Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. April 2013 zur Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/113/EG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (2010/2043(INI))
Das Europäische Parlament,
– gestützt auf Artikel 19 Absatz 1 und Artikel 260 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),
– unter Hinweis auf die Richtlinie 2004/113/EG vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen(1),
– unter Hinweis auf die Leitlinien der Kommission vom 22. Dezember 2011 zur Anwendung der Richtlinie 2004/113/EG des Rates auf das Versicherungswesen im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-236/09 (Test-Achats)(2),
– unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 1. März 2011 in der Rechtssache C-236/09 (Test-Achats)(3),
– unter Hinweis auf den Bericht des Europäischen Netzwerks von Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten auf dem Gebiet der Gleichstellung von Frauen und Männern vom Dezember 2010 mit dem Titel „Die EU-Vorschriften zur Geschlechtergleichstellung: Wie wurden diese in nationales Recht umgesetzt?“,
– unter Hinweis auf den Bericht des Europäischen Netzwerks von Rechtsexpertinnen Rechtsexperten auf dem Gebiet der Gleichstellung von Frauen und Männern vom Juli 2009 mit dem Titel „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und Umsetzung der Richtlinie 2004/113/EG“,
– unter Hinweis auf den Bericht des Europäischen Netzwerks von Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten auf dem Gebiet der Gleichstellung von Frauen und Männern vom Juni 2011 mit dem Titel „Transsexuelle und Intersexuelle: Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und des Ausdrucks der Geschlechtlichkeit“,
– unter Hinweis auf seinen Standpunkt vom 30. März 2004 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen(4),
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 17. Juni 2010 zur Bewertung der Ergebnisse des Fahrplans zur Gleichstellung von Frauen und Männern 2006–2010 und Empfehlungen für die Zukunft(5),
– gestützt auf Artikel 48 seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (A7-0044/2013),
A. in der Erwägung, dass die Richtlinie sowohl die direkte als auch die indirekte geschlechtsbezogene Diskriminierung beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die den Bürgern im öffentlichen und im privaten Sektor angeboten werden, untersagt;
B. in der Erwägung, dass die Richtlinie Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts in Bereichen außerhalb des Arbeitsmarktes zum Gegenstand hat;
C. in der Erwägung, dass auch eine Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft oder Mutterschaft sowie Belästigung, sexuelle Belästigung und die Anweisung zur Diskriminierung bei der Bereitstellung von Gütern oder Dienstleistungen untersagt sind;
D. in der Erwägung, dass seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Bestimmungen zur Bekämpfung geschlechtsbezogener Diskriminierung in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden, bei dem Einstimmigkeit im Rat und die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich ist (Artikel 19 Absatz 1 AEUV);
E. in der Erwägung, dass den vorliegenden Informationen zufolge die Richtlinie in den meisten Mitgliedstaaten entweder durch die Annahme neuer oder die Änderung vorhandener Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet umgesetzt worden ist;
F. in der Erwägung, dass die Umsetzung in einigen Mitgliedstaaten nicht vollständig oder nicht innerhalb der vorgesehenen Frist erfolgt ist;
G. in der Erwägung, dass die nationalen Regelungen in einigen Fällen sogar über die Anforderungen der Richtlinie hinausgehen, indem sie sich auch auf das Bildungswesen oder Diskriminierungen im Zusammenhang mit Medien und Werbung beziehen;
H. in der Erwägung, dass die Opt-out-Klausel nach Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie zu Rechtsunsicherheit geführt hat und langfristig die Gefahr von Rechtsstreitigkeiten mit sich bringt;
I. in der Erwägung, dass der Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie, der gemäß dieser bereits 2010 hätte vorgelegt werden sollen, nun doch erst bis spätestens 2014 vorgelegt werden muss;
J. in der Erwägung, dass es in dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 1. März 2011 in der Rechtssache C-236/09 (Test-Achats) heißt, dass Artikel 5 Absatz 2 dieser Richtlinie, der eine Ausnahmeregelung für das Versicherungswesen und verwandte Finanzdienstleistungen vorsieht, der Verwirklichung des Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwiderläuft und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unvereinbar ist;
K. in der Erwägung, dass die betreffende Bestimmung daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit, in diesem Fall mit Wirkung vom 21. Dezember 2012, als ungültig anzusehen ist;
L. in der Erwägung, dass die Kommission am 22. Dezember 2011 unverbindliche Leitlinien dahingehend veröffentlicht hat, wie die Lage im Hinblick auf Versicherungsunternehmen und verwandte Finanzdienstleistungen geklärt werden könnte;
M. in der Erwägung, dass im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Diskriminierung von Transsexuellen und die Diskriminierung aus Gründen der Geschlechtsidentität im Hinblick auf Maßnahmen und Rechtsvorschriften im Bereich der Gleichstellung von Männern und Frauen einer Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts gleichkommen könnte;(6)
1. bedauert die Tatsache, dass die Kommission weder ihren Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2004/113/EG vorgelegt noch aktuelle Daten zu den laufenden nationalen Umsetzungsverfahren veröffentlicht hat;
2. erkennt an, dass das Urteil in der Rechtssache Test-Achats Auswirkungen auf die Umsetzungsverfahren der Mitgliedstaaten gehabt haben könnte, stellt jedoch fest, dass dies allein nicht die Unterlassung der rechtzeitigen Veröffentlichung des in der Richtlinie geforderten Berichts rechtfertigen kann;
3. fordert die Kommission auf, ihren Bericht und alle zur Verfügung stehenden Daten schnellstmöglich zu veröffentlichen;
4. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, mit denen sie die Richtlinie und ihre Auswirkungen anhand konkreter Beispiel erläutern, damit gewährleistet ist, dass sich sowohl Frauen als auch Männer die Richtlinie umfassend zu eigen machen und sie als wirksames Instrument zur Wahrung ihrer Rechte im Hinblick auf die Gleichbehandlung beim Zugang zu allen Gütern und Dienstleistungen einsetzen können;
5. begrüßt das Urteil in der Rechtssache Test-Achats, ist jedoch der Auffassung, dass es zu anhaltender Rechtsunsicherheit auf dem Versicherungsmarkt geführt hat; erwartet, dass die Entwicklung geschlechtsneutraler Kriterien zu einer Preisgestaltung auf der Grundlage mehrerer Risikofaktoren führt, die dem Risikoniveau einer Person auf gerechte Weise und unabhängig von ihrem Geschlecht Rechnung trägt, und jede potenzielle geschlechtsbezogene Diskriminierung aufdeckt;
6. vertritt die Ansicht, dass die von der Kommission veröffentlichten Leitlinien – angesichts der Tatsache, dass sie keine bindende oder normative Wirkung haben – diese Unsicherheit nicht vollständig beseitigt haben;
7. fordert die Kommission auf, praktische Schritte zur Lösung des Problems zu ergreifen und einen neuen Legislativtext vorzuschlagen, der in vollem Einklang mit den Leitlinien steht;
8. merkt an, dass die Versicherungsbranche in ihren Anstrengungen fortfahren sollte, die Prämien im Einklang mit geschlechtsneutralen Kriterien neu festzulegen, indem sie versicherungsmathematische Berechnungen auf der Grundlage anderer Faktoren anwendet;
9. fordert die Kommission auf, mit der Versicherungsbranche einen informellen Dialog über die Risikobewertung aufzunehmen;
10. fordert die Kommission auf darzulegen, welche Methodologie sie verwenden wird, um die Auswirkungen des Urteils in der Rechtssache Test-Achats auf die Preisgestaltung im Versicherungswesen zu messen;
11. fordert die Kommission auf, bei diesem Thema auch ein Augenmerk auf Maßnahmen zum Verbraucherschutz zu legen;
12. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Entwicklungen auf dem Versicherungsmarkt genau zu verfolgen und im Falle von Anzeichen dafür, dass de facto eine indirekte Diskriminierung stattfindet, alle notwendigen Maßnahmen zur Lösung des Problems und zur Vermeidung ungerechtfertigter höherer Prämien zu ergreifen;
13. betont, dass sich diese Richtlinie nicht auf den Versicherungssektor beschränkt und dass ihr weiter gefasster Anwendungsbereich und ihr Potenzial für Fortschritte im Hinblick auf den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen im öffentlichen und im privaten Sektor im Einzelnen erläutert werden müssen, um zu gewährleisten, dass sowohl Männer als auch Frauen die Reichweite und den Zweck der Richtlinie voll erfassen und somit deren Merkmale und Möglichkeiten umfassend nutzen können;
14. stellt fest, dass die Bestimmung hinsichtlich der Verlagerung der Beweislast in den meisten Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt worden ist; fordert die Kommission auf, die Anwendung dieser Bestimmung in allen Mitgliedstaaten zu überwachen;
15. fordert die Kommission auf, Fälle von Diskriminierung im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Schwangerschaftsplanung und Mutterschaft, beispielsweise bei der Vergabe von Mietwohnungen oder von Krediten, sowie im Zusammenhang mit dem Zugang zu medizinischen Gütern und Dienstleistungen, insbesondere legalen Leistungen der Gesundheitsfürsorge im Bereich der Reproduktionsmedizin und Behandlungen zur Geschlechtsumwandlung, zu berücksichtigen;
16. fordert die Kommission auf, Diskriminierungen im Zusammenhang mit dem Stillen besonders genau zu überwachen, auch etwaige Fälle von Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen auf öffentlichen Flächen und in öffentlichen Bereichen;
17. fordert die Kommission auf, darauf zu achten, dass die Richtlinie auch in Bezug auf Asyl suchende Schwangere, die darauf warten, wie über ihren Asylantrag entschieden wird, umgesetzt wird und Anwendung findet, damit gewährleistet wird, dass diese Frauen durch die betreffenden Verträge und Produkte gedeckt sind;
18. fordert die Kommission auf, in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs Diskriminierung aus Gründen der Geschlechtsidentität umfassend in künftige Maßnahmen und Rechtsvorschriften im Bereich der Gleichstellung von Männern und Frauen einzubeziehen;
19. stellt enttäuscht fest, dass Unternehmerinnen, insbesondere alleinstehende Mütter, in einigen Mitgliedstaaten oft diskriminiert werden, wenn sie versuchen, ein Darlehen oder einen Kredit für ihr Unternehmen aufzunehmen, und immer noch häufig mit Hindernissen konfrontiert werden, die auf geschlechtsspezifischen Stereotypen beruhen;
20. fordert die Kommission auf, bewährte Verfahren zu erfassen und den Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen und somit die für die Förderung positiver Maßnahmen und die Gewährleistung einer besseren Umsetzung der jeweiligen Bestimmungen auf nationaler Ebene notwendigen Ressourcen bereitzustellen;
21. weist darauf hin, dass einige für die Gleichstellung zuständige Stellen nicht effizient genug sind, weil sie de facto nicht handlungsfähig, mit Personalkürzungen konfrontiert und finanziell nicht angemessen ausgestattet sind;
22. fordert die Kommission auf, die Lage der nach dem Inkrafttreten der Richtlinie geschaffenen „Gleichstellungsstellen“ genau und sorgfältig zu überwachen und zu prüfen, ob alle in den Rechtsvorschriften der EU festgelegten Bedingungen erfüllt worden sind; betont insbesondere, dass die derzeitige Wirtschaftskrise nicht als Rechtfertigung für Versäumnisse im Hinblick auf das ordnungsgemäße Funktionieren der Gleichstellungsstellen dienen kann;
23. betont, dass Daten und mehr Transparenz vonseiten der Kommission zu laufenden Vertragsverletzungsverfahren und diesbezüglichen Maßnahmen erforderlich sind;
24. fordert die Kommission auf, eine öffentliche Datenbank mit Rechtsvorschriften und Gerichtsurteilen im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung einzurichten; betont, dass der Schutz von Opfern geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbessert werden muss;
25. weist darauf hin, dass eine finanzielle Unterstützung und EU-weite Koordinierung der Weiterbildung der in diesem Bereich tätigen Rechtspraktiker erforderlich ist, wobei die Rolle der nationalen Gerichte berücksichtigt werden muss;
26. weist darauf hin, dass die Richtlinie in allen Mitgliedstaaten zeitnah umgesetzt werden muss;
27. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat und der Kommission sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten zu übermitteln.
Rechtssache C-13/94 (P. gegen S. und Cornwall County Council); Rechtssache C-117/01 (K. B. gegen National Health Service Pensions Agency und Secretary of State for Health); Rechtssache C-423/04 (Sarah Margaret Richards gegen Secretary of State for Work and Pensions).