Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juli 2014 zu Nigeria und den jüngsten Angriffen von Boko Haram (2014/2729(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Nigeria, insbesondere die Entschließungen vom 4. Juli 2013(1) und 15. März 2012(2),
– unter Hinweis auf die Erklärungen der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, zu Nigeria, insbesondere vom 26. Juni 2014 und vom 15. April 2014,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates zu Nigeria vom 12. Mai 2014,
– unter Hinweis auf die Erklärung des Sprechers des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu Nigeria vom 26. Juni 2014;
– unter Hinweis auf den Beschluss des Rates, Boko Haram auf die EU-Liste der bekannten terroristischen Vereinigungen zu setzen, der am 29. Mai 2014 in Kraft trat,
– unter Hinweis auf die Erklärung des Sprechers des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 30. Juni 2014,
– unter Hinweis auf den am 1. Juli 2014 veröffentlichten Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über Kinder und bewaffnete Konflikte (CCAC),
– unter Hinweis auf die Grußbotschaft des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 17. Juni 2014 an die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion anlässlich des Tages der afrikanischen Jugend,
– unter Hinweis auf den Bericht über vorläufige Prüfungstätigkeiten 2013 des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH),
– unter Hinweis auf den von Nigeria am 29. Oktober 1993 ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966,
– unter Hinweis auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau aus dem Jahr 1979,
– unter Hinweis auf die Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung jeglicher Form von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder des Glaubens von 1981,
– unter Hinweis auf die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981, die Nigeria am 22. Juni 1983 ratifiziert hat,
– unter Hinweis auf die zweite, überarbeitete Fassung des Cotonou-Abkommens 2007-2013, die Nigeria am 27. September 2010 ratifiziert hat,
– unter Hinweis auf die Verfassung der Bundesrepublik Nigeria, insbesondere auf die Bestimmungen über den Schutz der Religionsfreiheit in Kapitel IV (Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit),
– gestützt auf Artikel 135 Absatz 5 und Artikel 123 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass Boko Haram eine wachsende Bedrohung der Stabilität von Nigeria, Westafrika und der Sahelzone darstellt; in der Erwägung, dass der von dieser extremistischen Organisation des islamistischen Dschihad ausgehenden Gewalt in den vergangenen zehn Jahren viele tausende Menschen zum Opfer gefallen sind und getötet wurden, in der Erwägung, dass diese Organisation wahllos Christen, gemäßigte Muslime, Regierungsbeamte und Institutionen ins Visier nimmt und eigentlich jeder von ihr bedroht ist, der ihre dogmatischen und extremen Überzeugungen nicht teilt;
B. in der Erwägung, dass Boko Haram in der Nacht vom 14. auf den 15. April dieses Jahres 276 Schülerinnen aus der staatlichen Sekundarschule in dem Ort Chibok im Bundesstaat Borno entführt hat, von denen 200 nach wie vor verschollen sind; in der Erwägung, dass die nigerianischen Sicherheitskräfte Berichten zufolge auf eine zuvor erfolgte Warnung nicht reagiert haben; in der Erwägung, dass es nach dem Überfall in Chibok zu weiteren Entführungen von Schulkindern gekommen ist;
C. in der Erwägung, dass die verschleppten Schülerinnen in akuter Gefahr sind, Opfer von sexueller Gewalt, Sklaverei und Zwangsheirat zu werden;
D. in der Erwägung, dass diese Entführungen heftige Reaktionen der Zivilbevölkerung in Nigeria und der gesamten Welt hervorgerufen haben und Forderungen an die nigerianische Regierung laut wurden, sie möge wirksame Maßnahmen ergreifen, um „unsere Mädchen heimzuholen“, die Sicherheit von Schulkindern zu gewährleisten und gegen die Ausbreitung von Boko Haram vorzugehen;
E. in der Erwägung, dass es besorgniserregende Berichte unter anderem vom EAD und Regierungsquellen über wahllose Gewalt im Zuge der Gegenmaßnahmen der Regierung gibt, unter anderem durch die gemeinsame Einsatztruppe aus Militär- und Polizeieinheiten (Nigerian Joint Task Force), die im Mai 2013 zur Bekämpfung von Boko Haram aufgestellt wurde;
F. in der Erwägung, dass die Zahl der Angriffe von Boko Haram in den vergangenen Monaten dramatisch angestiegen ist und dabei immer mehr Gewalt angewandt wird, sodass in diesem Jahr bereits über 4 000 Opfer bei Angriffen auf Kirchen, Schulen, Marktplätze und Dörfer sowie auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte zu verzeichnen sind; in der Erwägung, dass Boko Haram derzeit dabei ist, sein Einsatzgebiet auf die gesamte nördliche Landeshälfte sowie auf angrenzende Gebiete der Nachbarstaaten auszudehnen;
G. in der Erwägung, dass Boko Haram für mindestens 18 Angriffe auf Zivilisten in den vergangenen zwei Wochen im Norden Nigerias verantwortlich gemacht wird, was mit wachsenden politischen Spannungen im Vorfeld der für 2015 geplanten Parlamentswahl einhergeht;
H. in der Erwägung, dass die Angriffe von Boko Haram und die Gegenmaßnahmen der Regierung eine Flüchtlingskrise ausgelöst haben, bei der nach Angaben des UNHCR über 10 000 Menschen im Ausland (hauptsächlich in Niger und Kamerun) Zuflucht gesucht haben und viele mehr zu Binnenflüchtlingen geworden sind; in der Erwägung, dass dadurch die Lage der bereits spärlich vorhandenen Ressourcen an Nahrungsmitteln und Wasser insbesondere in Niger zusätzlich verschärft wird, das nach Jahren der Dürre selbst mit Ernährungsunsicherheit zu kämpfen hat;
I. in der Erwägung, dass die humanitäre Situation eines großen Teils der Bevölkerung nach wie vor kritisch ist und 70 % der Menschen mit weniger als 1,25 USD pro Tag auskommen müssen;
J. in der Erwägung, dass die Meinungs- und Pressefreiheit in Gefahr ist, da Personen, die kritisch über die nigerianischen Behörden berichten, mit Haft, Einschüchterungen, Gewalt und sogar mit dem Tod bedroht werden; in der Erwägung, dass Boko Haram wiederholt gedroht hat, Medien, die kritisch über die Gruppierung berichtet haben, anzugreifen;
K. in der Erwägung, dass durch die Verhängung des Ausnahmezustands über Borno, Yobe und Adamawa, der seit dem 14. Mai 2013 in Kraft ist, große Teile dieser Bundesstaaten für Hilfsorganisationen, Journalisten und Reporter unzugänglich geworden sind; in der Erwägung, dass die Regierung in mehreren Regionen Mobiltelefondienste gesperrt hat, um die Kommunikation der Kämpfer zu unterbinden;
L. in der Erwägung, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten Nigeria wiederholt Unterstützung bei seinen anhaltenden Bemühungen angeboten haben, seine Bürger zu schützen und den Terrorismus in allen seinen Ausprägungen zu besiegen sowie der Kultur der Straffreiheit für die Anwendung sexueller Gewalt ein Ende zu setzen;
M. in der Erwägung, dass die EU am 28. Mai 2014 Boko Haram und ihren Anführer Abubakar Shekau auf ihre Liste bekannter terroristischer Vereinigungen gesetzt hat, nachdem die Vereinten Nationen entschieden hatten, Boko Haram als terroristische Organisation einzustufen, und andere internationale Partner ebenso verfahren haben;
N. in der Erwägung, dass die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Navi Pillay, darauf hingewiesen hat, dass die Angriffe durch Boko Haram möglicherweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind; in der Erwägung, dass eine vorläufige Untersuchung des IStGH diese Warnung bestätigt hat und die Schlussfolgerung enthält, es gebe Grund zu der Annahme, dass Boko Haram Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt;
1. verurteilt aufs Schärfste die anhaltende Welle der bewaffneten Angriffe, Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Entführungen und anderen Gewalttaten, die von der Terrorsekte Boko Haram an zivilen, staatlichen und militärischen Zielen in Nigeria im Norden des Landes sowie in Abuja und Lagos verübt werden; fordert die sofortige und bedingungslose Freilassung der Schülerinnen aus Chibok;
2. bringt sein tief empfundenes Mitleid mit den Familienangehörigen der Opfer zum Ausdruck und unterstützt die Anstrengungen der nigerianischen Regierung, der Gewalt ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen;
3. fordert die nigerianische Regierung und die staatlichen Stellen des Landes auf, bei der Befreiung der Mädchen aus den Händen ihrer Entführer zusammenzuarbeiten, die Transparenz bei den Rettungsbemühungen zu verbessern sowie die Familien der verschleppten Mädchen angemessen mit Informationen zu versorgen sowie sie medizinisch und psychologisch zu unterstützen, um dem Klima des Argwohn ein Ende zu bereiten;
4. ist außerordentlich besorgt darüber, dass Boko Haram im Rahmen seiner blutigen Guerillastrategie gezielt Frauen und Kinder ins Visier nimmt, und verurteilt, dass Boko Haram Mädchen und Jungen den Zugang zu Bildung verwehrt, was eine eklatante Grundrechtsverletzung darstellt;
5. ist der Ansicht, dass der Mechanismus der Überwachung und Berichterstattung in Bezug auf schwere Verletzungen der Kinderrechte in Situationen eines bewaffneten Konflikts in Gang gesetzt werden sollte und dass UNICEF seine Kapazitäten auf diesem Gebiet im Einklang mit seinem Mandat aufstocken sollte;
6. zeigt sich zudem zutiefst besorgt über Berichte, wonach Menschen gezwungen wurden, zum Islam überzutreten, und man das islamische Recht der Scharia eingeführt hat, womit das erklärte Ziel der Gruppierung erreicht werden soll, ein islamisches Kalifat im Norden des Landes zu errichten;
7. fordert die nigerianische Regierung und ihre Ordnungskräfte auf, beim Vorgehen gegen die bewaffneten Rebellen maßvoll vorzugehen und sicherzustellen, dass dabei stets im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Regierung Nigerias gehandelt wird; verlangt von den staatlichen Stellen Nigerias, dass sie die Berichte über wahllose und unverhältnismäßige Gewaltanwendung vonseiten der Regierungstruppen (darunter das Niederbrennen von Häusern und die Hinrichtung von mutmaßlichen Boko-Haram-Anhängern oder gar von Zivilisten ohne erkennbare Verbindung zu der Organisation) untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen;
8. fordert die Regierung Nigerias nachdrücklich auf, nicht nur die Rebellen von Boko Haram, sondern auch einige der Ursachen der Entstehung dieser Organisation zu bekämpfen, darunter die grassierende Korruption, die Veruntreuung von Geldern aus dem Erdölgeschäft, die Radikalisierung und fehlende Zukunftsperspektiven, und fordert die Mitgliedstaaten auf, Nigeria bei diesen Maßnahmen zu unterstützen;
9. fordert die staatlichen Stellen Nigerias nachdrücklich auf, die wirtschaftliche Kluft zwischen dem Norden und dem Süden des Landes zu überwinden, indem sie unter anderem im Norden für bessere Bildungsangebote und Gesundheitsdienste sorgen und im Rahmen des Staatshaushalts eine gerechte Verteilung der Einnahmen aus dem Erdölreichtum im Sinne einer ordentlichen regionalen Entwicklung sicherstellen;
10. betont insbesondere, dass ein unabhängiges, unparteiisches und zugängliches Justizsystem wichtig ist, damit die Straffreiheit beendet wird, der Rechtsstaat respektiert wird und die Grundrechte der Bevölkerung gewahrt werden; fordert in diesem Sinne, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Effizienz und Unabhängigkeit des nigerianischen Justizwesens zu verbessern, damit das Strafrecht als wirksames Mittel zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt werden kann;
11. fordert die Regierung Nigerias auf, die Presse- und Medienfreiheit zu achten und Journalisten und Reportern Zugang zum Kampfgebiet zu gewähren, da Presse und Medien eine wichtige Rolle für die Stärkung der Rechenschaftspflicht und bei der Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen spielen können;
12. bekräftigt seine Forderungen nach der Abschaffung des Gesetzes über das Verbot der Heirat von gleichgeschlechtlichen Partnern sowie der Artikel 214, 215 und 217 des nigerianischen Strafgesetzbuchs, das Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle sowohl nigerianischer als auch ausländischer Staatsangehörigkeit einem ernsten Risiko aussetzt, Opfer von Gewalt oder verhaftet zu werden;
13. zeigt sich besorgt angesichts der Zunahme des Menschenhandels sowie des Waffen- und Drogenschmuggels in der Region und den Verbindungen dieser kriminellen Handlungen zum islamistischen Terrorismus; weist ferner auf die Verbindungen zwischen Boko Haram und den militanten Gruppierungen Al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM) sowie Al-Shabaab bei diesen illegalen Aktivitäten hin; fordert die nigerianische Regierung auf, mit den Regierungen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) sowie anderen Regierungen und internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um im Rahmen ihrer Bemühungen, der Verbreitung des internationalen Terrorismus entgegenzuwirken und gegen seine Finanzquellen vorzugehen, diesem Handel ein Ende zu setzen;
14. fordert den EAD, den Rat und die Kommission nachdrücklich auf, mit den Vereinten Nationen und anderen internationalen Partnern zusammenzuarbeiten, wenn es darum geht, Boko Haram die Finanzquellen zu entziehen und die Bewegungsfreiheit der Organisation und vor allem ihrer Anführer zu beschränken;
15. fordert den EAD, die Kommission, die Mitgliedstaaten und internationale Partner auf, weiter mit Nigeria (unter anderem im Fall der Schülerinnen aus Chibok) zu kooperieren, sowohl bilateral als auch in regionalen Strukturen und solchen der Vereinten Nationen, bei Hilfsmaßnahmen, bei der Schulung der Sicherheitskräfte und mittels des Austauschs von nachrichtendienstlichen Informationen;
16. fordert den EAD und die Kommission auf, die Länderstrategie 2014-2020 für Nigeria rasch abzuschließen und Hilfe und Unterstützung zur Beseitigung der Ursachen für die wachsende Ausbreitung von Boko Haram darin aufzunehmen,
17. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der Bundesregierung von Nigeria, den Organen der Afrikanischen Union, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, der Generalversammlung der Vereinten Nationen, den Ko-Präsidenten der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung AKP-EU sowie dem Panafrikanischen Parlament zu übermitteln.