Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. Mai 2013 zu dem Entwurf eines Protokolls über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik (Artikel 48 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union) (00091/2011 – C7-0385/2011 – 2011/0817(NLE))
Das Europäische Parlament,
– in Kenntnis des an den Rat gerichteten Schreibens der Regierung der Tschechischen Republik vom 5. September 2011 über den Entwurf eines Protokolls über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („die Charta“) auf die Tschechische Republik,
– in Kenntnis des an den Präsidenten des Europäischen Parlaments gerichteten Schreibens des Präsidenten des Europäischen Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend den Entwurf eines Protokolls über die Anwendung der Charta auf die Tschechische Republik,
– unter Hinweis auf Artikel 48 Absatz 3 Unterabsatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), gemäß dem das Parlament vom Europäischen Rat angehört wurde (C7-0385/2011),
– gestützt auf Artikel 6 Absatz 1 EUV und die Charta,
– unter Hinweis auf das dem EUV und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügte Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten im Rahmen der Tagung des Europäischen Rates vom 29. und 30. Oktober 2009,
– unter Hinweis auf die die Charta betreffenden Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, insbesondere auf die von allen Mitgliedstaaten abgegebene Erklärung Nr. 1, die von der Tschechischen Republik abgegebene Erklärung Nr. 53 und die von der Republik Polen abgegebenen Erklärungen Nr. 61 und Nr. 62,
– unter Hinweis auf die Entschließung Nr. 330 des tschechischen Senats, die in der 12. Sitzung des Senats am 6. Oktober 2011 verabschiedet wurde,
– gestützt auf Artikel 74a seiner Geschäftsordnung,
– in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (A7-0174/2013),
in Erwägung nachstehender Gründe:
A. Die am 29. und 30. Oktober 2009 im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs sind übereingekommen, zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrags und im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften den Verträgen ein Protokoll über die Anwendung der Charta auf die Tschechische Republik beizufügen.
B. Mit Schreiben ihres Ständigen Vertreters vom 5. September 2011 hat die tschechische Regierung dem Rat gemäß Artikel 48 Absatz 2 EUV einen Vorschlag zur Änderung der Verträge übermittelt, um ein Protokoll über die Anwendung der Charta auf die Tschechische Republik beizufügen.
C. Am 11. Oktober 2011 hat der Rat dem Europäischen Rat gemäß Artikel 48 Absatz 2 EUV einen Vorschlag zur Änderung der Verträge mittels Beifügung eines Protokolls über die Anwendung der Charta auf die Tschechische Republik übermittelt.
D. Der Europäische Rat hat gemäß Artikel 48 Absatz 3 Unterabsatz 1 EUV das Parlament dazu angehört, ob die vorgeschlagenen Änderungen geprüft werden sollten.
E. Gemäß Artikel 6 Absatz 1 EUV erkennt die Europäische Union die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, denen derselbe rechtliche Rang und dieselbe verbindliche Wirkung zukommt wie den Verträgen.
F. Die Protokolle stellen einen integralen Bestandteil der Verträge, denen sie beigefügt sind, dar. Ein zusätzliches Protokoll, das Sonderregeln in Bezug auf die Anwendung eines Teils des Unionsrechts in einem Mitgliedstaat aufstellt, erfordert daher eine Überarbeitung der Verträge.
G. Gemäß Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 2 EUV werden durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert.
H. Gemäß Artikel 51 der Charta gilt sie für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Diese Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen müssen somit die Rechte achten, die Grundsätze wahren und die Anwendung der Charta entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden, fördern. Wie in der von den Mitgliedstaaten abgegebenen Erklärung Nr. 1 bekräftigt wird, wird durch die Charta der Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausgedehnt, und es werden weder neue Zuständigkeiten oder Aufgaben für die Union begründet noch die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben geändert.
I. In Absatz 2 der Erklärung Nr. 53 der Tschechischen Republik heißt es, dass die Charta „weder [...] den Geltungsbereich der nationalen Rechtsvorschriften [begrenzt] noch [...] die derzeitigen Zuständigkeiten der nationalen Regierungen auf diesem Gebiet [beschneidet]“, wodurch festgestellt wird, dass die Integrität der Rechtsordnung der Tschechischen Republik auch ohne Rückgriff auf ein zusätzliches Rechtsinstrument gewährleistet ist.
J. Aus wissenschaftlichen Analysen und der Rechtsprechung geht hervor, dass das Protokoll Nr. 30 Polen und das Vereinigte Königreich nicht von den verbindlichen Bestimmungen der Charta freistellt, keinen „Opt-out“ darstellt, die Charta nicht ergänzt und nichts an der rechtlichen Situation ändert, die bestünde, wenn es das Protokoll nicht gäbe(1). Die Wirkung des Protokolls besteht einzig darin, dass es nicht nur in Polen und im Vereinigten Königreich, sondern auch in den übrigen Mitgliedstaaten zu Rechtsunsicherheit führt.
K. Eine wesentliche Funktion der Charta besteht darin, den Grundrechten einen höheren Rang zu verleihen und sie sichtbarer zu machen. Das Protokoll Nr. 30 führt aber zu Rechtsunsicherheit und politischer Konfusion und untergräbt dadurch die Bemühungen der Union um Herstellung und Aufrechterhaltung eines einheitlich hohen und gleichen Rechtsschutzniveaus.
L. Sollte das Protokoll Nr. 30 jemals dahingehend ausgelegt werden, dass es den Anwendungsbereich oder die Geltung der Bestimmungen der Charta einschränkt, dann würde dies für die Menschen in Polen, im Vereinigten Königreich und voraussichtlich in der Tschechischen Republik einen geringeren Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten bedeuten.
M. Das tschechische Parlament hat den Vertrag von Lissabon genau in der Form ratifiziert, in der er unterzeichnet wurde, also ohne Vorbehalt oder irgendwelche Erklärungen in Bezug auf die uneingeschränkte Geltung der Charta in der Tschechischen Republik(2).
N. In seiner Entschließung Nr. 330 vom 6. Oktober 2011 sprach sich der tschechische Senat gegen eine Anwendung des Protokolls Nr. 30 auf die Tschechische Republik aus, da dies das Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten der tschechischen Bürger senken würde. Der tschechische Senat wies auch auf die – fragwürdigen – verfassungsrechtlichen Umstände hin, unter denen diese Angelegenheit zum ersten Mal vom Präsidenten der Republik vorgebracht wurde, nämlich erst nach Abschluss der parlamentarischen Ratifizierung des Vertrags von Lissabon.
O. Das tschechische Verfassungsgericht wies 2008 und 2009 zwei Anträge zurück und befand, dass der Vertrag von Lissabon voll und ganz mit der tschechischen Verfassung im Einklang steht. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass vor demselben Gericht gegen die vorgeschlagene Änderung der Verträge geklagt wird.
P. Das Parlament ist verpflichtet, dem Europäischen Rat im Geiste der loyalen Zusammenarbeit zu allen vorgeschlagenen Vertragsänderungen – ungeachtet ihrer Bedeutung – seine Stellungnahme zu übermitteln; es ist jedoch nicht verpflichtet, mit dem Europäischen Rat einer Meinung zu sein.
Q. Es bestehen weiterhin Zweifel an der Bereitschaft des tschechischen Parlaments, die Ratifizierung des neuen Protokolls abzuschließen, welches darauf abzielt, die Anwendung von Protokoll Nr. 30 auf die Tschechische Republik zu erweitern; sollte der Europäische Rat den Beschluss fassen, die vorgeschlagene Änderung zu prüfen, könnten weitere Mitgliedstaaten wünschen, ihre Ratifizierungsverfahren erst einzuleiten, wenn die Tschechische Republik ihr Ratifizierungsverfahren abgeschlossen hat.
1. fordert den Europäischen Rat auf, die vorgeschlagene Änderung der Verträge nicht zu prüfen;
2. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung als seinen Standpunkt dem Europäischen Rat, dem Rat, der Kommission, der Regierung und dem Parlament der Tschechischen Republik sowie den Parlamenten der übrigen Mitgliedstaaten zu übermitteln.