit auf den Weg gebrachten Pilotpartnerschaft „Aktives und gesundes Altern“,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates vom 7. Dezember 2010 „Innovative Ansätze für chronische Krankheiten im öffentlichen Gesundheitswesen und in Gesundheitsfürsorgesystemen“,
– in Kenntnis der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 65/238 vom 24. Dezember 2010 „Umfang, Modalitäten, Format und Organisation der Tagung der Generalversammlung auf hoher Ebene über die Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten“,
– unter Hinweis auf die Moskauer Erklärung, die auf der ersten globalen Ministerkonferenz der Vereinten Nationen über gesunde Lebensführung und die Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten vom 28.–29. April 2011 in Moskau(11) angenommen wurde,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 15. September 2011 zu dem Standpunkt und dem Engagement der EU im Hinblick auf die anstehende hochrangige Tagung der VN zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten(12),
– gestützt auf Artikel 110 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass Diabetes zu den am weitesten verbreiteten nichtübertragbaren Krankheiten gehört und Schätzungen zufolge mehr als 32 Millionen EU-Bürger davon betroffen sind, was beinahe 10 % der Gesamtbevölkerung der EU entspricht, wobei weitere 32 Millionen Bürger an einer verminderten Glukosetoleranz leiden, die sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einer klinisch manifesten Diabetes entwickelt(13);
B. in der Erwägung, dass die Zahl der in Europa lebenden Menschen mit einer Diabeteserkrankung aufgrund der epidemieartigen Zunahme von Adipositas, der Alterung der europäischen Bevölkerung und weiterer, noch zu klärender Faktoren bis 2030 voraussichtlich um 16,6 % steigen wird;
C. in der Erwägung, dass sich die Lebenserwartung bei Typ-II-Diabetes um 5-10 Jahre(14) und bei Typ-I-Diabetes um etwa 20 Jahre(15) verkürzt, und dass in der EU jährlich 325 000 Todesfälle durch Diabetes bedingt sind(16), dass also alle zwei Minuten ein EU-Bürger an der Krankheit stirbt;
D. in der Erwägung, dass die Verminderung der bekannten Risikofaktoren – vor allem durch einen gesünderen Lebensstil – zunehmend als wichtigste Präventivstrategie anerkannt wird, mit der die Zahl der Neuerkrankungen, die Verbreitung der Krankheit sowie Komplikationen im Zusammenhang mit Typ-I- und Typ-II-Diabetes eingedämmt bzw. reduziert werden können;
E. in der Erwägung, dass noch genauer erforscht werden muss, welche Risikofaktoren einen Typ-I-Diabetes verursachen können und dass ein Forschungsgegenstand dabei die genetische Veranlagung ist; in der Erwägung, dass immer jüngere Menschen an Typ-I-Diabetes erkranken;
F. in der Erwägung, dass Typ-II-Diabetes eine vermeidbare Krankheit ist, deren Risikofaktoren – beispielsweise ungesunde, einseitige Ernährung, Adipositas, Bewegungsmangel und Alkoholkonsum – hinreichend bekannt sind und durch eine wirksame Prävention ausgeräumt werden können;
G. in der Erwägung, dass Diabetes zurzeit noch nicht heilbar ist;
H. in der Erwägung, dass Komplikationen im Zusammenhang mit Typ-II-Diabetes vermeidbar sind, wenn die Krankheit frühzeitig diagnostiziert wird und gesündere Lebensgewohnheiten angenommen werden, dass die Krankheit aber oft zu spät erkannt wird, denn bis zu 50 % aller Betroffenen sind sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht über ihren Zustand im Klaren(17);
I. in der Erwägung, dass fast 75 % der Diabetespatienten ihre Krankheit nicht gut im Griff haben, wodurch die Gefahr von Komplikationen steigt, die allgemeine Leistungsfähigkeit sinkt und Kosten entstehen, die die Gesellschaft zu tragen hat(18), wie eine aktuelle Studie belegt(19);
J. in der Erwägung, dass in den meisten Mitgliedstaaten mehr als 10 % der Ausgaben im Gesundheitswesen auf das Konto von Diabetes gehen, dass dieser Anteil in einigen Ländern sogar 18,5 % erreicht(20) und die allgemeinen Kosten der medizinischen Versorgung eines EU-Bürgers mit Diabetes sich im Jahr auf durchschnittlich 2 100 Euro belaufen(21); in der Erwägung, dass ein weiterer Anstieg dieser Kosten unvermeidbar ist, da die Zahl der Diabetespatienten steigt und die Bevölkerung altert, wodurch auch die Zahl der Begleiterkrankungen zunimmt;
K. in der Erwägung, dass Diabetes eine der Hauptursachen für Herzinfarkt, Schlaganfall, Erblindung, Amputation und Nierenversagen ist, wenn die Krankheit unzureichend behandelt oder zu spät erkannt wird;
L. in der Erwägung, dass die Förderung eines gesunden Lebensstils und Maßnahmen im Zusammenhang mit den vier wichtigsten Determinanten für Gesundheit – Rauchen, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel und Alkoholkonsum – in allen politischen Bereichen wesentlich zur Verhütung der Krankheit und entsprechender Komplikationen sowie zu Einsparungen bei den damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten beitragen kann;
M. in der Erwägung, dass Menschen mit Diabetes zu 95 % selbst für ihre Versorgung aufkommen müssen(22), dass Diabetes die Betroffenen und ihre Familien aber nicht nur finanziell belastet, sondern auch mit psychosozialen Problemen und einer verminderten Lebensqualität verbunden ist;
N. in der Erwägung, dass es für den Problemkreis Diabetes zwar in 16 von 27 Mitgliedstaaten einen Rahmen oder ein Programm auf nationaler Ebene gibt, dass es aber keine eindeutigen Kriterien gibt, anhand deren festgestellt werden kann, wie ein gutes Diabetesprogramm auszusehen hat oder welche Länder bewährte Strategien aufzuweisen haben(23); in der Erwägung, dass innerhalb der EU in Bezug auf die Qualität der Diabetesbehandlung beträchtliche Unterschiede und Ungleichheiten bestehen;
O. in der Erwägung, dass es bisher keinen EU-Rechtsrahmen gibt, der sich gegen die Diskriminierung von Menschen mit Diabetes oder anderen chronischen Krankheiten richtet, und dass das Verhalten gegenüber den Betroffenen – in der Schule, bei der Einstellung, am Arbeitsplatz, in Bezug auf Versicherungsverträge und bei der Führerscheinprüfung – in der EU nach wie vor stark von Vorurteilen geprägt ist;
P. in der Erwägung, dass die zur Koordinierung der Diabetesforschung erforderlichen Mittel und Infrastrukturen in der EU fehlen, wodurch nicht nur die EU-Diabetesforschung im Wettbewerb ins Hintertreffen gerät, sondern auch verhindert wird, dass Diabetespatienten voll und ganz von der Forschung in Europa profitieren können;
Q. in der Erwägung, dass es trotz der Schlussfolgerungen des österreichischen Ratsvorsitzes zur „Förderung einer gesunden Lebensweise und Vorbeugung gegen Typ-II-Diabetes“(24), der langen Liste von VN-Resolutionen und der schriftlichen Erklärung des Europäischen Parlaments zu Diabetes zurzeit keine EU-Strategie zur Bekämpfung von Diabetes gibt;
1. begrüßt die Schlussfolgerungen des Rates „Innovative Ansätze für chronische Krankheiten im öffentlichen Gesundheitswesen und in Gesundheitsfürsorgesystemen“(25) vom 7. Dezember 2010 und den an die Mitgliedstaaten und die Kommission gerichteten Aufruf des Rates, einen Reflexionsprozess einzuleiten, um optimierte Lösungen für die Probleme im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten zu ermitteln;
2. weist auf seine oben genannte Entschließung vom 15. September 2011 zu dem Standpunkt und dem Engagement der EU im Hinblick auf die anstehende hochrangige Tagung der VN zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten hin, die schwerpunktmäßig auf Diabetes als eine der vier häufigsten nichtübertragbaren Krankheiten eingeht;
3. fordert die Kommission auf, in Form einer Empfehlung des Rates der EU über die Prävention, Diagnose und Behandlung von Diabetes sowie Diabetesaufklärung und -forschung eine wirksame EU-Diabetesstrategie auszuarbeiten und umzusetzen;
4. fordert die Kommission auf, allgemeine Standardkriterien und –verfahren für die Erfassung von Daten zu Diabetes auszuarbeiten und in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten für die Koordinierung, Erfassung, Registrierung, Überwachung und Verwaltung umfassender epidemiologischer Daten zu Diabetes sowie wirtschaftlicher Daten zu den direkten und indirekten Kosten der Prävention und Behandlung von Diabetes zu sorgen;
5. fordert die Mitgliedstaaten auf, nationale Diabetesprogramme auszuarbeiten, umzusetzen und entsprechend zu überwachen, in deren Rahmen es um die Förderung der Gesundheit, die Verminderung der Risikofaktoren, die Prognose, die Prävention, die frühzeitige Erkennung und die Behandlung von Diabetes geht, deren Zielgruppen die Allgemeinbevölkerung sowie insbesondere Bevölkerungsgruppen mit einem erhöhten Risiko sind und die so konzipiert sind, dass Ungleichheiten beseitigt werden und der Einsatz der Ressourcen im Gesundheitswesen optimiert wird;
6. fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zur Prävention von Typ-II-Diabetes und Adipositas (Empfehlung von Strategien, die in einem jungen Alter ansetzen, indem an Schulen Wissen über die Bedeutung einer gesunden Ernährung und von sportlicher Betätigung vermittelt wird) und Strategien zur Beeinflussung des Lebensstils – auch bei Ernährung und Bewegung ansetzende Konzepte – zu fördern; hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass politische Maßnahmen im Bereich Lebensmittel an der Zielsetzung der gesunden Ernährung ausgerichtet werden müssen, damit die Verbraucher sich sachkundig für gesunde Lebensmittel entscheiden können, und dass dies neben der frühzeitigen Diagnose in den nationalen Diabetesprogrammen als Bereich mit dringendem Handlungsbedarf verankert werden muss;
7. fordert die Kommission auf, die Mitgliedstaaten zu unterstützen, indem sie den Austausch von Verfahren fördern, die sich mit Blick auf die Wirksamkeit der nationalen Diabetesprogramme bewährt haben; weist darauf hin, dass die Kommission die Fortschritte der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der nationalen Diabetesprogramme kontinuierlich überwachen und die entsprechenden Ergebnisse regelmäßig in Form eines Bericht der Kommission vorlegen sollte;
8. fordert die Mitgliedstaaten auf, Diabetesprogramme zu entwickeln, die sich auf bewährte Verfahren und fundierte Behandlungsleitlinien stützen;
9. fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass Patienten bei der primären und sekundären medizinischen Versorgung stets von sehr guten interdisziplinären Teams betreut werden und Zugang zu hochwertigen Therapien und Technologien, einschließlich Technologien der elektronischen Gesundheitsdatenverwaltung haben, und sie dabei zu unterstützen, dass sie sich die Fähigkeiten und das Wissen aneignen können, die die Voraussetzung für einen kompetenten lebenslangen Umgang mit der Krankheit sind;
10. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Koordinierung der europäischen Diabetesforschung zu verbessern, indem sie die Zusammenarbeit zwischen Forschungszweigen fördern und die übergeordnete gemeinsame Infrastruktur schaffen, die für europäische Forschungsprojekte zu Diabetes – auch in den Bereichen Erkennung von Risikofaktoren und Prävention – notwendig ist;
11. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass die Mittelausstattung für den Bereich Diabetes im Rahmen des derzeitigen sowie der künftigen EU-Forschungsrahmenprogramme stets sichergestellt ist, wobei Typ-I- und Typ-II-Diabetes in diesem Zusammenhang als eigenständige Krankheiten zu behandeln sind;
12. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse des VN-Gipfels zu nichtübertragbaren Krankheiten im September 2011 gründlich und zweckentsprechend nachbereitet werden;
13. weist darauf hin, dass die EU und die Mitgliedstaaten den Bereich der Prävention und der Verminderung von Risikofaktoren stärker in alle einschlägigen Gesetzgebungs- und Politikbereiche, vor allem in die Umwelt-, Lebensmittel- und Verbraucherpolitik, integrieren müssen, wenn die Ziele im Bereich der nichtübertragbaren Krankheiten erreicht und die gesundheits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen bewältigt werden sollen;
14. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission und den Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.
Diabetes – The Policy Puzzle: towards benchmarking in the EU 25 (2005) Internationaler Diabetesverband, 2006: http://www.idf.org/webdata/docs/idf-europe/DiabetesReport2005.pdf
Diabetes – The Policy Puzzle: towards benchmarking in the EU 25 (2005) Internationaler Diabetesverband, 2006: http://www.idf.org/webdata/docs/idf-europe/DiabetesReport2005.pdf
Diabetes expenditure, burden of disease and management in 5 EU countries, 2012: http://www2.lse.ac.uk/LSEHealthAndSocialCare/research/LSEHealth/MTRG/LSEDiabetesReport26Jan2012.pdf