Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. Dezember 2014 zur Verfolgung der demokratischen Opposition in Venezuela (2014/2998(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zur Lage in Venezuela, darunter die Entschließungen vom 24. Mai 2007 zum Fall des Fernsehsenders RCTV in Venezuela(1), vom 23. Oktober 2008 zu dem Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter in Venezuela(2), vom 7. Mai 2009 zum Fall von Manuel Rosales(3), vom 11. Februar 2010 zu Venezuela(4), vom 8. Juli 2010 zur Lage in Venezuela, insbesondere zum Fall von María Lourdes Afiuni(5), vom 24. Mai 2012 zum möglichen Austritt Venezuelas aus der Interamerikanischen Menschenrechtskommission(6) und vom 27. Februar 2014 zur Lage in Venezuela(7),
– unter Hinweis auf die Presseerklärungen des Sprechers der Vizepräsidentin/Hohen Vertreterin der EU, Catherine Ashton, vom 28. März 2014 und 15. April 2014 zur Lage in Venezuela,
– unter Hinweis auf die Stellungnahme der Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zu willkürlichen Inhaftierungen vom 26. August 2014,
– unter Hinweis auf die Erklärung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte vom 20. Oktober 2014 zur Festnahme von Demonstranten und Politikern in Venezuela,
– unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, zu dessen Vertragsparteien Venezuela zählt,
– unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948,
– gestützt auf Artikel 135 Absatz 5 und Artikel 123 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die Wirtschaftskrise, hohe Korruptionsraten, der chronische Mangel an elementaren Gütern, die Gewalt und die politischen Spaltungen im Februar 2014 friedliche Proteste gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro ausgelöst haben, die nach wie vor andauern; in der Erwägung, dass den Demonstranten vonseiten der Polizei, von Mitgliedern der Nationalgarde sowie von gewalttätigen und unkontrollierten bewaffneten Gruppen, die der Regierung nahestehen, mit unverhältnismäßiger Gewalt begegnet wurde; in der Erwägung, dass nach Angaben örtlicher und internationaler Organisationen mehr als 1700 Demonstranten der Prozess gemacht werden soll, über 69 Demonstranten nach wie vor inhaftiert sind und mindestens 40 Menschen bei den Demonstrationen getötet wurden, ohne dass deren Mörder zur Rechenschaft gezogen worden wären; in der Erwägung, dass das Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen bestätigt, dass es Berichte über mehr als 150 Fälle von Misshandlung während der Haft, darunter auch Folter, erhalten hat; in der Erwägung, dass mehreren Quellen zufolge die Verfolgung der demokratischen Opposition durch die Sicherheitskräfte nach wie vor andauert;
B. in der Erwägung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, an friedlichen Demonstrationen teilzunehmen, Eckpfeiler der Demokratie darstellen und in der venezolanischen Verfassung anerkannt werden; in der Erwägung, dass Gleichheit und Gerechtigkeit für alle nicht möglich sind ohne die Achtung der Grundfreiheiten und Grundrechte aller Bürger; in der Erwägung, dass in zahlreichen Berichten bestätigt wird, dass die Medien in zunehmendem Maße der Zensur unterliegen und eingeschüchtert werden; in der Erwägung, dass die Inter American Press Association (IAPA) auf ihrer 70. Generalversammlung in Santiago de Chile erklärt hat, Venezuela übe zunehmend Druck auf unabhängige Medien aus, Venezuela aufgefordert hat, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu achten, und vor einer weiteren Einschränkung der demokratischen Freiheit gewarnt hat;
C. in der Erwägung, dass Oppositionsführer Leopoldo López am 18. Februar 2014 willkürlich festgenommen wurde und der Verschwörung, Anstiftung zu gewalttätigen Demonstrationen, Brandstiftung und Sachbeschädigung beschuldigt wird; in der Erwägung, dass er seit seiner Festnahme physisch und psychologisch gefoltert sowie in Einzelhaft gehalten wird; in der Erwägung, dass die der Opposition angehörenden Bürgermeister Daniel Ceballos und Vicencio Scarano sowie der Polizeioffizier Salvatore Lucchese festgenommen wurden, weil sie die Proteste in ihren Städten und den Bürgeraufstand nicht beendet haben, und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden; in der Erwägung, dass gegen die oppositionellen Abgeordneten Juan Carlos Caldera, Ismael García und Richard Mardo ermittelt wird und dass ihnen der Prozess gemacht werden soll, um ihnen ihr Abgeordnetenmandat zunächst vorläufig und dann endgültig zu entziehen;
D. in der Erwägung, dass Studentenführer wie Sairam Rivas, Vorsitzende des Zentrums für Studierende (Centro de Estudiantes) der sozialwissenschaftlichen Fakultät (Escuela de Trabajo Social) an der Zentralen Universität von Venezuela (Universidad Central de Venezuela), Cristian Gil und Manuel Cotiz im Zusammenhang mit den Protesten, die zwischen Februar und Mai 2014 stattfanden, mehr als 120 Tage unrechtmäßig auf einem Gelände des venezolanischen Geheimdienstes SEBIN festgehalten sowie gefoltert und misshandelt wurden, da sie der Anstiftung zu Straftaten und des Einsatzes von Minderjährigen für die Ausübung von Straftaten beschuldigt wurden;
E. in der Erwägung, dass sich der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, am 20. Oktober 2014 besorgt über die Inhaftierung von Demonstranten geäußert und die Freilassung all derjenigen gefordert hat, die wegen der Ausübung ihres Rechts auf friedlichen Protest festgenommen wurden; in der Erwägung, dass am 8. Oktober 2014 die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zu willkürlichen Inhaftierungen die Inhaftierung von Leopoldo López als unrechtmäßig, willkürlich und politisch motiviert bezeichnet und die Freilassung von López und allen willkürlich Inhaftierten gefordert hat;
F. in der Erwägung, dass die venezolanische Regierung eine besondere Verantwortung trägt, wenn es darum geht, die Rechtsstaatlichkeit und das Völkerrecht zu achten, da Venezuela seit dem 16. Oktober 2014 nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist;
G. in der Erwägung, dass im jüngsten Bericht des Ausschusses der Vereinten Nationen gegen Folter über die Bolivarische Republik Venezuela ausdrücklich Besorgnis angesichts der vorherrschenden Straffreiheit, von Folter und Misshandlung politischer Gefangener, des unverhältnismäßigen Einsatzes von Gewalt, der Duldung von und Mittäterschaft bei Aktionen bewaffneter Gruppen, die der Regierung nahestehen, willkürlicher Inhaftierungen und des Fehlens grundlegender Verfahrensgarantien zum Ausdruck gebracht wird; in der Erwägung, dass in diesem Bericht die unverzügliche Freilassung aller willkürlich inhaftierten Personen gefordert wird, darunter Leopoldo López und Daniel Ceballos, die festgenommen wurden, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest ausgeübt haben, und ferner Besorgnis angesichts der Übergriffe auf Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, außergerichtlicher Hinrichtungen und des vollständigen Fehlens einer unabhängigen Justiz ausgedrückt wird;
H. in der Erwägung, dass der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, die Freilassung der wegen ihrer Teilnahme an den Protesten inhaftierten Personen gefordert hat; in der Erwägung, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission ihre tiefe Besorgnis angesichts der Lage in Venezuela im Hinblick auf die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung zum Ausdruck gebracht hat;
I. in der Erwägung, dass der Beschluss Venezuelas, sich von der Amerikanischen Menschenrechtskonvention loszusagen, am 10. September 2013 in Kraft getreten ist; in der Erwägung, dass die Staatsbürger Venezuelas und die in Venezuela ansässigen Personen aufgrund dieses Vorgehens nicht beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage erheben können;
J. in der Erwägung, dass María Corina Machado, dasjenige Mitglied der Nationalversammlung, das die meisten Wählerstimmen in Venezuela auf sich hatte vereinigen können, im März 2014 unrechtmäßig und willkürlich ihres Amtes enthoben wurde, ihr ihr Mandat entzogen wurde und sie vom Präsidenten der Nationalversammlung, Diosdado Cabello, der ihr Verrat vorwarf, weil sie vor dem Ständigen Rat der Organisation Amerikanischer Staaten auf die massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen in Venezuela hingewiesen hatte, aus dem Parlament ausgeschlossen wurde;
K. in der Erwägung, dass María Corina Machado im Laufe ihrer politischen und parlamentarischen Tätigkeit einer Reihe von Strafverfahren, politischer Verfolgung, Bedrohungen, Einschüchterungen, Schikanen und im Plenarsaal der Nationalversammlung sogar körperlicher Gewalt durch Regierungsanhänger ausgesetzt war; in der Erwägung, dass sie vor kurzem des versuchten Mords an Präsident Maduro angeklagt wurde und ihr bis zu 16 Jahren Haft drohen könnten;
L. in der Erwägung, dass die Justiz in ihrer Funktion als von der Regierung unabhängige Gewalt versagt hat; in der Erwägung, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass in diesem Rechtssystem unparteiische Ermittlungen durchgeführt oder bei Vorwürfen gegen die Opposition gerechte Urteile gefällt werden;
M. in der Überzeugung, dass allein die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie ein in einem Klima der Toleranz geführter konstruktiver und respektvoller Dialog dem Land dabei behilflich sein können, diese schwere Krise zu überwinden und künftige Schwierigkeiten zu meistern;
N. in der Erwägung, dass im April 2014 unter dem Namen „Mesa de Diálogo“ Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition über die Proteste aufgenommen wurden, diese jedoch einen Monat später bedauerlicherweise unterbrochen wurden, ohne dass ein Ergebnis erzielt worden wäre;
O. in der Erwägung, dass Venezuela das Land mit den größten Energiereserven in Lateinamerika ist; in der Erwägung, dass es den Menschen in Venezuela derzeit an grundlegenden Bedarfsgütern fehlt, dass sich die Nahrungsmittelpreise verdoppelt haben und dass begonnen wurde, Nahrungsmittel zu rationieren; in der Erwägung, dass die Ölpreise weiter stark sinken, wodurch der Konjunkturrückgang verschärft und die instabile, vom Öl abhängige Wirtschaft Venezuelas gefährdet wird;
P. in der Erwägung, dass es dem Staat nicht gelungen ist, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, so dass Venezuela zu einem der gewaltreichsten Länder der Welt geworden ist; in der Erwägung, dass die anhaltende politische und wirtschaftliche Krise in Venezuela laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung zu einem sprunghaften Anstieg der Mordrate und der Bedrohung der Sicherheit der Bürger beiträgt;
1. ist zutiefst besorgt über die sich verschlimmernde Lage in Venezuela und verurteilt die Inhaftierung von friedlichen Demonstranten, Studenten und Oppositionsführern; fordert nachdrücklich die unverzügliche Freilassung dieser willkürlich festgenommenen Personen, wie dies auch von mehreren Einrichtungen der Vereinten Nationen und internationalen Organisationen gefordert wird;
2. verurteilt in aller Schärfe die politische Verfolgung und Unterdrückung der demokratischen Opposition, die Verstöße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Demonstrationsrecht sowie die Zensur von Medien und Internet;
3. verurteilt in aller Schärfe die Gewaltanwendung gegen Demonstranten; spricht den Familien der Opfer sein tief empfundenes Mitgefühl aus; fordert die venezolanischen Staatsorgane auf, diese Verbrechen zu untersuchen und die Verantwortlichen ohne Rahmen für Straffreiheit uneingeschränkt zur Verantwortung zu ziehen;
4. fordert alle Beteiligten auf, einen friedlichen Dialog zu führen und alle Gesellschaftsgruppen Venezuelas einzubeziehen, um Punkte zu ermitteln, bei denen eine Annäherung möglich ist, und es allen politischen Akteuren zu ermöglichen, die drängendsten Probleme des Landes zu erörtern; fordert alle Beteiligten auf, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern, und weist die Regierung Venezuelas darauf hin, dass ein konstruktiver Dialog nicht möglich ist, solange Oppositionsführer nach wie vor willkürlich gefangen gehalten werden;
5. fordert die venezolanischen Staatsorgane auf, die unkontrollierten bewaffneten Gruppen, die auf der Seite der Regierung stehen, unverzüglich zu entwaffnen und aufzulösen und ihrer Straflosigkeit ein Ende zu setzen;
6. erinnert die Regierung Venezuelas an ihre Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass bei allen Gerichtsverfahren die internationalen Normen erfüllt werden; weist darauf hin, dass die Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung in einer Demokratie von grundlegender Bedeutung ist und dass die Staatsorgane die Justiz nicht dafür einsetzen dürfen, die demokratische Opposition zu verfolgen und zu unterdrücken; fordert die venezolanischen Staatsorgane auf, die haltlosen Anschuldigungen und die Haftbefehle gegen Politiker der Opposition zurückzuziehen und die Sicherheit aller Bürger in Venezuela, ungeachtet ihrer politischen Ansichten oder ihrer politischen Zugehörigkeit, zu gewährleisten;
7. fordert die Regierung Venezuelas auf, in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Vereinigungsfreiheit, das Recht, sich friedlich zu versammeln, und einen politischen Pluralismus die Verfassung des Landes sowie seine internationalen Verpflichtungen zu achten, weil es sich dabei um die Eckpfeiler der Demokratie handelt, und zu gewährleisten, dass die Menschen nicht bestraft werden, wenn sie ihr Recht, sich friedlich zu versammeln, und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen;
8. fordert die Regierung Venezuelas auf, die Menschenrechte zu achten, mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen effektiv zu untersuchen und ein Umfeld zu ermöglichen, in dem Menschenrechtsverteidiger und unabhängige, nichtstaatliche Organisationen ihrer rechtmäßigen Arbeit nachgehen können, nämlich die Menschenrechte und die Demokratie zu fördern;
9. ersucht den EAD und die Delegation der EU sowie die Delegationen der Mitgliedstaaten, die Ermittlungen und die Gerichtsverhandlungen von Oppositionsführern weiterhin zu beobachten;
10. fordert die Regierung Venezuelas auf, einen intensiven und offenen Dialog über die Menschenrechte mit der Europäischen Union aufzunehmen;
11. fordert die EU, ihre Mitgliedstaaten und die Vizepräsidentin/Hohe Vertreterin Federica Mogherini auf, die unverzügliche Freilassung der Demonstranten zu fordern, die seit Beginn der Proteste willkürlich festgenommen wurden;
12. wiederholt seine Forderung, so rasch wie möglich eine Ad-hoc-Delegation des Europäischen Parlaments zu entsenden, die die Lage in Venezuela beurteilt und mit allen in den Konflikt involvierten Sektoren einen Dialog führt;
13. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der Regierung und der Nationalversammlung der Bolivarischen Republik Venezuela, der Parlamentarischen Versammlung Europa-Lateinamerika und dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten zu übermitteln.